Deutsch-sowjetischer Grenz- und Freundschaftsvertrag, 28. September 1939

Einführung

Am 28. September 1939, d.h. etwa ein Monat nach dem Abschluß des GlossarNichtsangriffsvertrages (Molotov-Ribbentrop-Pakt), trafen sich in Moskau der Vorsitzende der sowjetischen Regierung und GlossarVolkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR GlossarV.M. Molotov und der persönliche Vertreter GlossarA. Hitlers, der Außenminister des Dritten Reiches GlossarJ. von Ribbentrop und unterzeichneten den Grenz- und Freundschaftsvertrag zwischen der UdSSR und Deutschland. Dieses diplomatische Abkommen kennzeichnete den Abschluß eines wichtigen Abschnitts der sowjetisch-deutschen Annäherung, die sowohl von GlossarStalin als auch von Hitler gutgeheißen wurde.

In der sowjetischen Geschichtswissenschaft wurde die Tatsache einer solcher Annäherung jahrzehntelang bestritten, erst recht die Existenz von geheimen deutsch-sowjetischen Vereinbarungen, wie sie im August und September 1939 getroffen worden waren. Anfang der 1990er Jahre wurde jedoch die sowjetische Ausfertigung des sogenannten GlossarGeheimen Zusatzprotokolls zum Nichtangriffsvertrag entdeckt und veröffentlicht.1 Bald darauf wurden aus russischen Archiven auch Dokumente, die sich auf die Unterzeichnung des Grenz- und Freundschaftsvertrages vom 28. September 1939 bezogen, der Wissenschaft zugänglich gemacht.

Dieser Vertrag hatte seine eigene Vorgeschichte. Im Geheimen Zusatzprotokoll zum Molotov-Ribbentrop-Pakt wurden die Bereiche der Staatsinteressen Deutschlands und der UdSSR für den "Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum polnischen Staate gehörenden Gebiete" markiert. Außerdem hielt das Dokument fest, daß

"[die] Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen lassen und wie dieser Staat abzugrenzen wäre, [...] erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden" könne.2

Am 1. September 1939, eine Woche nach der Unterzeichnung des Molotov-Ribbentrop-Paktes, überfiel Deutschland Polen, in Europa begannen kriegerische Auseinandersetzungen, die bald in den Zweiten Weltkrieg übergehen sollten. Am 17. September 1939 überschritt die GlossarRote Armee die Ostgrenze Polens und marschierte unter der propagandistischen Vorgabe der "Befreiung der blutsverwandten Brüder" in die (bisher zu Polen gehörenden) Gebiete der Westukraine und Westweißrußlands ein. Am 22. September wurde ein gemeinsames deutsch- sowjetisches Kommunique veröffentlicht, aus dem hervorging, daß die Regierungen der UdSSR und Deutschlands eine "Demarkationslinie" zwischen den Armeen der beiden Länder festgelegt hatten, die an den Flüssen Pissa – Narew – Bug – Weichsel – San verlief3

Nachdem die polnische Armee in den Kämpfen mit deutschen Truppen bereits schwere Verluste erlitten hatte und der endgültige Sieg der Wehrmacht sich anzuzeichnen begann, erklärte Molotov am [19.] 20. September dem deutschen Botschafter GlossarV. von Schulenburg, der Zeitpunkt für eine "endgültige Bestimmung der Strukturen der polnischen Territorien" sei gekommen. Moskau schlug Berlin vor, "die Verhandlungen in dieser Frage unverzüglich zu beginnen"4. Am 23. September setzte J. Ribbentrop die sowjetische Seite von seiner Bereitschaft in Kenntnis, hierzu persönlich nach Moskau zu kommen.5 Am 25. September betonte Stalin in einer Unterredung mit V. von Schulenburg, daß er die Absicht habe, im Falle einer endgültigen Regelung der polnischen Frage alles zu vermeiden, was in der Zukunft zu Reibereien zwischen der Sowjetunion und Deutschland führen könne. Deshalb hielt er nicht für wünschenswert, ein unabhängiges "Restpolen" fortbesehen zu lassen. Der sowjetische Führer schlug vor, aus der Zahl der Territorien, die östlich von der Demarkationslinie lagen, die am 22. September vereinbart worden war, Litauen dem Interessenbereich der UdSSR anzugliedern. Als Gegenleistung äußerte Stalin die Bereitschaft, auf einen Teil der Wojewodschaften Warschau und Lublin bis zum Fluß Bug zu verzichten. Vor allem diesen Vorschlag wollte man in den bevorstehenden deutsch-sowjetischen Verhandlungen beraten sehen. In Falle, daß die deutsche Seite mit einem solchen territorialen "Austausch" einverstanden wäre, war die Sowjetunion bereit, die Lösung des Problems der baltischen Staaten "in Übereinstimmung mit dem Protokoll vom 23. August" in Angriff zu nehmen. Auch in dieser Sache erwartete Stalin volle Unterstützung von seiten Berlins.6

Um diese und andere Fragen, die mit der Festschreibung der "Bereiche der Staatsinteressen" der UdSSR und Deutschlands in Osteuropa zusammenhingen, zu regeln, kam J. von Ribbentrop am 27. September 1939 gegen 18.00 zum zweiten Mal nach Moskau. Die Verhandlungen begangen um 22.00 dieses Tages und setzten sich mit kurzen Unbrechungen bis 5.00 des 29. Septembers fort.

Ribbentropp stellte dabei Stalin die Hauptpunkte vor, über die die deutsche Seite mit der sowjetischen Führung verhandeln wollte:

  • 1. Perspektiven der Beziehungen zwischen Deutschland und der UdSSR;
  • 2. die endgültige Festlegung der Grenze;
  • 3. das Problem des Baltikums, mit dem sich Moskau bereits beschäftigte.

Im Laufe der Verhandlungen wurde die Vereinbarung getroffen, daß die sowjetische Seite auf das Territorium zwischen den Flüssen Narew und Bug östlich der Linie Ostrów-Ostrołęka verzichtet, während die Deutschen die Grenze in der Region der Rava-Russkaja und Lubaczów nach Norden verlegen wollten. Im Endergebnis ist es gelungen, eine Übereinkunft über die "Grenze der beiderseitigen Reichsinteressen auf dem Gebiete des bisherigen polnischen Staates" zu erreichen, was auch im deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag bzw. seinen geheimen Zusatzprotokollen festgehalten wurde.

Stalin setzte durch, daß Litauen in den Interessenbereich der UdSSR fiel, worauf Hitler gezwungen war einzugehen, obwohl sich die deutsche Seite bereits auf die Unterstellung des litauischen Territoriums unter ein deutsches Mandat eingestellt hatte. Die Deutschen behielten aber den sogenannten Mariampoler Zipfel, den die UdSSR erst später nach dem deutsch-sowjetischen Protokoll vom 10. Januar 1941 für 31,5 Millionen Reichsmark erwarb.

Im Laufe der Verhandlungen versuchte J. von Ribbentrop, von I.V. Stalin Details der weiteren sowjetischen Planungen im Baltikum in Erfahrung zu bringen. Stalin legte dar, Moskau habe die Absicht, Verträge über die gegenseitige Hilfe mit den Ländern des Baltikums abzuschließen, die die Stationierung der Einheiten der Roten Armee auf ihrem Gebiet bei gleichzeitigem Erhalt der staatlichen Unabhängigkeit Litauens, Lettlands und Estlands vorsahen. Der sowjetische Führer gab jedoch auch zu versehen, daß die Eingliederung dieser drei Republiken in den Staatsverband der UdSSR in der Zukunft nicht ausgeschlossen werde.7

Bereits die Tatsache, daß die Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutschland am 28. September 1939 einen Grenz- und Freundschaftsvertrag unterzeichneten, sorgte (und sorgt weiterhin) für kritische Stellungnahmen in der Geschichtswissenschaft. Die westliche Forschung ist sich weitgehend einig, daß dieser Vertrag eine diplomatische Vereinbarung war, die das tragische Schicksal Polens besiegelte und mit der es seine Staatlichkeit verlor. Eine Reihe von Autoren ist zugleich davon überzeugt, daß die baltischen Staaten allein aufgrund der deutsch-sowjetischen Vereinbarung vom 28. September 1939 in den Bereich der Staatsinteressen der UdSSR fielen, letztendlich ihre Unabhängigkeit verloren und dem Verband der Sowjetrepubliken gezwungenermaßen beitraten.

Anfang der 1990er Jahre setzte eine breite Diskussion über die Bedeutung des Grenz- und Freundschaftsvertrages unter den russischen Historikern ein, die teilweise Zugang zu den einschlägigen Archivdokumenten erhalten hatten. Genau wie ihre ausländischen Kollegen bewertete die Mehrheit von ihnen diese diplomatische Vereinbarung ausgesprochen kritisch. Zum einen wurde die Meinung geäußert, die UdSSR habe, indem sie den Vertrag vom 28. September mit einem kriegführenden Land abschloß und den Weg zur Zusammenarbeit mit dem Aggressor einschlug, gegen ihre (am 17. September erklärte) GlossarNeutralität verstoßen. Zum anderen wurde die Stalinsche Führung der Verletzung des internationalen Rechts bezichtigt, greifbar in der Festlegung der Grenze zwischen der Sowjetunion und Deutschland auf dem Territorium Polens, in der Planung von gemeinsamen antipolnischen Aktionen und in den Vereinbarungen über die Deportationen der Polen.

Inzwischen dominiert in der russischen Historiographie die Position, daß der Vertragsabschluß vom 28. September 1939 ein politischer Fehler war, und die UdSSR damit faktisch ein militärisches und politisches Bündnis mit dem national-sozialistischen Deutschland einging.8 Zugleich wird der Versuch unternommen, die etablierte Bewertung dieses Vertrages als einer Abmachung zwischen den zwei Diktatoren Stalin und Hitler in Frage zu stellen. So wird betont, daß der Vertrag vom 28. September 1939 seinem Inhalt nach, läßt man die "Hinweise auf die Freundschaft und die Aufnahme der freundschaftlichen Beziehungen" außer Acht, einen formellen Charakter trug, während die wichtigsten Vereinbarungen in den Geheimen Zusatzprotokollen getroffen wurden.9 Nach Ansicht von V. Ja. Sipols war der Vertrag vom 28. September 1939

"unter dem Gesichtspunkt der lebenswichtigen Interessen der UdSSR, unter dem Gesichtspunkt einer maximal möglichen Gewährleistung der Sicherheit des Landes" absolut notwendig.10 Solche Überlegungen halten einer Kritik nicht stand. Der deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag unterschied sich sowohl von seinem Inhalt als auch von seinem Sinn her vom Nichtangriffspakt. Die vorsichtige Haltung der ersten Wochen der deutsch-sowjetischen Annäherung nach dem 23. August 1939 wurde von einer Euphorie abgelöst, und die gewöhnlichen Worte über die Neutralität und Friedfertigkeit ging in Freundschaft und Zusammenarbeit mit dem Naziregime über. In der kommunistischen, der Arbeiterbewegung und unter den antifaschistische Kräften löste er Verwirrung und Bestürzung aus.

Es ist offensichtlich, daß das stalinistische Regime nach dem Grenz- und Freundschaftsvertrag zwischen Deutschland und der UdSSR nicht nur gegen die eigene Ideologie verstieß (es handelte sich um eine Art ideologische Mißbildung), sondern auch die öffentliche Meinung auf der ganzen Welt provozierte, indem es seine Sympathien für die Nationalsozialisten bekundete. Es ist zu bezweifeln, daß es eine politische und diplomatische Notwendigkeit für eine solche Vorgehensweise Stalins im internationalen Rahmen gab.11

Der Text des deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages ist in der UdSSR am nächsten Tag nach seiner Unterzeichung bekannt geworden.12 Die begleitenden Vereinbarungen – das Vertrauliche Protokoll und die beiden Geheime Zusatzprotokolle – sind erstmals im Westen erschienen.13

Der Verbleib der sowjetischen Aufzeichnungen der Gespräche vom 27.-29. September ist unbekannt. Den deutschsprachigen Rechenschaftsbericht über ihren Verlauf fand die Historikerin I. Fleischhauer im Privatarchiv des ehemaligen deutschen Botschafters in Moskau V. von Schulenburg. Sie machte ihn der Wissenschaft zugänglich.14

Anfang der 1990er Jahre wurden die sowjetischen Varianten der Dokumente veröffentlicht – die Kopie des Grenz- und Freundschaftsvertrages und die drei Protokolle zum Vertrag.15

Vladimir Nevežin

1 Fel'štinskij, Ju. (Hg.), Oglašeniju podležit: SSSR – Germanija. 1939 – 1941. Dokumenty i materialy, Moskau 1991, Dok. Nr. 33, S. 71; Dokumenty vnešnej politiki, Bd. XXII: 1939, 2 Bde, Moskau 1992, Bd. 1: janvar'- avgust, Dok. Nr. 485, S. 632. [1]

2 Fleischhauer, I., Der Pakt. Hitler, Stalin und die Initiative der deutschen Diplomatie 1938-1939, Frankfurt 1990, S. 545-546. [2]

3 Izvestija, 1939, 22. September. [3]

4 Fel'štinskij, Oglašeniju podležit, Dok. Nr. 55, S. 112. [4]

5 Fel'štinskij, Oglašeniju podležit, Dok. Nr. 56, S. 113. [5]

6 Fel'štinskij, Oglašeniju podležit, Dok. Nr. 57, S. 114. [6]

7 Dokumenty vnešnej politiki, Bd. XXII, Bd. 2, S. 606-617. [7]

8 Mel'tjuchov, M., Upuščennyj šans Stalina. Sovetskij sojuz i bor'ba za Evropu. 1939 – 1941 (Dokumenty, fakty, suždenija), Moskau 2000, S. 128-129. [8]

9 Dokumenty vnešnej politiki, Bd. XXII, Bd. 2, S. 606. [9]

10 Sipols, V. Ja., Tajny diplomatičeskie. Kanun Verlikoj Otečestvennoj vojny. 1939 – 1941, Мoskau 1997, S. 139. [10]

11 Čubar'jan, A., "Sovetskaja vnešnjaja politika (1 sentjabrja – konec oktjabrja 11939 goda)", in: Čubar'jan, A. (Hg.), Vojna i politika. 1939 – 1941, Moskau 1999, S. S. 14. [11]

12 Pravda, 1939, 29. September; Izvestija, 1939, 29. September. [12]

13 Das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion. 1939 - 1941. Akten aus dem Archiv des Auswärtigen Amts, Hg. von E. M. Carroll, Berlin 1948; Nazi-Soviet Relations, 1939 - 1941: documents from the Archives of the German Foreign Office, Hg. von R.J. Sontag, Washington 1948. [13]

14 Fleischhauer, I., "Der deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939. Die deutschen Aufzeichnungen über die Verhandlungen zwischen Stalin, Molotov und Ribbentrop in Moskau", in: Viertelsjahrshefte für Zeitgeschichte, 1991, H. 3, S. 447-470; Dokumenty vnešnej politiki, Bd. XXII, Bd. 2, S. 606-617. [14]

15 Dokumenty vnešnej politiki, Bd. XXII, 2, Dok. Nr. 640, S. 134-135, Dok. Nr. 641, S. 135, Dok. Nr. 642, S. 135-136, Dok. Nr. 643, S. 136. [15]