Bericht der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei (HVDVP) für die Zeit vom 16.6.53 bis 22.6.1953, 18.00 Uhr [Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953], undatiert

Einführung

Während die Ereignisse im Juni 1953 in der DDR früher nur auf der Basis von Augenzeugenberichten untersucht werden konnten, hat die historische Forschung seit dem Sturz der GlossarSED-Herrschaft Zugang zu umfangreichen schriftlichen Quellenbeständen bekommen: Akten der Polizei, des Ministeriums für Staatssicherheit, der SED, der Gewerkschaften, der so genannten GlossarBlockparteien und andere bis 1989 streng verschlossene Archivalien. Das hier veröffentlichte Dokument ist nur eines von Hunderten, die den Ablauf des Volksaufstandes in der DDR rekonstruieren helfen. Es ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil es einen vergleichsweise detaillierten Überblick über die Vorgänge in Ost-Berlin und den 14 DDR-Bezirken gibt und umfangreiches Zahlenmaterial enthält, das das Geschehen am 17. Juni quantifiziert: die Menge der Demonstranten (335 200) und der Streikenden (225 620), die Anzahl der erschossenen Demonstranten (14) und Sicherheitsbeamten (6), die Zahl der gestürmten Gebäude (125) und der befreiten Gefangenen (1 297), die Massenverhaftungen nach der Niederschlagung (6 057 Festgenommene bis zum 22. Juni), denen vor allem Arbeiter zum Opfer fielen – entgegen allen politischen Verlautbarungen, daß "faschistische Agenten" aus dem Westen den Aufstand angezettelt hätten.

Dokumente wie dieses haben das Bild vom Volksaufstand in der DDR in den letzten Jahren erheblich verändert. Anders als es die ikonografischen Fotos vom Aufmarsch der sowjetischen Panzer in Berlin suggerieren, gab es Streiks und Demonstrationen keineswegs nur in der geteilten deutschen Hauptstadt. In nahezu allen größeren Städten der DDR kam es am 17. Juni oder später zu Protesten, die oftmals sogar entschlossener verliefen als in Berlin. In Halle, Bitterfeld und Görlitz hatten die Demonstranten praktisch bereits die Macht übernommen. In Städten wie Magdeburg, Brandenburg oder Jena stürmten sie gut bewachte Polizeipräsidien und Gefängnisse, um die zahlreichen politischen Gefangenen in der DDR zu befreien. In Leipzig, Gera und vielen kleineren Orten entwickelten sich die Streiks binnen Stunden zum Volksaufstand, in dessen Verlauf Parteizentralen und Rathäuser besetzt wurden. In den meisten Großbetrieben bildeten sich Streikkomitees, die einen umfangreichen Katalog mit sozialen und politischen Forderungen aufstellten und an die Arbeiter- und Soldatenräte anderer Revolutionen erinnern. Selbst auf dem Lande kam es in mehreren hundert Ortschaften zu Versammlungen, Streiks, Demonstrationen oder Besetzungen, die – in der direkten Konfrontation mit lokalen Funktionären – teilweise einen radikaleren Charakter annahmen als in den Städten und Assoziationen an längst vergangene Bauernerhebungen wecken.

Der flächendeckende Charakter der Proteste, die Beteiligung breiter sozialer Schichten und die weitreichenden politischen Forderungen ("Freie Wahlen", "Nieder mit der Regierung!", "Weg mit Ulbricht!", "Freilassung aller politischen Gefangenen" etc.) haben nicht nur das in Westdeutschland zeitweise gezeichnete Bild eines reinen "Arbeiteraufstands" korrigiert. Sie machen auch deutlich, daß in der DDR im Juni 1953 zweifellos eine Art vorrevolutionäre Situation herrschte. Daß der Funke eines harmlos beginnenden Bauarbeiterstreiks am 16. Juni in Berlin ohne irgendeine organisatorische Vorbereitung oder Struktur einen solchen Flächenbrand auslöste, ist anders nicht zu erklären. Zeitgenössische Einschätzungen, daß die SED und ihr Parteichef GlossarWalter Ulbricht in der Bevölkerung damals so verhaßt waren, daß ihre Herrschaft nur durch das Eingreifen der sowjetischen Truppen gerettet werden konnte, haben sich dadurch bestätigt.

Der Zugang zu den DDR-Archiven hat dabei auch in jüngster Zeit immer wieder neue, bislang unbekannte Protestaktionen ans Tageslicht gefördert. Während auf der zentralen Ebene – in diesem Fall die Hauptverwaltung der ostdeutschen Volkspolizei – oft nur ein grobes, holzschnittartiges Bild der Situation gezeichnet wird, enthalten die Aufzeichnungen aus den Bezirken, Kreisen, Gemeinden und Betrieben oft ungleich detailliertere Informationen. Deutlich wird dabei nicht nur, daß die Proteste noch umfassender waren, als in den zentralen Dokumenten erkennbar, sondern daß sie sich auch keineswegs auf den 17. Juni 1953 beschränkten. Schon seit Anfang Juni war es in den Betrieben vielmehr zu spontanen Protestversammlungen und kleineren Streiks gekommen. Trotz Verhängung von Ausnahmezustand und Kriegsrecht sowie mehrerer demonstrativer Hinrichtungen hielten die Proteste auch nach dem Eingreifen der sowjetischen Truppen noch länger an. Im Juli kam es in über 70 Orten erneut zu Streiks, bei denen es vielfach um die Forderung nach Freilassung der verhafteten Arbeiter ging. Auf dem Lande traten bis Oktober 1953 mehr als 20.000 Mitglieder aus den von der SED erzwungenen GlossarLandwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) aus. Es dauerte Monate, bis sich die SED-Herrschaft wieder gefestigt hatte.

Vor diesem Hintergrund stellen auch die in dem Dokument genannten Zahlen nur eine erste Momentaufnahme dar. In Wirklichkeit haben sich, wie neuere Forschungen ergaben, über eine Million Menschen an den Protesten im Juni 1953 beteiligt. Etwa 500.000 Beschäftigte traten am 17. Juni in den Streik, mehr als 400.000 nahmen an Aufmärschen teil. Demonstranten erstürmten über 140 Gebäude – darunter 13 Polizeigebäude, acht SED-Zentralen, sechs Gewerkschaftshäuser, 14 Bürgermeistereien und elf Kreisverwaltungen. Aus über 700 Städten und Gemeinden, davon 14 Großstädte, sind Protestaktionen belegt. Am 18. Juni beteiligten sich in 16 Orten immer noch rund 44.000 Menschen an den inzwischen lebensgefährlichen Demonstrationen. Aber auch die Zahl der Festnahmen war erheblich höher, als in dem Dokument angegeben. Insgesamt haben die ostdeutschen Sicherheitsorgane bis zum 1. August etwa 13.000 Verhaftungen gezählt, zu denen noch weitere hinzugerechnet werden müssen, die von sowjetischen Stellen vorgenommen wurden. Durch Quellen belegt sind bislang 55 Todesopfer des Aufstandes, davon fünf Angehörige der DDR-Sicherheitsorgane.

Das Dokument ist insofern auch ausgesprochen quellenkritisch zu betrachten, als es ausschließlich die Perspektive des Sicherheitsapparates enthält und die Ereignisse aus politischen Gründen massiv verzerrt. Demonstranten, die freie Wahlen fordern, werden als "faschistische" oder "verbrecherische Elemente" bezeichnet. Demonstranten, die die Rote Fahne vom Brandenburger Tor holten, werden als "aus dem Westen" kommend bezeichnet. Tatsächlich mußten die DDR-Stahlarbeiter aus Hennigsdorf stundenlang durch West-Berlin marschieren, bis sie endlich in der Stadtmitte ankamen, weil die Behörden den S-Bahn-Verkehr lahm gelegt hatten. Ebenso wenig wird deutlich, warum Zeitungskioske in Brand gesteckt und HO-Läden geplündert wurden, nämlich aus Empörung über die unerträgliche Propaganda in den DDR-Medien, über die überhöhten Preise in den staatlichen Geschäften und die systematische Diskriminierung der Privatläden in der DDR. Und wenn es heißt, daß auf dem Berliner Alexanderplatz die Lage "bereinigt" wurde, dann bedeutet dies, daß Panzer in lebensgefährlichen Manövern in die Demonstranten fuhren und bald auch geschossen wurde. Die Behauptung, daß in Halle eine ehemalige "SS-Kommandeuse" aus dem KZ Ravensbrück aus der Haft befreit worden wäre und sich dann "maßgeblich an den Provokationen" beteiligt hätte, ist inzwischen als Propagandalüge enttarnt worden – in Ravensbrück gab es überhaupt keine "SS-Kommandeusen", geschweige denn eine mit diesem Namen. Das hinderte das Bezirksgericht Halle freilich nicht, die offenkundig geistig verwirrte Frau am 22. Juni 1953 zum Tode zu verurteilen. Daß sich ein größerer Teil der Bevölkerung bald von den Anführern distanzierte, wie es in dem Bericht heißt, ist ebenfalls eine durch nichts belegte Behauptung, die wohl eher dem Wunschdenken der SED-Führung, als der Wirklichkeit entsprach – tatsächlich mußte das Politbüro am 17. Juni in das sowjetische Hauptquartier in Berlin-Karlshorst evakuiert werden, wo es auch die Nacht über blieb.

Das Dokument ist auch noch in anderer Beziehung unvollständig – es enthält keinerlei Angaben über die tatsächlichen Akteure des Aufstands und ihre politischen Vorstellungen. Der Aufstand hat kein Gesicht. Weil die Erhebung so schnell niedergeschlagen wurde, sind ihre Sprecher – anders als bei den Streiks in Polen 1980 – öffentlich kaum bekannt geworden. Dieses Defizit besteht bis heute, da rechtliche Gründe den Zugang zu den personenbezogenen Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit über einzelne Streikführer und Demonstranten behindern. Sie konnten bis heute nicht vollständig ausgewertet werden. Eine wichtige Rolle spielten zum Beispiel der Vorsitzende des Streikkomitees Bitterfeld, GlossarPaul Othma, der Görlitzer Sozialdemokrat GlossarMax Latt, der Dresdener Streikführer und ehemalige NS-Widerstandskämpfer GlossarWilhelm Grothaus oder der Organisator des Streiks im Funkwerk Berlin-Köpenick, GlossarSiegfried Berger – um nur einige Personen zu nennen, die plötzlich und auch für sie selbst völlig unerwartet an die Spitze einer Bewegung gespült wurden. Die meisten von ihnen büßten ihr spontanes Engagement für Freiheit und Demokratie mit langen Haftstrafen, wenn sie nicht bei Nacht und Nebel schnell noch in den Westen flüchteten.

Der Aufstand vom 17. Juni ist in Deutschland lange unterschätzt worden. Weil er so rasch und gründlich niedergeschlagen wurde, bekam er von Anfang an das Stigma einer erfolglosen Rebellion. In der DDR verteufelte man ihn jahrzehntelang als "faschistische Provokation" oder verschwieg ihn einfach. In Westdeutschland erstarrte die anfängliche Sympathie bald in hohlem Pathos. Nachdem die Bundesrepublik die DDR im Grundlagenvertrag von 1972 anerkannt hatte, wurde die Erinnerung nur noch am jährlichen Nationalfeiertag, dem "Tag der Deutschen Einheit" gepflegt – bis auch dieser 1991 auf den 3. Oktober verlegt wurde. Erst im Jahr 2003, zum 50. Jahrestag der Erhebung, nahm eine breite Öffentlichkeit das Geschehen erneut in den Blick: als Sternstunde der deutschen Geschichte und als Versuch, die SED-Diktatur aus eigener Kraft abzuschütteln. Rund um das Jubiläum erschien rund ein Dutzend neuer Monographien. Über den Ablauf der Ereignisse in den einzelnen Regionen liegen inzwischen vielfach detaillierte Darstellungen vor.

Hatten sich die Deutschen mit der einen Spielart totalitärer Herrschaft, dem Nationalsozialismus, arrangiert, kann man ihnen das bei der anderen, der kommunistischen, nicht nachsagen. Im Gegenteil – für ihr Streben nach Freiheit haben viele 1953 einen hohen Preis bezahlt. Der Aufstand vom 17. Juni gehört deshalb, auch wenn er scheiterte, in die Reihe der großen demokratischen Erhebungen in Deutschland: die Märzrevolution von 1848, die Novemberrevolution von 1918 und die friedliche Revolution im Herbst 1989.

Hubertus Knabe