Adolf Hitler, Erklärung der Reichsregierung vor dem Deutschen Reichstag, 1. September 1939

Einleitung

Der 1. September 1939 markiert den Beginn des Zweiten Weltkriegs und somit einen Wendepunkt nicht nur der deutschen, sondern auch der Weltgeschichte. An diesem Tag hielt Adolf Hitler ab 10:10 Uhr vor dem versammelten deutschen Reichstag eine etwa halbstündige Rede, in der er die Beweggründe näher erläuterte, die ihn angeblich zu dem Entschluss geführt hätten, Deutschlands östlichen Nachbarn Polen anzugreifen. Die deutsche Öffentlichkeit stand noch unmittelbar unter dem Eindruck der Ereignisse, denn der Einmarsch hatte erst in den frühen Morgenstunden (um 4:45 Uhr) begonnen. Um 6:00 Uhr, 7:00 Uhr, 8:00 Uhr und 10:00 Uhr wurde bereits eine "Proklamation an die Wehrmacht" auch als Sondermeldung über den deutschen Rundfunk verbreitet, die die Argumentation der Reichstagsrede vorwegnahm, indem Polen darin als der eigentliche Aggressor dargestellt wurde (Krzoska, S. 241).

Die Rede selbst, die im Original als Tonaufzeichnung überliefert ist, wurde von Hitler frei gehalten und anschließend in bereinigter Form gedruckt. Der Rede vorangegangen waren mehrere – letztendlich gescheiterte – Versuche der deutschen Seite, die Verantwortung für den von langer Hand geplanten Überfall Polen zuzuschieben. Auch wenn die Ansprache im deutschen Radio übertragen und noch im selben Jahr von der Deutschen Informationsstelle in Berlin in mehreren Sprachen (darunter neben Deutsch auch Englisch, Niederländisch und Spanisch) veröffentlicht wurde – innerhalb der Führung des Dritten Reiches dürfte man sich über eine etwaige außenpolitische Wirkung kaum Illusionen gemacht haben. Tatsächlich erklärten am 3. September 1939 England und Frankreich Deutschland den Krieg. Schon die Ufa-Tonwoche vom 7. September 1939 verzichtete auf Originalaufnahmen der Rede und kommentierte nur lapidar: "Am Tage der Danziger Freiheitskundgebung hatte der Führer die Männer des deutschen Reichstags einberufen. Vor aller Welt verkündete er, dass er zwei Tage vergeblich auf einen polnischen Unterhändler zur Besprechung der deutschen Vermittlungsvorschläge gewartet habe und nun deutsche Kanonen auf alle polnischen Angriffe antworten würden." Somit erscheint die Ansprache Hitlers und deren anschließende Veröffentlichung eher als eine trotzige Unterstreichung der deutschen Haltung zur Kriegsschuld denn als ein ernst gemeinter Versuch, die Weltöffentlichkeit von ebendieser Haltung zu überzeugen. Die Ausweitung des Krieges zum Weltkrieg, die seit dem Kriegseintritt der Westmächte bereits vorbestimmt war, sowie die deutschen militärischen Erfolge der Jahre 1939/40 bewirkten, dass die Reichstagsansprache vom 1. September 1939 schnell von den Tagesereignissen überholt wurde. Erst nach Kriegsende sollten Auszüge der Ansprache zu später Berühmtheit gelangen: Die Passage "Seit 5 Uhr 45 [irrtümlich statt 4:45 Uhr] wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!" gehört heute – allerdings zumeist losgelöst vom historischen Kontext der Ansprache – zu den weltweit bekanntesten Hitler-Zitaten.

In seiner Ansprache stellte Hitler das deutsche Vorgehen gegen Polen nicht als Angriff, sondern als Verteidigung dar. Alle Revisionen der im Versailler Vertrag von 1918 festgelegten deutschen Gebietsverluste seien bisher auf dem Verhandlungswege erfolgt. In Wirklichkeit hatte erst der Einmarsch deutscher Truppen in die "Rest-Tschechei" im März 1939 dazu geführt, dass Polen den seit 1934 bestehenden Nichtangriffspakt mit Deutschland aufkündigte und – um einem ähnlichen Schicksal vorzubeugen – die Teilmobilmachung ausrief. Diese Maßnahme war alles andere als unbegründet. Während Hitler noch am 1. September 1939 vor dem Reichstag beteuerte, es ginge ihm lediglich um die Sicherung der bestehenden deutschen Grenze zu Polen, hatte er bereits im Mai 1939 vor höheren Militärs ausgeführt: "Weitere Erfolge können ohne Blutvergießen nicht errungen werden. Die Grenzziehung ist von militärischer Wichtigkeit. […] Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der Ernährung."

Polen, so führte Hitler am 1. September 1939 weiter aus, habe sich den deutschen Vorschlägen zur Beilegung der Krise gegenüber nicht verhandlungsbereit gezeigt und statt dessen die Generalmobilmachung ausgerufen. In Wirklichkeit hatte Hitler den Angriffsbefehl auf Polen bereits am 25. August 1939 heimlich gegeben und aus außenpolitischen Erwägungen erst in letzter Minute wieder zurückgenommen. Die polnische Generalmobilmachung erfolgte dagegen auf Drängen Englands und Frankreichs nicht wie geplant am 30., sondern am 31. August 1939, und somit viel zu spät, um den bereits seit Monaten vorbereiteten deutschen Angriff noch erfolgreich abzuwehren.

An einer Einigung mit Polen war Hitler ohnehin schon lange nicht mehr gelegen. Die deutsche Taktik zur angeblich "friedlichen" Revision der im Zuge des Ersten Weltkrieges erlittenen Gebietsverluste folgte im Falle Polens dem Muster politischer Erpressung, wie es bereits im Falle der "Rest-Tschechei" zu beobachten gewesen war: Unmittelbar vor der Besetzung waren der tschechische Staatschef und Außenminister nach Berlin zitiert und vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Es blieb ihnen nur noch übrig, ihre Landsleute vom Widerstand abzuhalten, um eine verheerende Niederlage gegen die sich bereits in Stellung befindlichen deutschen Truppen abzuwehren. Einem polnischen Unterhändler, auf den man laut Hitler ungeduldig gewartet habe, wäre es kaum anders ergangen, zumal das Dritte Reich zu diesem Zeitpunkt bereits – wie Hitler vor dem Reichstag wortreich ausführte – einen mächtigen Verbündeten besaß: Eine Woche zuvor hatten der deutsche und der sowjetische Außenminister einen Pakt geschlossen (Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, 23. August 1939, auch "Hitler-Stalin-Pakt"), dessen geheimes Zusatzprotokoll die Aufteilung des polnischen Staatsgebietes zwischen der Sowjetunion und dem Dritten Reich vorsah. Dementsprechend war das Schicksal Polens bereits besiegelt, als von deutscher Seite noch Verhandlungsbereitschaft vorgespiegelt wurde. Hitlers Generalstabschef Franz Halder notierte am 29. August 1939 zu den Aussichten deutsch-polnischer Gespräche: "30.8. Polen in Berlin. 31.8. Zerplatzen [der Verhandlungen]. 1.9. Gewaltanwendung."

Hitlers aus außenpolitischem Kalkül eingegangene Koalition mit dem ideologischen Erzfeind Josef Stalin hatte in der deutschen Bevölkerung für erhebliche Irritationen gesorgt. Daher nutzte Hitler die Ansprache zugleich dazu, hier scheinbar Klarheit zu schaffen: Das Bündnis mit der Sowjetunion beschrieb er als eine Art Vernunftsehe, die dazu diene, den Gegnern Deutschlands und Russlands nicht in die Hände zu arbeiten, und die "für alle Zukunft jede Gewaltanwendung" zwischen beiden Staaten ausschließe. Zugleich beteuerte er, dass "die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland eine endgültige" sei. Den Zeitgenossen waren die Schrecken des Ersten Weltkriegs noch lebhaft im Gedächtnis, und die Furcht vor einem erneuten Weltkrieg war daher in Deutschland groß. Hitler lag zu diesem Zeitpunkt viel daran, den Angriff auf Polen nicht als möglichen Auftakt eines militärischen Waffengangs dieser Größenordnung erscheinen zu lassen und die Westmächte von einem Kriegseintritt abzuhalten. Im Winter 1939/40 beauftragte er jedoch die Wehrmachtführung mit der Vorbereitung eines Krieges gegen Frankreich, im Frühjahr 1941 mit der Vorbereitung eines Krieges gegen die Sowjetunion.

Wie bereits erwähnt sollten auch die scheinbar moderaten Ziele, die Hitler im Zusammenhang mit dem Überfall auf Polen formulierte (Anschluss der Freien Stadt Danzig an das Deutsche Reich, Bau einer Autobahnverbindung durch den sogenannten polnischen "Korridor", der Ostpreußen vom übrigen Reichsgebiet abschnitt, friedliches Zusammenleben mit Polen), lediglich die tatsächlichen Planungen zur Erweiterung des deutschen "Lebensraums" im Osten verschleiern. Konkreter sollte er erst in der nächsten Reichstagssitzung am 6. Oktober 1939 unter dem Eindruck des gerade gewonnen Krieges gegen Polen werden. Hier sprach Hitler sein ideologisches Programm zu einer Neuordnung Europas offen an: Aus einem angeblich begrenzten Konflikt mit Polen war innerhalb eines Monats der Ausbau einer deutschen Vormachtstellung auf dem Kontinent geworden. Grundlage seiner Herrschaftsphilosophie war nunmehr auch offen "ein umfassendes völkisch-rassisches Neuordnungskonzept, das mittels Vertreibungen, Deportationen und Völkermord Siedlungsgebiete für 'arische' Deutsche schaffen sollte." Hitler sprach nun "konsequent nicht mehr nur von der 'Ordnung des gesamten Lebensraums nach Nationalitäten', sondern auch von einer 'Ordnung und Regelung des jüdischen Problems'" (Wildt, Absatz 3). Diese Vorstellungen standen ganz im Einklang mit Hitlers ideologischen Überzeugungen, wie er sie bereits in seinem Buch "Mein Kampf" und seinem sogenannten "Zweiten Buch" in der Weimarer Kampfzeit formuliert, als Staatsoberhaupt in den 1930er Jahren aber nur hinter verschlossenen Türen geäußert hatte. Am 1. September 1939, zu Beginn des Krieges gegen Polen mit noch ungewissem Ausgang, schwieg sich Hitler wohlweislich über diese weiter gesteckten Ziele aus.

Zur Verwirklichung seines militärischen und ideologischen Programmes hatte Hitler die Spitzen von Militär und Polizei hinter sich bringen können. Bereits vor dem Überfall auf Polen wurden die deutschen Nachrichtendienste – der polizeiliche Sicherheitsdienst (SD) und die militärischen Abwehr – auf polnischem Staatsgebiet tätig, um Angehörige der deutschen Minderheit – sogenannte "Volksdeutsche" – für Sabotageakte gegen polnische Einrichtungen anzuleiten. Diese vermehrte Agententätigkeit führte tatsächlich neben der allgemein steigenden Nervosität in den deutsch-polnischen Beziehungen im Sommer 1939 zu einer verstärkten Verfolgung von "Volksdeutschen" durch polnische staatliche Behörden, auf die Hitler in seiner Ansprache Bezug nahm. Allerdings hatte das deutsche Auswärtige Amt bereits Monate vor dem Ausbruch der Kampfhandlungen die verantwortlichen deutschen Stellen dringend davor gewarnt, die deutsche Minderheit in Polen durch solcherart Anwerbungen aus ihren Reihen in Gefahr zu bringen und ein Ende dieser Maßnahmen gefordert. Obwohl sich schätzungsweise nur 10.000 "volksdeutsche" Männer – und somit etwa ein Prozent der deutschen Minderheit in Polen – für reichsdeutsche Zwecke rekrutieren ließen, trafen die polnischen Gegenmaßnahmen oftmals – wie Hitler zu Recht konstatierte – völlig Unbeteiligte. Den Höhepunkt erreichte die deutsche Spionage- und Agententätigkeit mit angeblichen Grenzverletzungen der Polen, die in Wirklichkeit von deutschen SD-Männern in der Nacht vom 31. August auf den 1. September 1939 durchgeführt wurden. Es waren ebendiese von Hitler selbst angeordneten Übergriffe – darunter der fingierte "Überfall" auf den deutschen Radiosender in Gleiwitz –, auf die er sich bezog, als er vor dem Reichstag ausführte, Polen hätte in der vorangegangenen Nacht wieder 14 Grenzzwischenfälle provoziert, "darunter drei ganz schwere." Nach Hitlers Reichstagsansprache fanden die Aktionen des SD, die aufgrund ihrer dilettantischen Durchführung propagandistisch nicht weiter ausgeschlachtet werden konnten, keine Erwähnung mehr.

Die Polizisten des SD allerdings, die an diesen Geheimkommandos teilgenommen hatten, gehörten während des deutschen Vormarsches in Polen zum Kader der "Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD", die im Auftrag Hitlers zehntausende Polen und Juden systematisch erschießen sollten. Der in der Reichstagsrede formulierte Grundsatz, die deutsche Seite werde nicht von sich aus zuerst Völkerrechtsverletzungen begehen, entsprach daher ebensowenig der Wirklichkeit wie die Feststellung, die Luftwaffe sei angewiesen worden, "sich bei den Angriffen auf militärische Ziele zu beschränken": Zu dem Zeitpunkt, als Hitler diese Worte äußerte, hatte das deutsche Bombardement auf die unverteidigte polnische Stadt Wieluń, das im Laufe des Tages mehrere hundert Zivilisten das Leben kostete – nur eines von vielen Kriegsverbrechen der deutschen Luftwaffe in Polen 1939 –, bereits begonnen (Volkmann).

Jochen Böhler