Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik ["Grundlagenvertrag"], 21. Dezember 1972

Einführung

Der Grundlagenvertrag kennzeichnete die Durchsetzung des von GlossarEgon Bahr 1963 in GlossarTutzing vorgestellten Konzeptes "Wandel durch Annäherung" in der Deutschlandpolitik. Die GlossarFDP, zu dem Zeitpunkt noch in der Opposition, machte sich diese Grundidee im Februar 1969 mit dem Projekt eines "Generalvertrages mit der DDR" zueigen. Doch erst nach dem Machtwechsel in Bonn wurde der Weg zu einem "Grundvertrag" – so die übliche Diktion in der fortan regierenden sozial-liberalen Koalition – frei durch die De-facto-Anerkennung der DDR, die der neugewählte Bundeskanzler GlossarWilly Brandt in seiner ersten GlossarRegierungserklärung am 28. Oktober 1969 zugestand. Mit dieser teilweisen Abkehr von 20 Jahren Nichtanerkennungspolitik gegenüber der DDR wurde es möglich, mit staatlichen Stellen der DDR zu verhandeln, um "die Einheit der Nation dadurch zu wahren, daß das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird" (Brandt).

Die noch ausstehende völkerrechtliche Anerkennung sollte der DDR erst in einem zweiten Schritt zugestanden werden, den die Bundesregierung aufgrund der zunehmend bröckelnden internationalen Isolierung der DDR als unausweichlich betrachtete. Zuvor galt es noch zwei deutschlandpolitische Ziele in die Tat umzusetzen: Erstens war eine befriedigende Berlin-Regelung unter Wahrung des Viermächtestatus der Stadt wichtig. Dabei sollten besonders die Bindungen West-Berlins an den Bund bestätigt und der Zugang für den zivilen Verkehr gesichert werden. Zweitens war Bonn entschlossen, der DDR für die völkerrechtliche Anerkennung politische Konzessionen abzuringen und vertraglich festzuschreiben.

Das Verhandlungskonzept der Bundesregierung gegenüber der DDR sah vor, zunächst einen Verkehrsvertrag auszuarbeiten, der Modellcharakter für die weiteren Verträge mit der DDR haben und durch spürbare Erleichterungen im innerdeutschen Reiseverkehr der folgenden Grundsatzvereinbarung mit der DDR auch gegen innenpolitische Widerstände den Weg ebnen sollte. Dabei war man sich darüber im Klaren, daß eine solche Vereinbarung mit Ost-Berlin ohne Zustimmung und Mitwirkung der sowjetischen Hegemonialmacht nicht zu erreichen war. Folglich hatte die Verständigung mit der UdSSR politisch und verhandlungstaktisch Vorrang vor Verhandlungen auf deutsch-deutscher Ebene.

Die Moskauer Führung nahm diese Prärogative entschlossen wahr und verzögerte im Benehmen mit der DDR Fortschritte im innerdeutschen Dialog, bis mit der Unterzeichnung des GlossarMoskauer Vertrages am 12. August 1970 und der Paraphierung des GlossarWarschauer Vertrages am 18. November 1970 wichtige Festlegungen vor allem in der Frage der Grenzen getroffen waren. Die Treffen von Bundeskanzler Brandt mit dem DDR-Ministerratsvorsitzenden GlossarWilli Stoph in Erfurt und Kassel am 19. März und 21. Mai 1970 erfuhren daher trotz großer öffentlicher Aufmerksamkeit keine Fortsetzung ("Denkpause"). Erst am 27. November 1970 konnte der deutsch-deutsche Meinungsaustausch auf Staatssekretärsebene fortgesetzt werden.

Bereits im Dezember 1969 hatte die DDR mit ihrem Entwurf "Vertrag über die Aufnahme gleichberechtigter Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland" Maximalforderungen auf den Tisch gelegt, denen Brandt in Kassel "Grundsätze und Vertragselemente für die Regelung gleichberechtigter Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik" gegenüberstellte – die sog. 20 Punkte von Kassel. Demnach sollten beide Staaten "im Interesse des Friedens sowie der Zukunft und des Zusammenhalts der Nation" einen völkerrechtswirksamen Vertrag schließen, "der die Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland regelt, die Verbindung zwischen der Bevölkerung der beiden Staaten verbessert und dazu beiträgt, bestehende Benachteiligungen zu beseitigen".

Die 20 Punkte enthielten darüber hinaus entscheidende Grundsätze wie die der Gleichberechtigung, des Gewaltverzichts, der territorialen Integrität und der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, waren aber wegen der vielfältigen Bezüge auf die deutsche Nation und das innerdeutsche Sonderverhältnis für die DDR nicht annehmbar. Für die spätere Namensgebung richtungsweisend war hingegen die Formulierung, Bundesrepublik und DDR sollten "auf der Grundlage des zwischen ihnen zu vereinbarenden Vertrages" weitere Vorkehrungen treffen – auch wenn hier zunächst nur an die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen gedacht war.

Eine erste politisch bindende Festlegung erfuhr der Grundlagenvertrag in dem gemeinsamen Papier, das Bundesregierung und sowjetische Regierung nach mehrmonatigen Verhandlungen der Beauftragten Bahr und GlossarAndrej Gromyko am 20. Mai 1970 fertigstellten. In dem von beiden Regierungen am 12. August 1970 mit Unterzeichnung des Moskauer Vertrages als politische Absichtserklärung veröffentlichten sog. Bahr-Papier erklärte sich die Bundesregierung bereit, mit der DDR ein Abkommen zu schließen, das die "zwischen Staaten übliche gleiche verbindliche Kraft haben" sollte wie Abkommen mit Drittstaaten. Die gegenseitigen Beziehungen seien "auf der Grundlage der vollen Gleichberechtigung, der Nichtdiskriminierung, der Achtung der Unabhängigkeit und der Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in Angelegenheiten, die ihre innere Kompetenz in ihren entsprechenden Grenzen betreffen", zu gestalten. Die von der sowjetischen Seite gebilligten Formulierungen ließen Sonderbeziehungen zwischen Bundesrepublik und DDR zu, da diese nur analog den Beziehungen zu dritten Ländern zu gestalten waren. Dies erlaubte es der Bundesrepublik, die DDR als Völkerrechtssubjekt anzuerkennen, ohne die Einheit der Nation aufgeben zu müssen. Für sie war die DDR weiterhin kein Ausland; normale diplomatische Beziehungen mit dem Austausch von Botschaftern kamen daher nicht in Frage. Die vom "großen Bruder" in Moskau getroffene Absprache war de facto auch für die DDR verbindlich, was ihre künftigen Verhandlungsoptionen einengte.

An die Moskauer Absichtserklärung knüpfte der im November 1970 aufgenommene deutsch-deutsche Meinungsaustausch an, als die Grundsätze der zu regelnden Beziehungen zur Sprache kamen. Doch konzentrierten sich die von Bahr, dem Staatssekretär im Bundeskanzleramt, und GlossarMichael Kohl, dem Staatssekretär beim Ministerrat der DDR, geführten Gespräche zunächst auf Verkehrsfragen. Vordringlich war die Fertigstellung des Transitabkommens, welches das seit März 1970 verhandelte und schließlich am 3. September 1971 unterzeichnete GlossarViermächte-Abkommen über Berlin ergänzen sollte. Das "Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der DDR über den Transitverkehr von zivilen Personen und Gütern zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West)" konnte am 17. Dezember 1971 zum Abschluß gebracht werden.

Nachfolgend wandten sich die Gespräche dem Abschluß eines Verkehrsvertrages zu, zu dem Entwürfe bereits seit Herbst 1969 auf dem Tisch lagen. Der am 26. Mai 1972 unterzeichnete "Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR über Fragen des Verkehrs" bildete den ersten ratifizierungspflichtigen Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Der "vergessene Vertrag" (Bahr) passierte den Deutschen Bundestag mit den Stimmen der GlossarCDU/GlossarCSU und trat – politisch überlagert von der Regierungskrise in Bonn und der Ankündigung vorgezogener Neuwahlen – am 17. Oktober 1972 in Kraft.

Zu diesem Zeitpunkt waren die Erörterungen über den Grundlagenvertrag bereits vorangeschritten. Schon am 15. Juni 1972 hatte Staatssekretär Kohl einen Entwurf mit dem Titel "Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland" übergeben; am 16. August war der Meinungsaustausch so weit gediehen, um offiziell in Verhandlungen übergehen zu können. Doch erschien die innenpolitische Durchsetzung des am 8. November in Bonn paraphierten Vertrages angesichts der in der Bundesrepublik für den 19. November anberaumten Bundestagswahlen vorübergehend als unsicher. Erst nach den Wahlen – aus denen die regierende sozial-liberale Koalition gestärkt hervorging – und der anschließenden Regierungsneubildung konnte der Grundlagenvertrag am 21. Dezember 1972 in Ost-Berlin von Bahr, inzwischen Bundesminister für besondere Aufgaben beim Bundeskanzler, und Kohl unterzeichnet werden. Die von der DDR in Anlehnung an die Verträge von Moskau und Warschau angestrebte Kurzbezeichnung "Berliner Vertrag" setzte sich indessen nicht durch.

Das Ergebnis war ein politischer Kompromiß, der frühere Abkommen und Verträge – insbesondere Bündnisverträge, die Deutschland betreffenden Viermächte-Vereinbarungen und -Beschlüsse sowie die Regelung im innerdeutschen Handel – ausdrücklich unangetastet ließ (Artikel 9). Kontroverse Sachverhalte wie die Staatsbürgerschaft oder Vermögensfragen blieben ausgeklammert. Die Präambel hob die unterschiedlichen Auffassungen zu grundsätzlichen Fragen, darunter die nationale Frage, ausdrücklich hervor. Doch erlaubte die Übereinkunft beiden Seiten, mit diesen Unterschieden zu leben, ohne die eigene Staatsräson aufgeben zu müssen. So äußerte Bundeskanzler Brandt am Tag der Unterzeichnung die Erwartung, der Grundlagenvertrag werde "die tiefen Gräben überwinden helfen zwischen den beiden deutschen Staaten und ihren Menschen". Er rechtfertigte den Vertrag als Kunst des Machbaren: "Nur so können wir in der heute gegebenen Lage die Nation bewahren."

Entscheidend war aus bundesdeutscher Sicht, daß der eigene Standpunkt im "Brief zur deutschen Einheit" nochmals dokumentiert und in Artikel 7 in Verbindung mit dem Zusatzprotokoll vereinbart war, die zwischenstaatliche Zusammenarbeit durch Folgeabkommen zu entwickeln. Damit verband sich die Hoffnung auf "menschliche Erleichterungen" z. B. in Fragen einer Liberalisierung des Reiseverkehrs und von Familienzusammenführungen. Zudem gelang es unter Hinweis auf die UNO-Charta, die Geltung des Selbstbestimmungsrechts und die Wahrung der Menschenrechte festzuschreiben (Artikel 2).

Dagegen war der Grundlagenvertrag für die DDR vor allem Ausdruck der Selbstbehauptung. Die Prinzipien der Gleichberechtigung (Artikel 1), des Gewaltverzichts, der Unverletzlichkeit der Grenzen und der territorialen Integrität (Artikel 3) sowie der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit in inneren und äußeren Angelegenheiten (Artikel 6) galten der Sicherung des eigenen sozialistischen Staatswesens und der Abwehr gesamtdeutscher Ansprüche. Der Vertrag, so Politbüromitglied GlossarGünter Mittag auf der 8. Tagung des Zentralkomitees der GlossarSED am 6. Dezember 1972, sei "ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Durchsetzung der Leninschen Politik der friedlichen Koexistenz von Staaten gegensätzlicher Gesellschaftsordnung" und schaffe "günstige äußere Bedingungen für die Weiterführung des sozialistischen Aufbaus". Mit der Verfassungsänderung vom 27. September 1974, durch die sämtliche Bezüge auf die deutsche Nation gestrichen wurden, setzte die DDR ihren Abgrenzungskurs weiter fort.

Nachdem der Grundlagenvertrag am 21. Juni 1973 in Kraft getreten war, dauerte es nahezu ein weiteres Jahr, bis die gemäß Artikel 8 zu errichtenden GlossarStändigen Vertretungen ihre Arbeit in Bonn und Ost-Berlin aufnehmen konnten. Hintergrund der Verzögerung war die GlossarNormenkontrollklage der Bayerischen Staatsregierung beim Bundesverfassungsgericht, welches mit Urteil vom 31. Juli 1973 (2 BvF 1/73) erklärte, der Grundlagenvertrag sei – in der sich aus der Urteilsbegründung ergebenden Auslegung – vereinbar mit dem GlossarGrundgesetz. Das höchstrichterliche Urteil legte den Interpretationsspielraum der Bundesregierung fest und hob hervor, daß die Verfassungsorgane der Bundesrepublik auf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands verpflichtet seien. Die Rechtstitel, die sich aus diesem im Grundgesetz verankerten Ziel ergeben würden, könnten nicht aufgehoben werden – eben auch nicht durch den Grundlagenvertrag. Diesen charakterisierten die Verfassungsrichter nur "seiner Art nach" als völkerrechtlich, seinem Inhalt nach aber als einen "Vertrag, der vor allem inter-se-Beziehungen regelt". Des weiteren qualifizierte das Gericht die Grenze zwischen Bundesrepublik und DDR, welche "auf dem Fundament des noch existierenden Staates 'Deutschland als Ganzes'" beständen, als staatsrechtliche Grenze "ähnlich denen, die zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland verlaufen".

Für die DDR war das Karlsruher Urteil ein Ärgernis, da es den Vertrag vor der internationalen Öffentlichkeit einseitig deutete. Doch sorgte es auch für Rechtssicherheit, indem es den Grundlagenvertrag bestätigte.

Schließlich begannen am 28. November 1973 Verhandlungen des Staatssekretärs im Bundeskanzleramt GlossarGünter Gaus mit dem stellvertretenden DDR-Außenminister GlossarKurt Nier über die Errichtung der Ständigen Vertretungen. Es mußten Fragen des Status, insbesondere der Bezeichnung, der Akkreditierung der Leiter und der Anwendung des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen von 1961 gelöst werden, bevor am 14. März 1974 das "Protokoll zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der DDR über die Errichtung der Ständigen Vertretungen" unterzeichnet werden konnte. Es trat am 2. Mai 1974 in Kraft, bereits überschattet von der Spionageaffäre GlossarGuillaume, die Brandt vier Tage darauf zum Rücktritt veranlaßte.

Gerade vor dem Hintergrund dieser und späterer Belastungen im innerdeutschen Verhältnis blieb der auf unbegrenzte Zeit geschlossene Grundlagenvertrag ein Element der Stabilität. Diese vertragliche Stabilität war durchaus vielschichtig: Sie trug zur Festigung der DDR bei, garantierte aber zugleich beständige Verbindungen zwischen den Menschen im Osten und Westen Deutschlands. Obgleich die DDR ihre Politik der ideologisch-gesellschaftlichen Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik fortführte, setzte der Grundlagenvertrag einen verbindlichen Mindeststandard in den zwischenstaatlichen Beziehungen durch.

Daniel Hofmann