Amal’rik, Andrej, Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben? Ein Essay, Zürich 1970

Einleitung

"'Der König ist ja nackt!' mußte erst einmal ein kleiner Junge rufen, damit alle sahen, daß der König tatsächlich nackt war. Ich war ein solcher Junge." Mit diesen Worten erläuterte Amal'rik kurz vor seinem Tod die Wirkung des Essays (Amal'rik (1981), S. 10.) Das Buch sorgte im Westen für großes Aufsehen und bescherte dem bis dahin weitgehend unbekannten Autor eine weltweite Aufmerksamkeit. Die Sowjetunion wurde nicht mehr als stabiler und für die Ewigkeit geschaffener Koloß beschrieben, sondern ihr baldiger Untergang vorausgesagt. Eine Prognose, die sich, wenn auch um einige Jahre verfehlt, bewahrheiten sollte.

Der Autor, Andrej Alekseevič Amal'rik, wurde am 12. Mai 1938 in Moskau als Sohn eines Historikers und Archäologen geboren. Amal'riks kritische Einstellung zum sowjetischen System wurde von den Opfern, die die Familie unter Stalin zu beklagen hatte, mitgeprägte. Sein 1962 aufgenommenes Studium der Geschichte an der Moskauer Staatsuniversität durfte Amalrik nicht abschließen. 1965 wurde er aufgrund seiner Arbeit "Die Normannen und die Kiever Rus'", die dem offiziellen Geschichtsbild widersprach, und der Verweigerung eines Widerrufs von der Universität relegiert. Der Versuch, seine Schrift über die Dänische Botschaft ins Ausland zu schmuggeln, scheiterte. Amal'rik wurde vom KGB verhaftet, aber kurz darauf mit einer Verwarnung wieder freigelassen.

Nach seiner Relegation schlug sich Amal'rik mit Gelegenheitsarbeiten durch. Er schrieb in dieser Zeit Theaterstücke (z. B. "Vostok-Zapad" (1963), "Moja tetja živet v Volokolamske" (1963-66), "Konformist li djadja Džek?" (1964)), die er nur im Freundeskreis "veröffentlichen" konnte. Am 14. Mai 1965 wurde er erneut verhaftet. Nachdem die aufgrund seiner Theaterstücke erlassene erste Anklage wegen Herstellung, Aufbewahrung und Verbreitung pornographischer Erzeugnisse fallengelassen worden war, wurde er am 28. Mai 1965 wegen "Schmarotzertums" aufgrund der "Parasitengesetze" von 1961 zu zwei Jahren und sechs Monaten Verbannung in Sibirien verurteilt. Im August 1966 kehrte er, vorzeitig entlassen, nach Moskau zurück. Hier knüpfte er über den Oppositionellen Aleksandr Ginzburg, mit dem er seit längerer Zeit befreundet war, engere Kontakte zur sich bildenden Dissidentenszene, deren Teil er nun wurde.

Amal'rik nahm in den Dissidentenkreisen die Rolle des Verbindungsmannes zur ausländischen Presse ein. Seit seiner Studentenzeit war Amal'rik bestrebt gewesen, mit Ausländern in Kontakt zu treten und hatte sich so ein Netz guter Kontakte zu westlichen Journalisten aufgebaut. Dabei konnte ihm auch seine Frau Gjuzel', die mit ihm in die Verbannung gegangen war und ihn dort geheiratet hatte, behilflich sein. Als Malerin stand Gjuzel' im engen Kontakt zu an der künstlerischen Untergrundszene interessierten Ausländern und hatte u.a. die Frau des amerikanischen Botschafters porträtiert.

Besonders über seine Freundschaft mit Karel van het Reve, einem Slavistikprofessor von der Universität Leiden und Moskau-Korrespondent der niederländischen Zeitung Het Parool, gelang es Amal'rik immer wieder, wichtige Dissidentenliteratur ins westliche Ausland zu bringen. Auf diesem Wege gelangte der von Pavel Litvinov und Amal'rik verfaßte Sammelband über den sogenannten "Prozeß der Vier" (gegen Ginzburg und andere wegen des Weißbuches über den Danijel-Sinjavskij-Prozeß 1966) und Sacharovs Schrift "Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und intellektuelle Freiheit" im Juni 1968 in den Westen. Die von van het Reve miterrichtete Alexander-Herzen-Stiftung in Amsterdam, die sich für die Sammlung und Veröffentlichung sowjetischer Dissidentenliteratur einsetzte, half bei der Verbreitung der Literatur mit. Über sie kam auch Amal'riks Essay "Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?" im Westen in Umlauf.

Die Vorarbeiten zu Amal'riks Essay entstanden 1966. Die ersten ausgearbeiteten Gedanken über die Krise der Sowjetunion legte er 1967 in einem Brief an die sowjetischen Zeitungen Literaturnaja Gazeta und Izvestija dar, die eine Veröffentlichung aber ablehnten. Nach einem Gespräch über sein schriftstellerisches Vorhaben mit Anatoli Shub, dem Moskau-Korrespondenten der Washington Post, erschien am 31. März 1969 in der International Herald Tribune eine Artikel Shubs mit dem Titel "Kann die Sowjetunion das Jahr 1980 überleben", in dem Shub auf Amal'riks Buchprojekt bezug nahm, ohne dessen Namen zu erwähnen. Amal'rik mußte nun, wie er in seinen Erinnerungen schrieb, das Projekt abschließen. Auf Anraten Vitalij Rubins änderte Amal'rik die Jahreszahl im Titel in 1984 um, wobei Orwells Roman "1984" Pate stand.

Nach der Fertigstellung Ende Juni 1969 übergab Amal'rik das Essay dem New York Times-Korrespondenten Henry Kamm, der es nach Amsterdam zu van het Reves Alexander-Herzen-Stiftung brachte. Hier erschien das Buch 1969 erstmals in russischer und niederländischer Sprache. In der Sowjetunion kursiertes es nur als Samizdat, bis 1990 die Zeitschrift Ogonek das Essay erstmals, in gekürzter Form, abdruckte (Ogonek Nr. 9, 1990, S. 18-22). In Deutschland veröffentlichte als erste die Zeitschrift Der Monat im November/Dezember 1969 (Der Monat 254 (1969), S. 18-26; 255 (1969), S. 13-26) den Text in gekürzter Form. Breite Aufmerksamkeit in Deutschland erhielt das Werk dann durch das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, der es unter dem Titel "Krieg zwischen Russland und China" 1970 publizierte (Nr. 12, 16. März 1970, S. 150-169). Der Diogenes Verlag in Zürich brachte dann 1970 den vollständigen Text als Buch in deutscher Sprache heraus.

Darüber hinaus stellte die Alexander-Herzen-Stiftung das Manuskript der Londoner Osteuropa-Zeitschrift Survey zu Verfügung, die es in ihrer Herbstausgabe 1969 (Survey Nr. 73, S, 47-79) veröffentlichte. Die Resonanz im englischsprachigen Raum war enorm. Die Londoner Zeitung The Times widmete dem Essay einen Leitartikel "The Fish That Began To Talk" (The Times v. 15. Dezember 1969, Nr. 57743, S. 9) und verschiedene andere Zeitschriften folgten. In Buchform erschien Amal'riks Schrift 1970 in englischer Sprache bei Harper & Row in New York.

Die Veröffentlichung im Westen wurde von einer Debatte über Amal'riks Beziehungen zum KGB begleitet. Mit ausgelöst wurde die Debatte durch den ironischen Kommentar Amal'riks im Vorwort seines Essays, in dem er sich beim KGB für die Nicht-Beschlagnahme des Manuskripts bedankte. (Amal'rik (1970), S. 6; siehe zur Debatte z.B.: Der Spiegel Nr. 12, 16. März 1970, S. 151 und die Antwort Amal'riks: Der Spiegel Nr. 21, 18. Mai 1970, S. 124,)

Der auf osteuropäische Hörer ausgerichtete amerikanische Sender Radio Liberty debattierte ebenfalls, ob er das Werk, auch wegen seiner "russophoben" Passagen, veröffentlichen sollte. Erst die Rückversicherung bei Karel van het Reve und bei weiteren Rußland-Experten, die KGB-Verbindungen Almariks scharf zurückwiesen und die "Echtheit" Amal'riks als Dissidenten bestätigten, brachte nach längerem Zögern den Durchbruch. Schließlich wurde das Werk in sechs Fortsetzungen in der Radioserie "Dokumente aus der UdSSR" über den Äther in die Sowjetunion geschickt. Als geschriebener Radiomitschnitt erfuhr es so eine noch weitere Verbreitung im sowjetischen Untergrund. (Gene Sosin, Sparks of Liberty. An Insider's Memoir of Radio Liberty, University Park, PA 1999, S. 125-128.)

Für Amal'rik hatte die Veröffentlichung des Essays dramatische Folgen. Am 21. Mai 1970 wurde er verhaftet und am 11./12. November 1970 in Sverdlovsk vor Gericht gestellt, das ihn zu drei Jahren Lagerhaft verurteilte. In seinem Schlußwort vor Gericht geißelte Amal'rik das Verfahren als "Hexenprozeß" (processami ved'm), verteidigte seine Ansichten und pochte auf sein Recht auf freie Meinungsäußerung. (Chronika tekuščich sobytij, Nr. 17, 31. Dezember 1970, S. 4f, in: Archiv Samizdata, Sobranie dokumentov samizdata. Tom 10-B: Chronika tekuščich sobytij, Nr. 555; A. Amal'rik, Das letzte Wort, in: Amal'rik (1981), S. 72f.)

Die Haftzeit verbrachte Amal'rik im Arbeitslager 261/3 im Gebiet Magadan in Nord-Ost-Sibirien. Auf dem Weg ins Lager erkrankte er an einer schweren Hirnhautentzündung, die ihn fast das Leben kostete. Kurz vor der vollständigen Verbüßung seiner Haftzeit wurde er am 18. Juli 1973 wegen Verbreitung antisowjetischer Propaganda erneut verurteilt, diesmal zu drei Jahren verschärfter Zwangsarbeit. Nach einem 117tägigen Hungerstreik und weltweiten Protesten wandelten die sowjetischen Behörden die Strafe in einfache Verbannung in Magadan um. 1975 kehrte er nach Moskau zurück und wurde am 15. Juni 1976 aus der Sowjetunion abgeschoben. Danach lebte Amal'rik abwechselnd in den Niederlanden, den USA und Frankreich und betätigte sich weiterhin als Menschenrechtsaktivist. Am 12. November 1980, auf der Fahrt zur KSZE-Nachfolgekonferenz in Madrid, verunglückte Amal'rik in der Nähe von Guadalajara (Spanien) tödlich. Sein Auto kam von der Farbahn ab und kollidierte mit einem LKW. Seine Frau und die zwei Beifahrer blieben unverletzt. Der sowjetische Geheimdienst hatte wohl nicht seine Finger im Spiel.

Das Essay "Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?" war Amal'riks berühmtestes Werk. Es verdankte, wie Amal'rik später anmerkte, seinen "apokalyptischen Ton" der Erwartung seiner Verhaftung und der Enttäuschung über die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 (Amal'rik (1983), S. 122). Das Essay war aber auch eine Reaktion auf die leidenschaftliche Debatte in der sowjetischen Intelligenz über die Gefahr, die China für die Sowjetunion darstellte. Diese entzündete sich Anfang 1967 nach der Belagerung der sowjetischen Botschaft in Peking durch aufgebrachte Massen und erlebte mit den militärischen Zusammenstößen im März 1969 am Ussuri, Amur und der Dsungarischen Pforte ihren Höhepunkt.

Amalrik wollte mit dem Essay, wie er später bemerkte, "endlich eine einfache, aber wichtige Sache laut heraussagen: daß das sowjetische Imperium bei all seiner Kraft und Prahlerei nicht auf Ewigkeit gegründet ist." (Amal'rik (1983), S. 113f.) Er zweifelte nicht, daß das "ostslawische Imperium [...] in das letzte Jahrzehnt seiner Existenz" getreten war (Amal'rik (1983), S. 79f). Weiterhin wollte er den Westen für die Tatsache sensibilisieren, daß sich das Sowjetregime, in Zeiten der Entspannung, gerade nicht weiter liberalisierte, sondern, im Gegenteil, weiter verknöcherte.

Das Essay gliederte Amal'rik in drei sich überlappende Teile. Im ersten analysierte er die Entstehung und Zusammensetzung der Oppositionsbewegung in der Sowjetunion, im zweiten die sowjetische Gesellschaft und ihr Herrschaftssystem, im dritten Teil beschrieb er den für 1980 bis 1985 prognostizierten Untergang der Sowjetunion aufgrund innerer Instabilität und außenpolitischer Auseinandersetzung mit China in Form eines Krieges.

Im ersten Teil erhielten zum erstenmal insbesondere die westlichen Leser eine Beschreibung der Entstehung, Zusammensetzung und der Strömungen der sowjetischen Dissidentenbewegung aus erster Hand. Aus der Kulturopposition der Tauwetter-Jahre nach Stalins Tod 1953 war eine neue "Demokratische Bewegung" entstanden, die, von drei unterschiedlichen Ideologien geprägt (wahrer Marxismus-Leninismus, christliche und liberale Ideologie), die Forderung nach einer "Rechtsordnung, die auf der Achtung der menschlichen Grundrechte beruhte", verband. (Amal'rik (1970), S. 17.)

Im zweiten Teil untersuchte Amal'rik die mögliche Unterstützung der Demokratischen Bewegung durch die sowjetische Gesellschaft, die sich für ihn als ein "Tripledeckersandwich" aus regierender Bürokratie, Mittelstand und unterer Schicht darstellte. (Amal'rik (1970), S. 49.) Die Mittelklasse, die als Klasse der Berufsspezialisten bezeichnet wurde, wurde als natürliches Reservoir der Demokratische Bewegung erkannt, aber gleichzeitig eine große Unterstützung durch selbige verneint. Aufgrund der Zerstörung der alten Mittelschicht, und der resignativen Einstellung sowie des herrschenden Beamtengeistes ihrer neuen Vertreter war für Amal'rik eine solche nicht vorstellbar. Auch dem russischen Volk sprach Amal'rik die Fähigkeit zur Unterstützung der Opposition ab. Insgesamt schaute er eher pessimistisch auf die Erfolgsaussichten der Demokratischen Bewegung.

Das russische Volk bewertete Amal'rik, stark geprägt durch seine Verbannungsjahre in Sibirien, sehr negativ. Für ihn war es ein Volk, dem "angesichts seiner geschichtlichen Tradition [...] die Ideen der Selbstverwaltung, der Gleichheit vor dem Gesetz sowie der persönlichen Freiheit ebenso unverständlich [waren] wie das damit verbundene Verantwortungsbewußtsein." (Amal'rik (1970), S. 40f.) Freiheit bedeutet dem russischen Volk Unordnung und die menschliche Persönlichkeit war ihm wertlos. Neben der Idee der starken Herrschaft existierte für das Volk nur eine pervertierte Idee von Gerechtigkeit, die nivellierend ("daß es Keinem besser gehen soll als mir") ein Haß auf alles erzeugte, was aus der Masse hervortrat. (Amal'rik (1970), S. 42.) Letzteres hatte für Amal'rik seinen Ursprung in dem niedrigen kulturellen Niveau des Volkes, der Propaganda und der "sozialen Desorientierung" aufgrund der durch Revolution, Kollektivierung und Klassenkampf verursachten Verwerfungen. (Amal'rik (1970), S. 44f.) Für Amal'rik war das russische Volk letztlich ein Volk ohne Religion und Moral in "einem Lande ohne Glauben, ohne Tradition, ohne Kultur und ohne die Fähigkeit irgend etwas richtig zu tun." (Amal'rik (1970), S. 70f.)

Die regierende Bürokratie bzw. das Regime zeichneten sich einzig durch das Ziel der Selbsterhaltung aus, welche Amal'rik als Dilemma der bürokratischen Elite verstand, "die entweder, um das Regime zu erhalten, dieses ändern oder, um sich selbst zu erhalten, alles unverändert lassen muß[te]." (Amal'rik (1970), S. 26f.) Das Regime bezeichnete Amal'rik als verbraucht, alt und unfähig, auf Veränderungen der Gesellschaft zu reagieren, wodurch es das Land in eine revolutionäre Situation manövrierte. Aufgrund dieser revolutionären Situation, die sich nach Amal'rik analog zur Situation unter Zar Nikolaj II. durch eine "immobilen Kastengesellschaft, die Verknöcherung des staatlichen Systems, das in offenen Widerspruch zu den Erfordernissen der wirtschaftlichen Entwicklung geraten ist, die Verbürokratisierung des Systems und das Vorhandensein einer privilegierten bürokratischen Klasse, nationale Gegensätze in einem Vielvölkerstaat und die bevorzugte Stellung einiger Nationen" auszeichnete, entstand für das Regime die Gefahr eines Zusammenstoßes mit dem Mittelstand oder mit der Unterschicht. (Amal'rik (1970), S. 53.)

Im dritten Teil prophezeite Amal'rik, daß das Regime als Ausweg aus der schwierigen innenpolitischen Situation verstärkt außenpolitisch aktiv werden und mit dem expansionistisch-agressiven China aneinander und in einen nicht-atomaren Krieg miteinander geraten würde. Als Folge des Krieges und der Unfähigkeit des Regimes würden Nationalitätenkonflikte umsichgreifen, die wirtschaftliche Situation rapide verschlechtern und das Volk mit Unruhen und Streik reagieren und aufgrund des zunehmenden Kontrollverlustes somit das Imperium zusammenbrechen. Der fehlende Druck aus Moskau würde zu einer gleichzeitigen "Ent-Sowjetisierung" Osteuropas und zur Wiedervereinigung Deutschlands führen. (Amal'rik (1970), S. 73.) Die Sowjetunion zerfiele nach der Machtübernahme extremistischer Gruppen "im Zustande der Anarchie und Gewalt und bei schärfsten nationalen Gegensätzen in seine Teile", sofern nicht die Mittelklasse, die Kontrolle erhalten würde. (Amal'rik (1970), S. 78.) In diesem Falle entstünde, nach einem Friedenschluß mit China, aus der Sowjetunion ein Commonwealth mit mehr oder weniger selbständigen Staaten, wobei es Amal'rik möglich erschien, daß das Baltikum, die Ukraine und das europäische Rußland sich als selbständige Einheiten einer "Alleuropäischen Föderation" anschließen könnten. (Amal'rik (1970), S. 79.)

Amal'riks Analyse der sowjetischen Gesellschaft und sein Zukunftsgemälde stießen auf ein großes Interesse, aber nicht auf allseitige Zustimmung. Amal'riks Mitstreiter in der Dissidentenszene waren geteilter Meinung. Der Dissident Petr Jakir lobte Amal'riks Essay und stimmte seinen Thesen grundsätzlich zu, schätzte aber die Zukunft der demokratischen Bewegung nicht ganz so pessimistisch ein wie Amal'rik. (Chronika tekuščich sobytij, Nr. 13, 30. April 1970, S. 34f, in: Archiv Samizdata, Sobranie dokumentov samizdata. Tom 10-A: Chronika tekuščich sobytij, Nr. 375; Survey Nr. 74/75, 1970, S. 110f.) Ein offener Brief, den auszugsweise die Samizdat-Zeitung "Chronik der laufenden Ereignisse" zusammen mit einer kurzen wohlwollende Zusammenfassung des Essays veröffentlichte, bezeichnete Amal'riks Gedanken als irrational-mystisch und falsch und kritisierte seine Einstellung als Verachtung (prezrenie) des russischen Volkes, seiner Geschichte und Kultur. (Chronika tekuščich sobytij, Nr. 12, 28. Februar 1970, S. 31, in: Archiv Samizdata, Sobranie dokumentov samizdata. Tom 10-A: Chronika tekuščich sobytij, Nr. 366). Insbesondere die Aussage Amal'riks über Volk, Kultur und Tradition wurde ihm immer wieder zum Vorwurf gemacht. Später schränkte er in der Einleitung der Neuausgabe des Buches seine Aussage ein und bemerkte: "daß der Satz über das Land ‚ohne Glauben, ohne Tradition, ohne Kultur' im Zorn geschrieben wurde. Rußland hatte und hat Tradition, Glauben und Kultur – aber auf eine befremdliche Weise ist es einerseits bemüht, sie gänzlich zu verleugnen, und andererseits, gerade umgekehrt, sich durch sie von der ganzen Welt abzukapseln." (Amal'rik (1981), S. 8.)

Die westliche (Fach-)Presse reagierte erstaunt auf die Tatsache, daß ein solches Buch in in der Sowjetunion entstehen konnte. Sie beschrieb Amal'rik vielfach als mutigen jungen Mann mit erstaunlichem Talent, lobte seine Analyse der Oppositionsbewegung und Gesellschaft, aber belächelte auch seine Zukunftsprognose und kritisierte teilweise seine negative Darstellung des russischen Volkes. (So z.B. "The Fish That Began To Talk, in: The Times v. 15. Dezember 1969, Ausgabe 57743, S. 9; ohne Kritik an Amal'riks Volksdarstellung: John Keep, Andrei Amal'rik and "1984", in: Russian Review 30 (1971), S. 335-345; gänzlich abwertend ("Unfortunately the best part of it is that title.") Goeffrey Mc Dermott, Out in the Cold, in: New Statesman v. 11. Dezember 1970, Heft 80, S. 803)

Heute, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, überrascht Amal'riks Weitsicht. Nicht nur die erstmalige Analyse der Oppositionsbewegung aus der Feder eines sowjetischen Dissidenten macht das Essay zu einem Schlüsseldokument zur sowjetischen Geschichte. Das Werk ist eines der wichtigsten und bekanntesten Bücher der sowjetischen Dissidentenliteratur. Es ist ein Dokument zum Verständnis der sowjetischen Opposition und der politischen und gesellschaftlichen Situation in der Brežnev-Zeit. Mit seinen Schlußfolgerungen und Prognosen hatte Amal'rik recht: Die Sowjetunion war kein Koloß für die Ewigkeit. Auch wenn er sich zeitlich verschätzte und der Krieg mit China nicht eintrat (statt dessen jedoch eine destabilisierende Auseinandersetzung mit Afghanistan), so war seine Beschreibung der innenpolitischen Probleme (Vergreisung der Staatsführung, Stagnation, Verfall der Wirtschaft, Nationalitätenkonflikte) und ihrer möglichen Folgen für das Imperium zutreffend. Das Land zerbrach, trotz der Reformversuche Gorbačevs, die Amal'rik so nicht vorhersah, letztendlich an ihnen bzw. ihren Folgeproblemen – ohne daß hierzu ein auswärtiger Konflikt notwendig war. Die Sowjetunion zerfiel in eine Art Commonwealth unabhängiger Staaten: die Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS). Das Baltikum schloß sich einer alleuropäischen Föderation, der EU, an. Der Ostblock löste sich aus dem Machtbereich Moskaus und Deutschland erfuhr seine Wiedervereinigung.

Amal'rik durfte durch seinen frühen Tod nicht mehr von der Erfüllung seiner Prophezeiung erfahren. Er konnte so nicht mehr miterleben, wie der König selbst erkannte, daß er nackt war und schließlich von Bühne der Geschichte abtrat.

Jörn Petrick