Deklaration der Rechte der Völker Rußlands, 2. (15.) November 1917

Einführung

Seit dem XIX. Jahrhundert sorgte die Nationalitätenfrage für heftige Diskussionen und Auseinandersetzungen in der russischen Gesellschaft. Obwohl die Mehrheit der GlossarSozialdemokratie das Russische Reich für ein "Gefängnis der Völker" hielt, waren ihre Meinungen, was das Schicksal von Nationalitäten im GlossarSozialismus anging, geteilt. Während die einen die Zerstörung der zwischennationalen Grenzen als eine wichtige Voraussetzung für wirtschaftliche Integrationsprozesse und somit für den Aufbau des Sozialismus betrachteten und den nationalen Befreiungskampf für "reaktionär" erklärten, sprachen sich die anderen gerade umgekehrt für die GlossarSelbstbestimmung der Völker im sozialistischen Staat und die Unterstützung der nationalen Emanzipationsbewegungen aus, die aus ihrer Sicht ein unverkennbares Befreiungspotential besaßen. GlossarLenins eigene Haltung in dieser Frage gewann ihr Profil zwischen 1913-1916, im Zuge der Auseinandersetzungen, die er gleichzeitig an zwei Fronten führte – einerseits gegen GlossarR. Luxemburg und GlossarG. Pjatakov, andererseits gegen die Vertreter der nach dem ethnischen Prinzip organisierten Gruppen in der Sozialdemokratie. So war er bereit, das Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten, einschließlich ihres Austrittsrechts aus dem russischen Staatsverband, zu unterstützen, betonte jedoch, daß er den Austritt unter gegenwärtigen Umständen nicht für nützlich hielt. Diese Haltung machte eine flexible Politik der GlossarBolschewiki in der Nationalitätenfrage möglich. So konnten sie sich auf der einen Seite die Unterstützung der nationalen Bewegungen sichern, auf der anderen Seite, waren sie aber bestrebt, formell unabhängige Völker möglichst eng untereinander zusammenzuschließen.

Zum Zeitpunkt der bolschewistischen Machtübernahme bestanden bereits auf dem Territorium des ehemaligen Reiches gewaltige nationale Befreiungsbewegungen, die in Finnland, im GlossarTranskaukasus und in der Ukraine besonders stark waren. Polen sowie ein bedeutender Teil des heutigen Weißrußlands und des Baltikums standen unter deutscher Besatzung. Vorläufig waren die Bolschewiki weit davon entfernt, ganz Rußland unter ihrer Kontrolle zu haben. Hinzu kam, daß ihre Macht im Zentrum noch labil war und nur als provisorisch galt. Lenin und seine engste Umgebung führten einen erbitterten Kampf gegen das "Versöhnlertum" im eigenen GlossarCK und gegen die Pläne einer sozialistischen Koalitionsregierung, die an die Stellte des bolschewistischen GlossarRates der Volkskommissare (SNK) treten sollte. So lag es in ihrem unmittelbaren Interesse, die nationalen Befreiungsbewegungen unverzüglich als Verbündete zu gewinnen. Diese Aufgabe hatte die "Deklaration der Rechte der Völker Rußlands" zu lösen.

Der Entwurf der "Deklaration" wurde vom ersten GlossarVolkskommissar für nationale Angelegenheiten, GlossarIosif Stalin, unter persönlicher Beteiligung Lenins vorbereitet. Der Nationalitätenpolitik der GlossarProvisorischen Regierung stellte sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Ethnien entgegen. Zugleich hob die bolschewistische Regierung alle nationalen und religiösen Vorrechte auf, soweit diese den Untergang des Russischen Reiches überlebt hatten. Zur zukünftigen Form des nationalen Staatsaufbaus erklärte die "Deklaration" die freiwillige Union der Völker Rußlands.

Wie alle frühen Dekrete der Sowjetmacht, zielte die "Deklaration" in erster Linie auf agitatorische Wirkung. Indem Lenin und Stalin sich nach außen hin für die Aufrechterhaltung der Souveränität der Völker und für die Wahrung ihres nationalen Kulturerbes einsetzten, hofften sie, die Kontrolle des russischen Zentrums nicht nur über das Territorium des einstigen Rußländischen Reiches, sondern auch über die antimperialistischen und nationalen Befreiungsbewegungen anderer Länder aufrechterhalten zu können. Zugleich schuf die "Deklaration" eine neue Ausgangsbasis für den politischen Machtkampf, da sie dem Widerstand eines Teils der antibolschewistischen Kräfte den Wind aus den Segeln nahm, die für die nationale Autonomie und Unabhängigkeit ihrer Territorien kämpften.

Die "Deklaration" sah die Verabschiedung einer Reihe von Dekreten vor, die ihre Grundsätze umsetzen sollten. In der Tat wurden ihre Bestimmungen der Nationalitäten- und Außenpolitik Sowjetrußlands sowie seinem Verfassungsaufbau zugrunde gelegt. Unter Bezugnahme darauf hatte der Rat der Volkskommissare am 16. (29.) Dezember 1917 das Recht des ukrainischen Volkes auf die Gründung einer eigenen Ukrainischen Republik anerkannt. Bereits am 20. November (3. Dezember) war in Kiev eine Ukrainische Republik als Bestandteil Rußlands ausgerufen worden. Nur wußte die ukrainische GlossarZentralrada dieses "Geschenk" der Bolschewiki anscheinend nicht richtig zu "schätzen". Daraufhin entfesselten die ukrainischen Boschewiki einen Kampf für den Sturz der Zentralrada und die Schaffung einer Sowjetrepublik in der Ukraine. Am 25. Dezember 1917 (7. Januar 1918) wurde in Char'kov die Ukrainische Sowjetrepublik ausgerufen; die sowjetischen Truppen, unter denen sich auch russische Einheiten befanden, begannen ihren Vormarsch auf Kiev.

Vergleichbar war die Situation in Finnland. Am 31. Dezember (13. Januar) wurde seine Unabhängigkeit vom Rat der Volkskommissare in Rußland anerkannt. Danach brach jedoch in dem nun unabhängigen Land ein Bürgerkrieg zwischen den Anhängern der Sowjetisierung und ihren Gegnern aus.

Die "Deklaration" und die daraufhin erfolgte Anerkennung der Souveränität der Ukraine, Finnlands, Polens und Estlands schufen eine neue außenpolitische Situation. Die deutschen Diplomaten, die im Dezember 1917 die Friedensverhandlungen mit Sowjetrußland aufnahmen, konnten jetzt von ihrem Verhandlungspartner Nichteinmischung in die Angelegenheiten der unabhängigen Nachtbarstaaten verlangen. Vertreter der deutschen und der österreichischen Diplomatie traten außerdem in Verhandlungen mit der Zentralrada ein, die sie als Repräsentantin des unabhängigen ukrainischen Staates anerkannten. Während die roten Truppen sich auf ihrem Vormarsch auf Kiev befanden, traf am 31. Dezember 1917 (13. Januar 1918) eine Delegation der ukrainischen Zentralrada in Brest ein. Auf Druck der deutschen Seite war GlossarTrockij gezwungen, die Zentralrada als gleichberechtigten Verhandlungspartner anzuerkennen, was für Sowjetrußland eine schwerwiegende diplomatische Niederlage bedeutete. Sie wirkte sich auf das Schicksal der Ukraine aus, einschließlich jener Gebiete, die niemals von der Zentralrada regiert worden waren. Am 24. Januar (6. Februar) 1918 erklärte die Zentralrada, die in Kiev bereits auf gepackten Koffern saß, die Unabhängigkeit der Ukraine. Am 9. (22.) Februar schlossen ukrainische Vertreter mit den Deutschen einen Friedensvertrag ab, in dem sich die Ukraine zu Lebensmittellieferungen an Deutschland und Österreich-Ungarn verpflichtete und versprach, ihr Territorium für die Truppen der beiden Länder zu Verfügung zu stellen.

Nach den Bedingungen des GlossarBrester Friedensvertrages, der am 3. (16.) März 1918 unterzeichnet wurde, verzichtete Sowjetrußland auf jegliche Einmischung in die Angelegenheiten der baltischen Staaten, der Ukraine und des Transkaukasus, die zum damaligen Zeitpunkt unter der Besatzung Deutschlands, Österreichs-Ungarns oder der Türkei standen. Nach der Niederlage der GlossarMittelmächte und der Annullierung des Brester Friedensvertrages wurden diese Gebiete jedoch zur Arena militärischer Auseinandersetzungen zwischen lokalen Nationalitätenbewegungen, sowjetischen und sowjettreuen Kräften, Interventionsarmeen der Entente und weißen Truppen. Letzten Endes gelang es Sowjetrußland, das als Sieger aus dem GlossarBürgerkrieg hervorging, seine Kontrolle über alle Länder zu errichten, die einst zum Russischen Reich gehört hatten. Innerhalb weniger Jahre gelang es, dort bolschewistische Parteien an die Macht zu bringen, die im engen Verbund mit der GlossarVKP(b) standen. Nur Finnland, die drei baltischen Länder und Moldawien konnten ihre Souveränität behaupten. Diese Länder wurden, mit Ausnahme Finnlands, drei Jahrzehnte später dem Bestand der neuen Föderation – der UdSSR – einverleibt.

Natalija Gerulajtis

(Übersetzung aus dem Russ. von L. Antipow)