Friedensresolution des Deutschen Reichstags, 19. Juli 1917

Einleitung

1917 war ein Epochenjahr der modernen Geschichte, mit dem die deutschen Historiker seit Hans Rothfels die Zeitgeschichte einsetzen lassen. Der Zäsurcharakter ergibt sich vor allem aus zwei Ereignissen von weitreichender und welthistorischer Bedeutung: der russischen Revolution (seit 8. März) und dem Kriegseintritt der USA (6. April). Doch auch im Deutschen Reich machte sich zumindest in Ansätzen ein Wandel der Politik bemerkbar, der von den Umwälzungen in Russland und der Ausweitung des Großen Krieges zum Weltkrieg nicht unbeeinflusst blieb. Der dritte Kriegswinter und das Frühjahr 1917 waren von einer Mischung aus Hoffnung, Enttäuschung und Erschöpfung geprägt. Auf dem Hauptkriegsschauplatz, der Westfront, bestand nach den großen Abnutzungsschlachten des Jahres 1916 (Verdun, Somme) weiterhin ein militärisches Patt. Zugleich aber verschärfte sich die Ernährungslage der Mittelmächte. Im "Steckrübenwinter" kam es in Deutschland zu Hungerprotesten und Streiks, die sich zunehmend mit politischen Forderungen verbanden. Die "Osterbotschaft" Kaiser Wilhelms II. (7. April), nach dem Krieg das restriktive preußische Dreiklassenwahlrecht aufzuheben, erfüllte die wachsenden Erwartungen auf Demokratisierung des politischen Systems bei weitem nicht. Ebenso erwies sich die Spekulation der Marineleitung, Großbritannien durch den uneingeschränkten U-Boot-Krieg "in die Knie zu zwingen", nicht nur als illusorisch, sondern als hochriskant, da sie die amerikanische Kriegserklärung an Deutschland zur Folge hatte. Davon unbeeindruckt, setzten die politische und die militärische Führung weiterhin auf erhöhte Kriegsanstrengungen (Hindenburg-Programm) und die Verwirklichung weit gesteckter Kriegsziele (Kreuznacher Programm vom 23. April). Die Hoffnungen auf einen "Siegfrieden" erhielten durch die Februarrevolution in Russland neuen Auftrieb.

In dieser diffusen Situation zwischen Zuversicht und Zweifel, Siegeswillen und Kompromissbereitschaft, Anspannung und Überspannung, "Burgfrieden" und sozialer Bewegung meldete sich unvermittelt ein Akteur zu Wort, der in der konstitutionellen Monarchie an sich nur eine nachgeordnete Rolle spielte und seit Kriegsbeginn kaum aktiv hervorgetreten war: der Reichstag. Den notwendigen Impuls gab Matthias Erzberger, führender Abgeordneter des katholischen Zentrums und bis dahin einer der Garanten des regierungsfreundlichen Kurses seiner Partei. Erzberger nutzte am 6. Juli 1917 eine Sitzung des Hauptausschusses des Reichstags, um mit den Fehlspekulationen der Reichsleitung (U-Boot-Krieg, Ernährungslage, Kriegsdauer) abzurechnen. Zugleich schlug er vor, dass sich der Reichstag für "einen Frieden des Ausgleichs" ausspreche. Auf dieser Basis solle dann die Reichsregierung eine Friedensaktion einleiten. Als Vorbedingung nannte Erzberger den Verzicht auf annexionistische Forderungen. Er schloss mit der eindringlichen Mahnung: "Nie [darf] unser Volk dem Reichstag das grausame Wort entgegenschleudern: 'Zu spät!'"

Die Rede Erzbergers wirkte wie ein Fanal. Der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert erkannte sofort, dass sie "eine vollständig neue parlamentarische und politische Situation" herbeigeführt habe. Bisher hatte es im Reichstag eine Mehrheit aus Zentrum, Nationalliberalen und Konservativen für einen "Siegfrieden" mit umfangreichen Annexionen und wirtschaftlichen Gewinnen gegeben. Jetzt näherte sich das Zentrum der SPD und der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei an, die einen Verständigungsfrieden und demokratische Reformen forderten und immer weniger bereit waren, weitere Kriegskredite zu bewilligen. Nach dem Kurswechsel des Zentrums gab es im Reichstag statt einer "Kriegszielmehrheit" nunmehr eine Mehrheit für Frieden und Parlamentarisierung. Unmittelbar nach Erzbergers Signal im Hauptausschuss trafen sich die führenden Fraktionsvertreter der SPD, der Fortschrittspartei, des Zentrums und auch der Nationalliberalen zu einer interfraktionellen Beratungsrunde, die bis zum November 1918 regelmäßig als informelles Spitzengremium einer ebenfalls informellen Parteienkoalition tagte. Durch den "Interfraktionellen Ausschuss", dem die Nationalliberalen nur zeitweise angehörten, wurde der Reichstag zum ernst zu nehmenden und initiativen politischen Machtfaktor – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum parlamentarischen System.

Das erste Ergebnis des neuen parlamentarischen Selbstbewusstseins war der Sturz des Reichskanzlers am 13. Juli 1917. Die neue Mehrheit aus Sozialdemokraten, Linksliberalen und Zentrum warf dem Kanzler Theobald von Bethmann Hollwegmangelnde Friedens- und Reformbereitschaft vor und entzog ihm jedes Vertrauen, während die meisten Nationalliberalen und Konservativen sowie die Oberste Heeresleitung ( Hindenburg, Ludendorff) ihn für unfähig hielten, entschlossen genug für einen Annexionsfrieden und gegen demokratische Reformen einzutreten. So verlor Bethmann aus unterschiedlichen Gründen jegliche Basis. Er wurde dann allerdings ohne Mitsprache der Parlamentarier durch einen Vertrauensmann der Heeresleitung ersetzt, den politisch unerfahrenen Verwaltungsbeamten Georg Michaelis, zuvor Unterstaatssekretär im Kriegsernährungsamt.

Das zweite Ergebnis war die von Erzberger angeregte Friedensresolution des Reichstags, auf deren Text sich die SPD, die Fortschrittliche Volkspartei und das Zentrum nach elftägigen Beratungen am 17. Juli einigten – die Nationalliberalen lehnten die Aktion ab und beteiligten sich nicht. Die Resolution zielte – nach den Worten des Sozialdemokraten Eduard David – "einmal auf das deutsche Volk, dem wir die stärksten Entbehrungen auferlegen müssen und dem wir deshalb beweisen sollten, daß wir uns von utopischen und annexionistischen Plänen offen lossagen, dann auf die Neutralen, deren Stimmung ein fruchtbares Gewicht in der schwankenden Waagschale des Friedens bilde, und endlich [auf die] breiten Volksschichten der feindlichen Länder, die mit ihrem latenten Friedensbedürfnis so lange keinen einheitlichen Druck auf die Regierung ausüben, als nicht unzweideutig die Eroberungsabsicht der Alldeutschen dementiert werde". Die Kernaussage der Resolution war, dass der Reichstag einen "Frieden der Verständigung und dauernden Versöhnung der Völker" erstrebe. Mit diesem Ziel seien "erzwungene Gebietserwerbungen und politische, wirtschaftliche oder finanzielle Vergewaltigungen unvereinbar". Das war eine klare Absage an die Kriegszielforderungen der Alldeutschen und weiter Kreise der Industrie, des Militärs und der Verwaltung. Allerdings fehlten in der Resolution unmissverständliche Aussagen zu konkreten Streitfragen, etwa zur Anerkennung der vollen Souveränität Belgiens, und an ihrem Ende wurden wieder recht martialische Töne angeschlagen. Das gab dem Text letztlich einen zu wenig eindeutigen und eher deklamatorischen Charakter. Er war ein Kompromiss zwischen drei sehr unterschiedlichen Parteien, die sich eben erst zu einer informellen Koalition für einen Verständigungsfrieden zusammengefunden hatten.

Die Resolution wurde am 19. Juli 1917 im Reichstag mit 214 gegen 116 Stimmen bei 17 Enthaltungen angenommen. Damit hatte sich die neue Mehrheit eindrucksvoll gegen die Nationalliberalen und Konservativen durchgesetzt. Die Reichsregierung war jedoch nicht bereit, sich den neuen Verhältnissen im Reichstag zu unterwerfen. Das wurde schon während der Reichstagsdebatte deutlich, als Reichskanzler Michaelis seine vordergründige Akzeptanz der Resolution mit dem relativierenden Zusatz versah: "wie ich sie auffasse". Auch die mächtige Oberste Heeresleitung um Hindenburg und Ludendorff dachte noch lange nicht daran, von ihren Maximalforderungen abzugehen. Schon allein deshalb musste die Friedensresolution außenpolitisch wirkungslos bleiben. Wie wenig die Reichstagsmehrheit die "Friedenspolitik" der Reichsleitung beeinflussen konnte, zeigte sich bereits im September 1917, als die päpstliche Friedensinitiative u.a. daran scheiterte, dass die deutsche Seite eine klare Stellungnahme zur Zukunft Belgiens verweigerte.

Die historische Bedeutung der Friedensresolution beruht nicht auf der außenpolitischen, sondern auf der innenpolitischen Wirkung. Sie provozierte eine heftige politische Gegenbewegung. Die Gegner eines Verständigungsfriedens und innerer Reformen formierten sich am 2. September 1917 in Königsberg zur "Deutschen Vaterlandspartei", die "überparteilich" für annexionistische Kriegsziele eintrat und heftig gegen einen möglichen "Scheidemannfrieden" polemisierte. Dieses neue nationalistische (und antisemitische) Sammelbecken erhielt großen Zulauf und verschärfte die Gegensätze zwischen der "nationalen" Rechten und den gemäßigten Sozialisten, Liberalen und Zentrumspolitikern. Diese Polarisierung wurde für die nächsten eineinhalb Jahrzehnte der deutschen Geschichte ebenso konstitutiv wie das Zusammenwirken von parlamentarischen Kräften, die trotz aller politischen, sozialen und konfessionellen Unterschiede bereit waren, gemeinsam für Frieden und Parlamentarismus einzutreten. Denn die Friedensresolution des Reichstags war vor allem auch das Gründungsdokument einer neuen demokratischen Mitte "von Erzberger bis Scheidemann", die schließlich beim Übergang von der Monarchie zur Demokratie eine entscheidende Rolle spielte und dann als "Weimarer Koalition" das Rückgrat der Republik bildete. In dieser Hinsicht war die Friedensresolution richtungweisend für die weitere Parlamentarisierung und Demokratisierung des Deutschen Reichs.

Eva Rimmele