Niederschrift aus dem Büro des Reichspräsidenten über den Empfang des Reichskanzlers durch den Reichspräsidenten [Rücktritt des Kabinetts v. Schleicher], 28. Januar 1933

Einleitung

Der bisherige Reichswehrminister Kurt von Schleicher wurde von Reichspräsident Paul von Hindenburg am 3. Dezember 1932 zusätzlich zum Kanzler ernannt und übernahm damit die Nachfolge Franz von Papens, der sich nach seinen Niederlagen in den Reichstagswahlen vom 31. Juli und vom 6. November 1932 politisch völlig diskreditiert hatte. Der General gab sich zunächst äußerst selbstbewußt, denn er glaubte sich im Besitz eines erfolgversprechenden politischen Programms – des "Querfront"-Konzepts. Dessen Prämisse war die Erkenntnis, daß eine Präsidialregierung ohne eine breite politische Basis in der Bevölkerung nicht regierungsfähig sein konnte. Überdies wollte der neue Reichskanzler durch eine Versöhnung der unterschiedlichen Bevölkerungsschichten eine starke "Volksgemeinschaft" schaffen. Weil eine klassische Parteienkoalition aber wegen der Widerstände im Reichstag nicht in Frage kam, setzte Schleicher statt dessen auf ein Bündnis mit ausgewählten gesellschaftlichen Gruppen – vor allem den verschiedenen Gewerkschaften vom sozialdemokratisch orientierten ADGB über die Christlichen Gewerkschaften und den Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband bis hin zum sozialistischen Georg Strasser-Flügel in der NSDAP, aber auch Wehrverbänden und Standesorganisationen – quer durch alle politischen Lager. Damit sollte die Grundlage für eine berufsständisch geprägte Neuordnung gelegt werden, wie sie im (jung-)konservativen Milieu der Zeit propagiert wurde. Als Lockmittel insbesondere gegenüber den Gewerkschaften sagte der Reichskanzler eine Rücknahme des Sozialabbaus der letzten Jahre und direkte Arbeitsbeschaffungsprogramme zu; ihm genehmen NSDAP-Führern bot er vor allem konkrete Posten an. Zudem pflegte Schleicher gute Kontakte zu der erfolgreichen konservativ-revolutionären Zeitschrift "Die Tat" sowie der kleinen Berliner Tageszeitung "Tägliche Rundschau" und besaß derart auch publizistischen Einfluß.

Die Bevölkerung reagierte zunächst positiv auf den Kanzlerwechsel, während sich von den großen Parteien lediglich das Zentrum kooperationswillig gab. Dennoch wurde die Regierung in der Sitzungsperiode vom 6. bis 9. Dezember 1932 nicht mit einem Mißtrauensvotum konfrontiert, sondern konnte für einzelne Maßnahmen, wie die Aufhebung des sozialpolitischen Teils von Papens Notverordnung vom 4./5. September 1932, sogar die Zustimmung einer Mehrheit des Reichstages gewinnen. Zu diesem Zeitpunkt war letztlich keine Partei dazu bereit, eine erneute Reichstagsauflösung und Neuwahlen mit unabsehbaren Folgen zu provozieren. Danach vertagten sich die Abgeordneten auf unbestimmte Zeit. Dieses Interim wollte Schleicher nutzen, um sein "Querfront"-Konzept umzusetzen. Dementsprechend stellte er am 15. Dezember sein Regierungsprogramm vor – bewußt nicht im Parlament, sondern im Rundfunk, womit sein quasi bonapartistischer Versuch, sich eine "Massenbasis" (Axel Schildt) zu schaffen, verdeutlicht wurde. Im Zentrum seiner Erklärung stand die Werbung um Unterstützung seitens der Bevölkerung, indem er versicherte, keine Militärdiktatur errichten und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie Osthilfemaßnahmen einschließlich der Neuansiedlung bewilligen zu wollen.

Von Beginn seiner Regierungszeit an erschien dem General die Bereitschaft zumindest eines Teils der NSDAP zur Teilnahme an der "Querfront" unabdingbar für einen Erfolg seiner Politik. Zum einen bildeten die Nationalsozialisten die stärkste Fraktion im Reichstag, waren also für eine etwaige Tolerierung der Regierung entscheidend. Zum anderen kamen ihre Mitglieder und Wähler zu großen Teilen aus der jüngeren Generation, die wiederum der General für den angestrebten Ausbau der Reichswehr benötigte. Der zweite Mann der NSDAP, Reichspropagandaleiter Gregor Strasser, erwog zeitweise auch durchaus, die ihm wohl von Schleicher angebotene Zusammenarbeit anzunehmen. Er hatte bereits in einer Reichstagsrede am 10. Mai 1932 ein umfassendes Arbeitsbeschaffungsprogramm gefordert. Überdies teilte er nicht nur Schleichers staatssozialistische Überzeugungen, sondern fürchtete nach einer ersten Schlappe in der Reichstagswahl vom November 1932 auch weitere Wahlverluste der NSDAP.

Allerdings versagten Strasser dann in den entscheidenden Tagen Anfang Dezember letztlich doch die Nerven: Er wagte es am Ende nicht, Adolf Hitler offen herauszufordern und es auf einen Machtkampf mit dem NSDAP-Vorsitzenden ankommen zu lassen. Nachdem dieser sich strikt geweigert hatte, von seiner Forderung nach der Kanzlerschaft abzugehen, legte Strasser am 8. Dezember alle seine Parteiämter nieder und ging ins Ausland. Zwar kehrte er kurz vor Weihnachten zurück, doch faktisch war damit Schleichers "Querfront"-Konzept bereits kurze Zeit nach seiner Regierungsübernahme gescheitert, zumal auch der ADGB auf massiven Druck der SPD hin wieder von seiner anfänglichen Kooperationsbereitschaft abrückte. Es erwies sich als ein Fehler Schleichers, daß er die SPD zu wenig in seine Überlegungen einbezogen hatte. Für sie war der neue Reichskanzler allein schon durch die Tatsache diskreditiert, daß er bereits unter Papen Minister, ja geradezu der Kopf dieser der Sozialdemokratie so verhaßten Regierung gewesen war. Schleichers Wechsel vom Konfrontationskurs zur Kooperationsbereitschaft kam zu abrupt, als daß er für die SPD glaubwürdig gewesen wäre, zumal seine konkreten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen weit hinter ihren Forderungen zurückblieben. Der SPD-Führung erschien mittlerweile notfalls selbst eine Kanzlerschaft Hitlers als das kleinere Übel: Sie setzte darauf, daß sich der NSDAP-Vorsitzende in der Regierungsverantwortung rasch verschleißen und dann den Weg wieder frei machen werde für eine demokratisch legitimierte Regierung.

Während sich die von Schleicher umworbenen Wunschpartner also dem "Querfront"-Konzept verweigerten, diskreditierten gleichzeitig die im Reichslandbund organisierten Gro߬agrarier das Festhalten des Generals an den Ostsiedlungsplänen der früheren Reichsregierung Brüning gegenüber Hindenburg als eine "Bolschewisierung" ihrer Güter. Überdies kritisierten sie die freihändlerischen Bestrebungen der Regierung, weil sie allein der exportorientierten Industrie zugute kämen. Der Streit eskalierte durch eine scharfe Presseerklärung der Großagrarier vom 11. Januar 1933, die eine offene Kampfansage an die Reichsregierung enthielt und belegte, wie sehr der Reichslandbund mittlerweile in nationalsozialistisches Fahrwasser geraten war. Gleichzeitig opponierten selbst verschiedene Vertreter der Industrieverbände gegen den Interventionismus der Regierung, den sie angesichts von Schleichers Entgegenkommen gegenüber den Gewerkschaften und dem Strasser-Flügel der NSDAP zunehmend als ein ihnen gefährliches sozialistisches Experiment ansahen. Zwar bildeten die Befürworter einer Kanzlerschaft Hitlers immer noch die Minderheit, aber etliche Vertreter der Schwerindustrie erwogen zumindest eine Regierungsneubildung, die den unternehmerfreundlichen Papen erneut ins Kanzleramt bringen sollte.

Nach außen pflegte der Reichskanzler zwar weiter seinen Optimismus, doch angesichts der drohenden politischen Isolierung griff auch er noch einmal auf jenes Mittel zurück, das bereits Papen in einer ähnlichen Situation im Sommer 1932 erwogen hatte: die Auflösung des Reichstags und die Vertagung von Neuwahlen über die in der Verfassung vorgeschriebene Frist von 60 Tagen hinaus sowie die Ausrufung des Staatsnotstands mit Hilfe des Reichspräsidenten. Doch auch hiermit sollte der General scheitern: Zum einen sickerte seine Absicht ab Mitte Januar 1933 zunehmend durch, womit sich der Reichskanzler auch die letzten Sympathien bei den demokratischen Parteien verscherzte, die sich zu Recht düpiert zeigten. Zum anderen verweigerte ihm Hindenburg im entscheidenden, nur knapp zehnminütigen Gespräch am 28. Januar – wie schon in zwei vorangegangenen Unterredungen am 23. und 26. – seine Zustimmung. Der Reichspräsident hatte Anfang Dezember 1932 nur deshalb den von ihm sehr geschätzten Papen entlassen und den ihm eher unsympathischen Schleicher berufen, weil dieser ihm versprochen hatte, mit verfassungsgemäßen Mitteln regieren zu können. Jetzt verlangte auch Schleicher plötzlich einen Bruch der Verfassung. Zwar versuchte der General sein Ansinnen durch die Hinweise abzumildern, im Gegensatz zu Papen könne er sich auf die Unterstützung der Reichswehr verlassen und auch mit Sympathien in der Bevölkerung rechnen. Doch das mußte für Hindenburg wenig zählen, zumal die von ihm befragten Parteiführer übereinstimmend Schleichers Plänen widersprachen und sein persönlicher Favorit Papen ihm gleichzeitig durch parallele Gespräche mit Hitler über eine etwaige nationalsozialistische Regierungsbeteiligung eine verfassungskonforme Alternative anbot. Daneben mochte für Hindenburgs Entscheidung auch die Sorge ein Rolle spielen, die NSDAP werde umlaufende Gerüchte über angebliche finanzielle Unregelmäßigkeiten des Reichspräsidenten und seiner Familie im Zusammenhang mit der Veruntreuung von Osthilfegeldern zur Auslösung einer "Präsidentenkrise" nutzen und Hindenburg abzulösen versuchen.

Damit war Schleicher Ende Januar 1933 endgültig gescheitert. Schon sein "Querfront"-Konzept war von Beginn an ein "Spiel mit hohem Einsatz" (Axel Schildt) gewesen, denn selbst wenn eine solche Koalition zustande gekommen wäre, wäre der nationalsozialistische Partner auch unter Strassers Führung immer eine ebenso gefährliche wie unberechenbare Größe geblieben. Zur Ausrufung des "Staatsnotstands" wiederum verpaßte der General den richtigen Moment, wenn sich ein solcher Plan überhaupt hätte realisieren lassen. Bis heute ist in der Forschung umstritten, wie realistisch die Option eines Staatsnotstands angesichts der absehbaren Widerstände in allen politischen Lagern war und was seine etwaige Ausrufung für die weitere Entwicklung der Weimarer Republik bedeutet hätte: Letztlich besteht Einigkeit darüber, daß Schleicher "ein dauerhaft antiparlamentarisch-autoritäres Präsidialkabinett" (Eberhard Kolb) etablieren wollte. Gleichwohl sehen manche hierin angesichts "der desolaten Situation um die Jahreswende 1932/33 [...] die einzige noch verbliebene Überlebenschance ‚Weimars’: das Offenhalten des schmalen Pfades zu späterer Reetablierung demokratisch-parlamentarischer Verfassungsverhältnisse" (Eberhard Kolb/Wolfram Pyta).

Tatsächlich belegt der Staatsnotstands-Plan ebenso wie andere Varianten, die in der Umgebung Schleichers erörtert wurden, beispielsweise die Ignorierung eines Mißtrauensvotums durch den Reichstag, solange dieser keinen positiven Gegenvorschlag unterbreitete – eine Möglichkeit, die mit einer großzügigen Auslegung der Verfassung vereinbar schien und auch von maßgeblichen Staatsrechtslehrern der Zeit unterstützt wurde –, daß es bis zuletzt durchaus noch Alternativen zur nationalsozialistischen Regierungsbeteiligung gegeben hat. Die Ausrufung des "Staatsnotstands" hätte immerhin die Möglichkeit zur zukünftigen Wiederherstellung demokratisch-parlamentarischer Verfassungsverhältnisse offen gehalten. Dabei gilt auch zu bedenken, daß Schleicher ungeachtet eines Hangs zur Intrige nicht der Mann war, der dauerhaft eine Militärdiktatur in Deutschland hätte errichten wollen: Sein "Querfront"-Konzept zeigt, daß er weit fortschrittlicher und sozialer war als seine konservativen Mitspieler aus der Papen-Riege: Schleicher war ein autoritärer Revisionist, aber kein antiquierter Reaktionär. Er wollte vor allem die Reichswehr aufrüsten, träumte aber nicht wie Papen und andere von einem "Neuen Staat".

Aufgrund der fehlenden Unterstützung durch Hindenburg und angesichts der bevorstehenden Reichstagssitzung am 31. Januar 1933, auf der er im Zuge eines Mißtrauensvotums mit einer sicheren Niederlage rechnen mußte, trat Schleicher am 28. Januar mit seinem gesamten Kabinett zurück. Doch selbst jetzt sah es noch nicht nach einer Reichskanzlerschaft Hitlers aus. Weiterhin hing alles von Hindenburg ab, der eine Berufung des NSDAP-Vorsitzenden bislang immer abgelehnt hatte. Hindenburgs Verhalten im Januar 1933 zeigt das Dilemma des greisen Reichspräsidenten, der zwar die Republik in ihrer bisherigen Form abschaffen, dabei aber keinen offenen Bürgerkrieg und keinen direkten Verfassungsbruch verschulden wollte. Folglich ließ er sich im Zweifelsfalle immer für eine Lösung gewinnen, die ihm suggerierte, ein etwaiger neuer Reichskanzler besitze eine breite parlamentarische Basis, die ihm ermögliche, die beabsichtigten Verfassungsänderungen formal korrekt von einer Mehrheit der Abgeordneten billigen zu lassen. Genau das hatte er Hitler lange Zeit nicht zugetraut und ihn deshalb von der Regierung ferngehalten. Doch Anfang 1933 geriet er unter massiven Druck: durch das offensichtliche Scheitern der "Querfront"-Konzeption Schleichers und das gleichzeitige Drängen seiner Vertrauten, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Erst am 30. Januar gab er dem Drängen seiner Kamarilla nach. Er glaubte, das Gewicht der NSDAP in der neuen Regierung genügend austariert und einer etwaigen Diktatur vorgebaut zu haben. Tatsächlich übertrug er die Macht damit an den skrupellosesten Republikgegner, ja einen politischen Verbrecher.

Reiner Marcowitz