Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 5/1945 und Nr. 33/1945 [Beneš-Dekrete], 19. Mai und 2. August 1945

Einleitung

Wenn in deutsch-tschechischen Debatten von "den" Beneš-Dekreten die Rede ist, geht es meist nicht um sämtliche 143 Verordnungen, die Staatspräsident Edvard Beneš nach der "Zerschlagung" der Tschechoslowakei durch Hitler-Deutschland im Londoner Exil ab 1940 und vor allem nach Kriegsende in Prag bis zum Zusammentritt der provisorischen Nationalversammlung am 28. Oktober 1945 erlassen hat. Insofern der Regelungsbereich der Präsidialdekrete in den meisten Fällen allgemein politische, soziale oder ökonomische Themen – wie etwa die Verstaatlichung der Schwerindustrie – erfaßte, trifft die Bewertung tschechischer Historiker zweifellos zu, daß die "Notstandsgesetzgebung" Benešs gleichsam die Brücke zwischen der ersten und der zweiten tschechoslowakischen Republik bildete.

Im Mittelpunkt des Interesses der bundesdeutschen Öffentlichkeit jedoch stehen jene, je nach Deutung, bis zu 13 national diskriminierenden Erlasse über Ausbürgerung, Vermögenskonfiskation und Bestrafung der deutschen und ungarischen Bevölkerungsgruppen in der ČSR sowie schließlich das sogenannte Straffreistellungsgesetz vom 8. Mai 1946. Dieses Gesetz erklärte "Handlungen, die mit dem Kampf um die Wiedergewinnung der Freiheit der Tschechen und Slowaken zusammenhängen" – darunter auch Verbrechen gegen Angehörige der deutschen Minderheit 1945 – für straffrei. Es ist aber nicht mehr Teil der Beneš-Dekrete selbst.

Diese 13 bis heute umstrittenen Dekrete stehen so eindeutig im Kontext der Vertreibung, daß sie nur vor dem Hintergrund der tschechoslowakischen Politik gegenüber den Deutschen in den böhmischen Ländern 1945/46 und vor allem der grundsätzlichen Haltung Benešs sinnvoll zu diskutieren sind – auch wenn die Zwangsaussiedlung selbst gar nicht explizit Gegenstand der Dekrete gewesen ist. Eine entsprechende Verfügung wurde zwar im englischen Exil geplant, trat aber infolge einer britischen Intervention nicht in Kraft.

Bis heute wird teilweise als Argument für Legalität und Legitimität des national diskriminierenden Teils der Dekrete angeführt, die alliierten Siegermächte trügen die entscheidende Verantwortung für den "Transfer" der Deutschen, der von Prag – ebenso wie von Warschau und Budapest – im Sinne des Potsdamer Beschlusses der "Großen Drei" vom 2. August 1945 lediglich exekutiert worden sei. Allerdings war Beneš bereits in den krisenhaften Wochen vor dem Münchner Abkommen 1938 unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Sudetenpolitik zu der Überzeugung gelangt, die Zahl der Deutschen müsse um der politischen Stabilität der ČSR willen deutlich reduziert werden. In einem Frankreich vorgelegten Geheimplan vom 17. September 1938, dem sogenannten "Fünften Plan", sprach er davon, die ČSR könne lediglich 1 bis 1,2 Millionen Deutsche beheimaten – und assimilieren. Gleichzeitig erklärte sich Beneš bereit, Gebiete in West- und Nordböhmen und im alten Österreichisch-Schlesien mit einer Bevölkerung von bis zu 900 000 Deutschen an das "Dritte Reich" abzutreten, wenn dieses im Gegenzug rund eine Million Deutsche aufnähme.

Als Präsident der tschechoslowakischen Exilregierung in London hat Beneš dann in Fortentwicklung des "Fünften Planes" zunächst dafür plädiert, die Zahl der Sudetendeutschen in der ČSR künftig um etwa die Hälfte zu reduzieren. Bei der Zwangsausweisung sollten individuelle Schuldkriterien zugrunde gelegt werden. Vertreter des britischen Foreign Office machten dagegen in internen Gesprächen (1942) geltend, daß die Orientierung an einem schwer zu objektivierenden Schuldkriterium den Umfang des anzustrebenden Bevölkerungstransfers beeinträchtigen müsse; zur Stabilisierung der Nachkriegstschechoslowakei sei die Aussiedlung von zwei Dritteln der sudetendeutschen Volksgruppe erforderlich. In den kommenden Jahren hat die Exilregierung ihre Vertreibungspläne entsprechend verschärft, etwa im 10-Punkte-Plan Benešs vom November 1943. Über den Kreis der unbestrittenen Exponenten und Nutznießer des NS-Regimes einschließlich der Altfunktionäre der Sudetendeutschen Partei hinaus wurden auch Angehörige gesellschaftlicher Eliten (Juristen, Ingenieure, Lehrer), die nicht unbedingt aktiv an der staatsfeindlichen Tätigkeit gegen die Tschechoslowakei beteiligt waren, zu Objekten einer künftigen Vertreibung erklärt.

Es trifft also zu, daß die von Beneš 1938 entwickelten Pläne, durch "nationale Entflechtung" die Grundlagen einer stabilen Nachkriegsordnung zu legen, nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auf britischer (und auch auf amerikanischer) Seite aufgegriffen und zunächst sogar verschärft wurden. Angesichts der Entwicklung des Krieges und der Gräuel der NS-Besatzungspolitik gab es wenig Skrupel, den Deutschen das in der Atlantik-Charta vom August 1941 eben erst wieder bekräftigte Selbstbestimmungsrecht der Völker vorzuenthalten. Die bedeutende Rolle auch der westlichen Alliierten für die Politik der Vertreibung ist somit nicht zu übersehen. Im Artikel XIII des Potsdamer Protokolls vom 2. August 1945 erteilten sie ausdrücklich ihre Zustimmung zur "Überführung der deutschen Bevölkerung oder von Bestandteilen derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland".

Allerdings verfügte das Protokoll nicht nur eine "ordnungsgemäße und humane" Durchführung der Maßnahmen, sondern es enthielt auch die Forderung, die Ausweisung der deutschen Bevölkerung solange einzustellen, bis der Alliierte Kontrollrat das Problem geprüft habe. Zwei Monate nach der Potsdamer Konferenz stellte US-Außenminister James F. Byrnes in einem Telegramm an den amerikanischen Botschafter in Prag noch einmal klar, daß seine Regierung mit dem Beschluß nicht beabsichtigt habe, zu unterschiedslosen und ungeregelten Vertreibungen anzuregen. Im Fall des Sudetenlands war man davon ausgegangen, daß mindestens 800 000 "Nazigegner" von der Vertreibung ausgenommen werden würden.

Der historische Befund ist somit klar: Die westlichen Alliierten hatten ihre Zustimmung zur Zwangsaussiedlung der Deutschen zwar vom Grundsatz her gegeben; nicht aber zu diesem Umfang und vor allem auch nicht zu der inhumanen Art und Weise, in der sie dann durchgeführt wurde.

Die organisierte Vertreibung hatte zudem gleich nach Kriegsende, lange vor dem Beginn der Potsdamer Konferenz am 17. Juli 1945, eingesetzt. Diese irreführenderweise "wilde Vertreibungen" genannten Zwangsmaßnahmen durch "Nationalausschüsse", "revolutionäre" Milizen oder Polizei waren tatsächlich nur selten spontaner Ausdruck des "Volkszorns". Sie waren vielmehr staatlich gelenkte Aktionen mit dem Ziel, vor Potsdam unumkehrbare Fakten zu schaffen und einem – zu Recht erwarteten – Nachlassen der (west-)alliierten Bereitschaft zur Vertreibung entgegenzuwirken. Einer wenige Wochen nach Kriegsende ergehenden Direktive des tschechoslowakischen Innenministers gemäß mußten grundsätzlich alle Personen ausgesiedelt werden, die sich bei der Volkszählung von 1930 (!) zur deutschen Nationalität bekannt hatten. Der Durchführung der "wilden Vertreibungen" voraus gingen offenbar meist nur mündliche Übereinkünfte zwischen lokalen tschechoslowakischen Behörden und untergeordneten russischen Militärbefehlshabern jenseits der tschechisch-sächsischen Grenze in der SBZ, während im amerikanisch befreiten Teil der ČSR derartige Aktionen bezeichnenderweise unterblieben. Ca. 450 000 Deutsche wurden bereits in diesem Zeitraum aus der Tschechoslowakei vertrieben.

Vor dem Potsdamer Beschluß sind auch die ersten jener umstrittenen Beneš-Dekrete erlassen worden, die im Zusammenhang mit dem Vertreibungsgeschehen stehen. So verfügte bereits das auf den 19. Mai 1945 datierende Präsidialdekret Nr. 5 vermögensrechtliche Einschränkungen gegen "Deutsche, Magyaren, Verräter und Kollaborateure", die faktisch eine Enteignung bedeuteten. Das Dekret Nr. 12 vom 21. Juni 1945 ordnete im Bereich des landwirtschaftlichen Vermögens die sofortige entschädigungslose Enteignung "aller Personen deutscher und magyarischer Nationalität, ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit" an. Es richtete sich also, wie Tomáš Stanek es ausgedrückt hat, "de facto allein gegen eine bestimmte Gruppe von Staatsbürgern alleine wegen ihrer Volkszugehörigkeit". Aus dem radikalen Enteignungsgesetz klang die Sprache der Revolution, aber es wandte sich – noch – nicht im kommunistischen Sinne gegen den Klassenfeind, sondern entsprang dem Geist eines extremen Nationalismus. Auch wenn spätere Dekrete zur Ausbürgerung von Staatsbürgern deutscher und ungarischer Nationalität (Nr. 33) oder zur Konfiskation ihres Vermögens (Nr. 108) erst am 2. August 1945 bzw. am 25. Oktober 1945, also nach dem Potsdamer Beschluß, erlassen wurden, kann die machtpolitisch entscheidende Rolle der Siegermächte bei der Zwangsaussiedlung der Deutschen nicht über die Mitverantwortung der Machthaber in Prag für die – bereits vor Potsdam einsetzende – Vertreibungspolitik hinwegtäuschen.

Das tschechische Interesse am sogenannten "Abschub" (Odsun) der Deutschen hatte eine Reihe von Gründen. Zum einen warf man den Sudetendeutschen vor, in der Zeit vor dem Münchner Abkommen 1938 als Hitlers "Fünfte Kolonne" agiert und sich nahezu kollektiv der Illoyalität gegenüber dem tschechoslowakischen Staat schuldig gemacht zu haben. Hinzu kamen die traumatischen Erfahrungen des Münchner Abkommens selbst sowie der Jahre unter nationalsozialistischer Besatzungsherrschaft. Die rassistischen Pläne Berlins zur "Entvolkung" des tschechischen Siedlungsgebietes wurden zwar nicht realisiert, und der Besatzungsterror in Böhmen und Mähren nahm "keine so ausgeprägte Form" wie etwa in Polen an (Václav Kural), doch erreichte er vor allem unter dem stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich und in den Racheaktionen nach dessen Tod 1942 allemal Dimensionen, die historisch erklärbar machen, weshalb Beneš 1945 die Auffassung vertreten konnte: "Das deutsche Volk hat in diesem Krieg aufgehört menschlich zu sein, menschlich erträglich zu sein." [Beneš, Rede in Brünn, 12. Mai 1945, zit. nach Brandes, Der Weg zur Vertreibung, S. 377.] Da der Staatspräsident sämtliche Brücken zwischen beiden Völkern durch die deutsche Seite für immer niedergerissen sah, erklärte er ein weiteres Zusammenleben in der Zukunft für unmöglich.

Beneš selbst hat indes gleichzeitig zu verstehen gegeben, daß dem Ziel, das "deutsche Problem" in der tschechoslowakischen Republik definitiv zu lösen, nicht ausschließlich Erfahrungen mit der NS-Diktatur zu Grunde lagen, sondern historisch tiefer liegende Motive des Nationalitätenkonflikts ebenfalls eine Rolle spielten: "Erinnert Euch dessen, was uns durch die Germanisierung über diese ganzen Jahrhunderte seit der Hussitenzeit geschehen ist ..." [Lidová Democracie, 17. Juni 1945]. Ministerpräsident Zdeněk Fierlinger sprach im Mai 1945 gar von einem "deutschen Problem", das die Tschechen schon tausend Jahre lang bedrückt habe und nun ein- für allemal gelöst werden könne und müsse. Tatsächlich war das Jahrhunderte lange deutsch-tschechische Zusammenleben in den böhmischen Ländern bei weitem nicht so schlecht gewesen, wie es jetzt gemacht wurde, doch die kurz zurückliegenden traumatischen Erfahrungen überschatteten am Ende des Weltkrieges alles.

In der späteren Debatte um die national diskriminierenden Bestimmungen der Beneš-Dekrete, die im Vorfeld des tschechischen EU-Beitritts besonders intensiv geführt wurde, hat das Prager Parlament in einer Resolution vom April 2002 die Parallelen zur Nachkriegsgesetzgebung westlicher Staaten unterstrichen. Doch sind diese wohl eher formaler Art. Anders als in den westlichen Staaten 1945 hatte die in den Beneš-Dekreten normierte politische Säuberung in Form der Enteignung "feindlichen Vermögens" oder individueller strafrechtlicher Verfolgung von Nazi-Kollaborateuren (Dekret Nr. 16) letztlich nur eine untergeordnete, teilweise instrumentell wirkende Funktion im größeren Gesamtprozeß einer faktisch "ethnischen Säuberung".

Manfred Kittel