Erklärung des Generalfeldmarschalls von Hindenburg vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuß ["Dolchstoßlegende"], 18. November 1919

Erklärung des Generalfeldmarschalls von Hindenburg vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuß, 18. November 1919

[...] Zeuge Generalfeldmarschall Glossarvon Hindenburg: Bevor ich diese Frage beantworte, bitte ich die Grundlage für unser ganzes Denken, Tun und Handeln während der Kriegszeit im folgenden Abriß hier verlesen zu dürfen, denn aus dieser Grundlage ist alles herausgewachsen, was wir getan haben. [...]

Ich gebe nur historische Daten, halte es aber für unbedingt notwendig, dass ich sie in kurzem Abriß den Herren ins Gedächtnis rufe.

Als wir in die Oberste Heeresleitung traten, war der Weltkrieg zwei Jahre im Fluß. Die Ereignisse nach dem 29. August 1916 lassen sich nicht losgelöst vor diesem Datum denken.

Der Krieg, der 1914 zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn einerseits und Rußland, Frankreich und Serbien, bald darauf England, Belgien und Japan andererseits begonnen hatte, hat an Ausdehnung zugenommen. 1915 griff Italien, 1916 Rumänien an der Seite unserer Gegner in den Kampf ein. Der Krieg hatte kein Beispiel mehr in der Geschichte. Die Räume dehnten sich ins Gigantische, die Truppenmassen erreichten ungeahnte Stärken, die Technik gewann eine vorherrschende Bedeutung. Krieg und Weltwirtschaft griffen ineinander über wie nie zuvor. Das zahlenmäßige Verhältnis der Streitkräfte an Maschinen, Munition und wirtschaftlichen Hilfsmitteln war für uns, und zwar von Anfang an, so ungünstig wie möglich. Niemals wog der Wert der Imponderabilien des Krieges, der moralischen Qualität der Truppen, der Anforderungen an die zentrale und lokale Führung so schwer, niemals endlich war die Leistung der Minderheit so ungeheuer wie in diesem Kriege. Diesem Grundcharakter des Krieges hatte die GlossarOberste Heeresleitung Rechnung zu tragen; auf ihm ruhte unsere unablässige Arbeit. Getragen von der Liebe zum Vaterlande, kannten wir nur ein Ziel: Das Deutsche Reich und das deutsche Volk, soweit Menschenkraft und militärische Mittel es vermochten, vor Schaden zu bewahren und es militärischerseits einem guten Frieden entgegenzuführen. Um diese gewaltige Aufgabe unten den schwierigsten Bedingungen durchzuführen, mussten wir den unerschütterlichen Willen zum Siege haben. Dieser Wille zum Siege aber war unlöslich gebunden an den Glauben an unser gutes Recht. Dabei waren wir uns bewußt, dass wir in dem ungleichen Kampfe unterlegen mussten, wenn nicht die gesamte Kraft der Heimat für den Sieg auf dem Schlachtfelde eingestellt wurde und die moralischen Kräfte des Heeres nicht dauernd aus der Heimat erneuert wurden. Der Wille zum Siege erschien natürlich nicht als eine Frage persönlicher Entschlossenheit, sondern als Ausfluß des Volkswillens. Hätten wir den Willen zum Siege nicht gehabt oder hätten wir ihn nicht beim Volke als selbstverständlich angesehen, so hätten wir das schwere Amt nicht übernommen. Ein General, der seinem Lande nicht den Sieg erstreiten will, darf kein Kommando übernehmen oder doch nur mit dem gleichzeitigen Auftrag, zu kapitulieren. Solchen Auftrag haben wir nicht erhalten. Wir hätten bei solchem Auftrag auch die Übernahme der Obersten Heeresleitung abgelehnt.

Der deutsche Generalstab ist in den Lehren des großen Kriegsphilosophen GlossarClausewitz erzogen. Wir sehen demgemäß den Krieg immer nur als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln an, nämlich mit militärischen. Unsere Friedenspolitik hatte versagt. Wir wollten keinen Krieg und bekamen doch den größten – [...] doch den größten, schwersten und unerbittlichsten, den die Geschichte je gesehen. Woran das gelegen hat, möge diese entscheiden. Ich weiß nur das eine mit absoluter Gewissheit: das deutsche Volk wollte den Krieg nicht, der deutsche Kaiser wollte ihn nicht, die Regierung wollte ihn nicht, der Generalstab erst recht nicht, denn er kannte besser als sonst jemand unsere unendlich schwierige Lage in einem Kriege gegen die Entente. Daß die militärischen Zentralbehörden sich auf die Möglichkeit eines etwa unvermeidlichen Krieges vorbereiteten, war gewiß doch nur ihre Pflicht gegenüber dem Volke. Dazu waren sie da, und ebenso waren sie verpflichtet, im Falle der Unvermeidlichkeit eines Krieges und im Kriege selbst alle günstigen Chancen auszunutzen.

Wir faßten es als unsere vornehmste Aufgabe auf, den Krieg mit den militärischen Mitteln so schnell wie möglich und so günstig wie möglich zu beenden, um der Reichsleitung, sobald es irgend ging, es zu ermöglichen, die Geschicke des Landes wieder mit den normalen, friedlichen Mitteln der Politik zu bestimmen. Diese Auffassung ist natürlich; sie war maßgebend für die Führung des Krieges und bedarf keiner Erörterung. Im Weltkriege kam die Erkenntnis hinzu, die uns nicht eine Stunde verlassen hat, daß das Übergewicht der Feinde an lebendem und totem Kriegsmaterial so groß war, daß die Verluste an allen Werten ein solch beispielloses Ausmaß gewinnen mußten, auch bei relativ günstigem Kriegsausgange, daß diese Schwächung einem unglücklichen Kriegsausgang gleichkam. Wenn schon die Liebe zum Vaterlande und zum Volke uns zwang, den Krieg möglichst schnell zu beenden, so wurde dieser Zwang durch den oben angegebenen Grund noch verstärkt.

Wir wußten, was wir vom Heere, der oberen und niederen Führung, nicht zuletzt von dem Mann im feldgrauen Rock zu fordern hatten, und was sie alle geleistet haben. Aber trotz der ungeheuren Ansprüche an Truppen und Führung, trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit des Feindes konnten wir den ungleichen Kampf zu einem günstigen Ende führen, wenn die geschlossene und einheitliche Zusammenwirkung von Heer und Heimat eingetreten wäre. Darin hatten wir das Mittel zum Siege der deutschen Sache gesehen, den zu erreichen wir den festen Willen hatten.

Doch was geschah nun? Während sich beim Feinde trotz seiner Überlegenheit an lebendem und totem Material alle Parteien, alle Schichten der Bevölkerung in dem Willen zum Siege immer fester zusammenschlossen, und zwar um so mehr, je schwieriger ihre Lage wurde, machten sich bei uns, wo dieser Zusammenschluß bei unserer Unterlegenheit viel notwendiger war, Parteiinteressen breit, [...] und diese Umstände führten sehr bald zu einer Spaltung und Lockerung des Siegeswillens. [...]

Die Geschichte wird über das, was ich hier nicht weiter ausführen darf, das endgültige Urteil sprechen. Damals hofften wir noch, daß der Wille zum Siege alles andere beherrschen würde. Als wir unser Amt übernahmen, stellten wir bei der Reichsleitung eine Reihe von Anträgen, die den Zweck hatten, alle nationalen Kräfte zur schnellen und günstigen Kriegsentscheidung zusammenzufassen; sie zeigten der Reichsleitung zugleich ihre riesengroßen Aufgaben. Was aber schließlich, zum Teil wieder durch Einwirkung der Parteien, aus unseren Anträgen geworden ist, ist bekannt. Ich wollte kraftvolle und freudige Mitarbeit, und bekam Versagen und Schwäche. [...]

Die Sorge, ob die Heimat fest genug bliebe, bis der Krieg gewonnen sei, hat uns von diesem Augenblicke an nie mehr verlassen. Wir erhoben noch oft unsere warnende Stimme bei der Reichsregierung. In dieser Zeit setzte die heimliche planmäßige Zersetzung von Flotte und Heer als Fortsetzung ähnlicher Erscheinungen im Frieden ein. Die Wirkungen dieser Bestrebungen waren der Obersten Heeresleitung während des letzten Kriegsjahres nicht verborgen geblieben. Die braven Truppen, die sich von der revolutionären Zermürbung freihielten, hatten unter dem pflichtwidrigen Verhalten der revolutionären Kameraden schwer zu leiden; sie mußten die ganze Last des Kampfes tragen. [...]

Die Absichten der Führung konnten nicht mehr zur Ausführung gebracht werden. Unsere wiederholten Anträge auf strenge Zucht und strenge Gesetzgebung wurden nicht erfüllt. So mußten unsere Operationen mißlingen, es mußte der Zusammenbruch kommen; die Revolution bildete nur den Schlußstein. [...] Ein englischer General sagte mit Recht: „Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.“ Den guten Kern des Heeres trifft keine Schuld. Seine Leistung ist ebenso bewunderungswürdig wie die des Offizierkorps. Wo die Schuld liegt, ist klar erwiesen. Bedurfte es noch eines Beweises, so liegt er in dem angeführten Ausspruche des englischen Generals und in dem maßlosen Erstaunen unserer Feinde über ihren Sieg.

Das ist die große Linie der tragischen Entwicklung des Krieges für Deutschland nach einer Reihe so glänzender, nie dagewesener Erfolge an zahlreichen Fronten, nach einer Leistung von Heer und Volk, für die kein Lob groß genug ist. Diese große Linie mußte festgelegt werden, damit die militärischen Maßnahmen, die wir zu vertreten haben, richtig bewertet werden können.

Im übrigen erkläre ich, daß General GlossarLudendorff und ich bei allen großen Entscheidungen die gleiche Auffassung gehabt und in voller Übereinstimmung gearbeitet haben. Wir haben Sorge und Verantwortung gemeinschaftlich getragen. Wir vertreten somit auch hier Hand in Hand die Auffassungen und Handlungen der Obersten Heeresleitung seit dem 29. August 1916. [...]

Hier nach: Stenographischer Bericht über die öffentlichen Verhandlungen des Untersuchungsausschusses, Berlin 1919, S. 727-732.