Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, 7. Oktober 1949

Einleitung

Nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands und der Übernahme der gesamten Hoheitsgewalt durch die Sieger- und Besatzungsmächte beschlossen diese auf der Potsdamer Konferenz im Juli/August 1945 in allen vier Besatzungszonen Deutschlands die Wiederherstellung demokratischer Zustände. Seit Sommer/Herbst 1945 begannen in den wieder zugelassenen deutschen Parteien auch Diskussionen über Probleme einer deutschen Verfassung. Infolge der Uneinigkeit der vier Besatzungsmächte über die "Behandlung Deutschlands" erfolgte die Verfassungsgebung zonal getrennt.

Im Juli 1946 beauftragte die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) in ihrer Besatzungszone die SED-Spitze einen Entwurf für eine neue "Reichsverfassung" auszuarbeiten. Die sowjetische Besatzungsmacht verfolgte mit dem Verfassungsentwurf das Ziel, ein Gegengewicht zu Föderalisierungsbestrebungen der Westalliierten in die Diskussion um Deutschlands Zukunft einzubringen. Die Sowjets wünschten auch eine verbindliche Verfassungsvorlage kommunistischen Zuschnitts für die bevorstehende Verfassungsgebung auf Länderebene in ihrer Zone. Zudem sollte die SED im Auftrag der SMAD als erste deutsche Partei ihren gesamtnationalen Gestaltungswillen zum Ausdruck bringen. Der "Reichsverfassungsentwurf" der SED lag im August 1946 vor. Den Auftrag zum Erstellen des Verfassungsentwurfs hatte die SED-Führung dem juristisch ausgebildeten Experten Karl Polak gegeben. Dieser hatte in den 1920er und Anfang der 1930er Jahre in Deutschland Rechtswissenschaften studiert und emigrierte von 1933 bis 1946 in die Sowjetunion. Dort war er an verschiedenen juristischen Instituten tätig. Polak kannte demnach das deutsche und das sowjetische Rechtssystem und besaß damit ideale Voraussetzungen, einen Verfassungsentwurf im Sinne von SED und SMAD auszuarbeiten. Karl Polak war die zentrale Figur bei der Erarbeitung der SED-Verfassungsentwürfe und späterer Mitautor der ersten DDR-Verfassung von 1949.

Der SED-Jurist Polak hatte für den gesamtdeutschen Verfassungsentwurf zentrale inhaltliche Vorgaben erhalten: 1. weitgehende Anlehnung an die Weimarer Reichsverfassung, 2. Bekenntnis zu Deutschland als zentralem Einheitsstaat mit dezentralisierter Verwaltung in den Ländern, 3. Festschreibung der "antifaschistisch-demokratischen Errungenschaften" und 4. Übernahme von sozialistischen Verfassungsvorstellungen (u. a. absolute Volkssouveränität, Gewalteneinheit, Wirtschaftsplanung). Polak sollte den "Reichsverfassungsentwurf" zudem so gestalten, dass auch sozialdemokratische und bürgerliche Kreise aller vier Zonen sowie die Alliierten den Text als halbwegs akzeptable Diskussionsgrundlage annehmen konnten. Aber die SED und die Sowjets verleugneten ihre kommunistischen Verfassungspositionen nicht. Am 16. November 1946 wurde im Zentralorgan der SED "Neues Deutschland" der "Entwurf einer Verfassung für die DEUTSCHE DEMOKRATISCHE REPUBLIK" publiziert und zur öffentlichen Diskussion gestellt.

Nachdem sich in den Jahren 1947 und Anfang 1948 herauskristallisierte, dass die vier alliierten Siegermächte keine Einigung über die künftige staatsrechtliche Gestaltung Deutschlands erzielen konnten, initiierte die SED im Dezember 1947 in Berlin im Auftrag der sowjetischen Besatzungsmacht eine Art Massenbewegung, genannt: "Volkskongress für Einheit und gerechten Frieden". Dieser Volkskongress war nicht aus Wahlen sondern über den undurchsichtigen Modus einer Delegierung hervorgegangen. Den Vertretern des Volkskongresses fehlten die demokratische Legitimation und die breite Zustimmung in der sowjetischen wie in den drei westlichen Zonen. Der Volkskongress wurde trotzdem auf Betreiben der SED und SMAD institutionalisiert. Der Zweite Volkskongress wählte am 18. März 1948 einen "Ersten Deutschen Volksrat", bestehend aus 400 Männern und Frauen. Dieser Volksrat richte sechs Fachausschüsse ein, darunter einen Verfassungsausschuss. Der Verfassungsausschuss bestand zunächst aus 30 Mitgliedern. Zu den wichtigen gehörten von Seiten der SED Otto Grotewohl und die Juristen Dr. Karl Polak und Dr. Karl Steinhoff, von der CDU Professor Hugo Hickmann und Georg Dertinger, von der LDP Johannes Dieckmann und der Jurist Dr. Hans Loch. Der Verfassungsausschuss bestimmte den SED-Ko-Vorsitzenden Otto Grotewohl zum Ausschussvorsitzenden, Stellvertreter wurde Dr. Reinhold Lobedanz von der CDU. Auf der 2. Sitzung des Verfassungsausschusses kooptierten die gewählten Mitglieder vier Experten, Juristen und Historiker in den Ausschuss hinzu – darunter Professor Dr. Peter Alfons Steiniger (SED), Dr. Dr. Helmut Brandt (CDU) und Dr. Karl Schultes (SED).

In zwölf Verfassungsausschuss-Sitzungen erstellten die Ausschussmitglieder den Entwurf für eine "Verfassung der deutschen demokratischen Republik", der als eine Synthese zwischen der Weimarer Verfassung, dem SED-Verfassungsentwurf vom November 1946 und den fünf Landesverfassungen der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) angesehen werden konnte. Sowohl für die Einheitssozialisten wie für die Christdemokraten und Liberalen war der Verfassungsentwurf ein Kompromiss. Den SED-Politikern ging er in ihren sozialistisch-kommunistischen Vorstellungen nicht weit genug. Aber sie mussten die Vorgaben der sowjetischen Besatzungsmacht einhalten, die bürgerlichen Parteien in den Verfassungsgebungsprozess einzubinden und die gesamtdeutsche Propaganda mit dem Verfassungsentwurf zu unterstützen. Die CDU- und LDP-Politiker ihrerseits nahmen angesichts der politischen Machtverhältnisse große Abstriche an ihren verfassungsrechtlichen Überzeugungen hin. Am 22. Oktober 1948 lag der vollständige Verfassungsentwurf dem "Deutschen Volksrat" in Ost-Berlin vor und wurde im Auftrag der SED zu einer Verfassungsdiskussion der Öffentlichkeit übergeben.

Parallel zur Verfassungsdiskussion in der SBZ begannen in den drei westlichen Besatzungszonen die Beratungen des Parlamentarischen Rates über ein Grundgesetz für den westdeutschen Staat. Der Verfassungsausschuss in Ost-Berlin verfolgte die Beratungen des Parlamentarischen Rates in Bonn aufmerksam, nahm aber keine Anregungen aus diesen Diskussionen für die eigene Arbeit auf. Am 23. Mai 1949 nahm der Parlamentarische Rat das "Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland" an. Zu diesem Zeitpunkt, im Mai 1949, wurde den Sowjets und der SED endgültig klar, dass die Verabschiedung des Grundgesetzes und die Bildung der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr aufzuhalten waren. Mit großem propagandistischem Aufwand hielten die SED und die anderen Blockparteien am 29./30. Mai 1949 den "Dritten Deutschen Volkskongress" ab, der einen "Zweiten Deutschen Volksrat" bestimmte. Dieser fasste den "Beschluss über die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik". Damit war die Verfassung bestätigt, aber noch nicht in Kraft gesetzt worden.

Die Verfassung umfasste drei Hauptteile – A. Grundlagen der Staatsgewalt, B. Inhalt und Grenzen der Staatsgewalt und C. Aufbau der Staatsgewalt – mit insgesamt 144 Artikel. In der Verfassung bekannte man sich einleitend zur Einheit der Nation – Artikel 1: "Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik;" –, zum Aufbau der Republik durch die Länder und zum Fundamentalsatz aller Demokratien – "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus". Alle gängigen Freiheits- und Grundrechte waren im Entwurf verankert. Sie wurden ergänzt durch soziale Rechte. Ein klarer Gleichheitsgrundsatz zwischen Mann und Frau wurde ausgesprochen, er erstreckte sich zudem auf die Gleichstellung der außerehelichen und ehelichen Mutter wie der Kinder. Im Abschnitt über die Wirtschaftsordnung wurden der Schutz des Eigentums und eine staatliche Wirtschaftslenkung kodifiziert. Alle Maßnahmen, die die Boden- und Industriereform in der SBZ gebracht hatten, waren im Verfassungsentwurf verankert worden. Der Verfassungsabschnitt über den Aufbau der Staatsgewalt erklärte das Parlament, die Volkskammer, "zum höchsten Organ der Staatsgewalt". Sowohl Parteien wie auch Organisationen erhielten das Recht, Wahlvorschläge einzureichen. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit war nicht vorgesehen, wohl aber die Einrichtung eines Verfassungsausschusses des Parlaments. Der Verfassungsentwurf beinhaltete die Rechte und die Stellung der Länderkammer, die in der Hauptsache ein aufschiebendes Einspruchsrecht bei Gesetzesvorlagen der Volkskammer ausüben konnte. Die Beziehungen der Zentralgewalt zu den Ländern wurden geregelt, die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Republik war im Vergleich zur konkurrierenden erweitert worden. Die Republik hatte zudem die Kompetenz-Kompetenz auf allen Gesetzgebungsgebieten lediglich mit der Einschränkung, dass sie sich bei ihrer Gesetzgebung auf die Aufstellung von Grundsätzen beschränken soll, soweit dadurch dem Bedürfnis einer einheitlichen Regelung Genüge geschieht. Die Wahl des Staatsoberhauptes, des Präsidenten der Republik, sollte durch die Volks- und Länderkammer erfolgen. Seine Funktionen waren ausschließlich repräsentativer Art. Die Abschnitte zur Rechtspflege entsprachen rechtsstaatlichen Prinzipien. Neu waren die Regelungen zur Wahl und Absetzbarkeit der Richter.

Der Verfassung wurde folgende Präambel vorangestellt: "Von dem Willen erfüllt, die Freiheit und die Rechte des Menschen zu verbürgen, das Gemeinschafts- und Wirtschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu gestalten, dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, die Freundschaft mit allen Völkern zu fördern und den Frieden zu sichern, hat sich das deutsche Volk diese Verfassung gegeben."1

Erst nachdem in den drei Westzonen im August 1949 Wahlen zum Deutschen Bundestag stattgefunden und sich die Bundesorgane (Bundesrat, Bundestag, Bundespräsident, Bundeskanzler) konstituiert hatten, erfolgte der "programmierte Nachvollzug" der Gründung des ostdeutschen Teilstaats DDR. Die aus dem "Deutschen Volksrat" hervorgegangene, nicht gewählte Provisorische Volkskammer verlieh am 7. Oktober 1949 der "Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik" Rechtskraft. Mit dem Aussetzen von "allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahlen" zur Volkskammer, die die Verfassung in Kraft setzen musste, sicherte sich die SED ihre Herrschaft. Dabei missachtete sie die Verfassungsartikel 51 bis 53, was einen eindeutigen Verfassungsbruch darstellte und ein Staatsstreich gegen die DDR-Verfassung war. Der DDR-Staat basierte von seiner Gründung an auf der prinzipiellen Missachtung des Volkswillens und breiter Teile seiner Verfassung.

Wirksames Verfassungsrecht wurden in der DDR die Verfahrensregeln aus dem organisatorischen Teil der Verfassung wie formale Bestimmungen über die Volks- und Länderkammer oder die Gesetzgebung. Des Weiteren wurden auch Teile materiellrechtlicher Vorschriften umgesetzt, z. B. die Abschnitte über die Gleichberechtigung der Frau, die Artikel über das Sozialversicherungs-, Schul- und Bildungswesen oder Bestimmungen über die Wirtschaftsordnung. Aber große und wichtige Teile der DDR-Verfassung traten nicht in Kraft. Das betraf alle Abschnitte, Artikel und Einzelbestimmungen, die die parlamentarisch-demokratischen und die rechtstaatlichen Elemente der Verfassung ausmachten. Dazu zählten u. a. die Grundsätze über die Wahlen und die Volkssouveränität, alle individuellen Schutz- und Freiheitsrechte sowie alle Rechtsschutz- und Rechtssicherheitsgarantien.

Die historische Entstehung, die Arbeit der Hauptakteure im Prozess der Verfassungsschöpfung und die rechtshistorische, politische Auslegung der ersten DDR-Verfassung sind weitgehend erforscht und dokumentiert. Zuletzt kamen Forschungen über einzelne rechts- bzw. verfassungsgeschichtliche Verfassungsorgane – z. B. die "Länderkammer" im Staatsgefüge der DDR – hinzu. Offen bleibt hingegen nach wie vor die Frage, warum die SED-Führung in den 40 Jahren ihrer Herrschaft viel politische Arbeit in die äußere Gestaltung von Verfassungsprinzipien, z. B. die regelmäßig stattfindenden Wahlen zur Volkskammer, und von Verfassungspropaganda investierte, aber in den wichtigsten Teilen die Verfassung immer missachtete.

Heike Amos

1 Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, 1949, S. 5-16, Präambel S. 6. [1]