Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen ["Warschauer Vertrag"], 7. Dezember 1970

Einleitung

Der "Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen" vom 7. Dezember 1970 war kein Dokument, das von einem Tag auf den anderen geschlossen wurde, sondern er war das Ergebnis zahlreicher mühsamer Verhandlungen. Im Zeitraum zwischen Februar und November 1970 fanden abwechselnd in Bonn und Warschau sieben Treffen zwischen Vertretern der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen statt, in deren Verlauf die zukünftige Gestalt der bilateralen Beziehungen besprochen wurde. Während dieser sieben Gesprächsrunden traten auf Seiten der deutschen wie der polnischen Delegation unterschiedliche Erwartungen und Interpretationen im Blick auf den bilateralen Vertragstext zutage. Sechs Arbeitstreffen leitete auf polnischer Seite der stellvertretende Außenminister, Józef Winiewicz, auf deutscher Seite der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Georg Ferdinand Duckwitz. Dem abschließenden, siebenten Treffen saßen der polnische Außenminister Stefan Jędrychowski und der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Walter Scheel, persönlich vor.

Während der ersten, in Warschau stattfindenden Gesprächsrunde vom 4. bis 7. Februar 1970 sondierten beide Seiten die jeweiligen Interessen des anderen. Für Polen stand die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ganz oben auf der Prioritätenliste. Bereits in seinem Brief an Willy Brandt von Mitte Januar 1970 stellte Jarosław Cyrankiewicz fest:

"Ich möchte Ihnen nicht verschweigen, dass wir in dem langwierigen Prozess der Normalisierung der Beziehungen die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als endgültige deutsch-polnische Grenze für das wichtigste Element halten. In dieser Angelegenheit darf es weder Kompromisse geben, noch darf die Tür halboffen bleiben, denn der Preis ist zu hoch – es handelt sich um eine friedliche Perspektive für unsere Völker und für Europa."1

Bereits in seinem ersten Gespräch mit Duckwitz machte der polnische Delegationsführer Winiewicz deutlich, "dass Polen nichts tun könne und wolle, was gegen die Interessen seiner Alliierten gerichtet sei" und wie sehr eine Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik "den Weg zu einer europäischen Einigung" erleichtern würde. 2 Nach dieser Ouvertüre rechnete Duckwitz zu Recht mit "harten Verhandlungen". 3 Kritische Beobachter in Polen, unter ihnen Mieczysław Rakowski, damals Chefredakteur der Wochenzeitung Polityka und in den Jahren 1972 bis 1989 Sejmabgeordneter, stellten fest, dass die polnische Position – unter dem Druck der Sowjetunion wie der DDR – wenig flexibel gewesen sei. Ein Scheitern der Gespräche zwischen der polnischen und der westdeutschen Regierung wäre einer Niederlage Władysław Gomułkas gleichgekommen.4

Während des ersten Treffens versuchte Ferdinand Duckwitz die Grenzfrage zu umgehen, weil er gerade hierzu keine verbindlichen Zusagen machen konnte. Doch alle Versuche seitens der deutschen Verhandlungspartner, die Diskussion auf andere deutsch-polnische Themen zu lenken, wurden von den Vertretern der polnischen Seite mit dem Argument abgelehnt, dass man erst nach einer Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze auch zur Lösung anderer Probleme schreiten könne. Für die Bundesrepublik war es vorrangig, die deutsch-polnische Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Wirtschaft und Kultur zu besprechen. Die Bundesrepublik Deutschland war auch an der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Polen, an einem Gewaltverzichtsabkommen und Möglichkeiten der Familienzusammenführung interessiert. Auf diese Vorstellungen antwortete die polnische Seite, man könne schlecht diplomatische Beziehungen mit Staaten aufnehmen, deren Bürger mehrheitlich an einer Fortdauer der deutsch-polnischen Grenze von 1937 festhalten wollten. Die Deutschen wiederum lehnten eine isolierte Behandlung der Grenzfrage ab. Nach dem Abschluss der ersten Gesprächsrunde stellte der Vorsitzende der bundesrepublikanischen Handelsvertretung in Warschau, Heinrich Böx, fest, dass es im polnischen Entwurf der Präambel zu viele Anknüpfungspunkte an die Vergangenheit gebe. Gleichzeitig übte er Kritik an dem Ton, in dem die polnische Presse über die Politik Willy Brandts schrieb.

Im Rahmen des vierten Treffens zwischen Vertretern der Bundesrepublik und der VR Polen vom 8. bis 10. Juni 1970 in Bonn wurde zum ersten Mal der gemeinsame Entwurf des Abkommens zur Vorlage an beide Regierungen ausgearbeitet. Als Grundlage wurde der polnische Vorschlag angenommen. Der Entwurf umfasste vor allem folgende Punkte: Präambel, Anerkennung und Ratifizierung der deutsch-polnischen Grenze, den Verzicht auf Gewaltanwendung und die Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen. Duckwitz meldete zufrieden nach Bonn:

"Zum Kernpunkt, der Grenzfrage, zeigte die polnische Seite entgegen ihrer ursprünglichen Haltung eine gewisse Bereitschaft, die aus unserer Sicht notwendigen Vorbehalte zu berücksichtigen."5

Nach dem Treffen erarbeitete das polnische Büro für Studien und Programmierung eine Analyse der "Deutschen Problematik", wie das Dokument hieß. Darin wurde betont, dass der polnische Entwurf eine bessere Diskussionsgrundlage darstelle, weil er die Anerkennung der polnischen Westgrenze an Oder und Neiße, den Verzicht auf jegliche Territorialansprüche und die Verpflichtung zum Gewaltverzicht enthalte. Gleichzeitig wurde das deutsche Arbeitspapier kritisiert, das während der dritten Gesprächsunde in Warschau (22. bis 24. April 1970) der polnischen Delegation überreicht worden war. Man warf dem deutschen Verhandlungspartner vor, er konzentriere sich auf zweitrangige Probleme – wie die Frage der Staatsbürgerschaft, die der Familienzusammenführung, den Kultur- und Wissenschaftsaustausch sowie den Tourismus. Diese Probleme besaßen nach Auffassung der polnischen Verhandlungspartner jedoch nicht die entscheidende Bedeutung für den Normalisierungsprozess. Man hielt sie für den untauglichen Versuch, von der Diskussion über die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze abzulenken. Im Laufe der Verhandlungen habe man jedoch eine Annäherung des deutschen und des polnischen Standpunktes festgestellt; dank dieses Fortschrittes konnten konkrete Verhandlungen über den deutsch-polnischen Normalisierungsvertrag aufgenommen werden. Dieser Komplex sollte das Hauptthema der fünften Gesprächsrunde vom 23. bis 25. Juli 1970 in Warschau sein.

In den Augen des DDR-Außenministeriums war die Bundesrepublik im November 1970 mit der Entwicklung der Beziehungen zu Polen zufrieden. Sie habe günstige Möglichkeiten für die Durchsetzung der "sogenannten 'neuen Ostpolitik'" 6 gesehen. Allerdings habe sie einer eindeutigen Anerkennung der Endgültigkeit der polnischen Westgrenze ausweichen, aber dennoch eine Normalisierung der Beziehungen herstellen wollen. Es sei die Absicht der Bundesrepublik gewesen, die Kontakte auf verschiedenen Gebieten, vor allem der Wirtschaft und Kultur, stark auszubauen, um die polnische Grenze durchlässiger zu machen. Natürlich sei der Bonner Regierung klar gewesen, dass Polen vor allem nach einer eindeutigen Anerkennung der Endgültigkeit der polnischen Westgrenze gestrebt habe.

Die letzte Runde der Gespräche fand vom 3. bis 14. November 1970 in Warschau auf der Ebene der Außenminister statt. Am 7. Dezember 1970 unterzeichneten Bundeskanzler Brandt und Ministerpräsident Cyrankiewicz den Vertrag "zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der VR Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen". Gleich nach Vertragsunterzeichnung führten Willy Brandt und Władysław Gomułka ein längeres Gespräch. Eingangs bedankte sich Gomułka bei Brandt dafür, dass er nach Polen gekommen sei, obwohl noch keine diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern bestünden. Zwischen beiden Partnern bestand Einigkeit darüber, dass der Vertrag zwischen der Bundesrepublik und Polen nicht isoliert behandelt werden dürfe. Eine Normalisierung der Beziehungen hätte sich als schwierig erwiesen, wenn der Ratifizierungsprozess mit Polen von dem mit der Sowjetunion abgetrennt worden wäre. Ein solches Vorgehen hätte sogar als Versuch der Spaltung zwischen Polen und der Sowjetunion interpretiert werden können. Gomułka vertrat darum die Auffassung, man möge nach einer zeitlich parallelen Ratifizierung beider Verträge streben. Brandt erwiderte, dass die Bundesrepublik mit der Sowjetunion bereits vereinbart habe, dass "praktische Konsequenzen, die sich aus dem Vertrag zwischen der UdSSR und der BRD ergeben, noch vor der Ratifizierung dieses Vertrags gezogen werden".7 In den nächsten eineinhalb Jahren rückte die Debatte über die Ratifizierung der Ostverträge in den Mittelpunkt der bilateralen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Polen.

Katarzyna Stokłosa

1 Zit. nach: Mieczysław Rakowski, Dzienniki polityczne 1969-1971 [Politische Tagebücher 1969-1971], Warszawa 2001, Aufzeichnug vom 12.1.1970, S. 160. [1 ]

2 Zit. nach: Bericht Duckwitz an Scheel: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik (AAPD), 1. Januar-30. April 1970, Dok. 35: Staatssekretär Duckwitz, z.Z. Warschau, an Bundesminister Scheel, 4.2.1970, S. 159 f. [2 ]

3 Ebd., S. 160. [3 ]

4 Vgl. Rakowski, Dzienniki polityczne, Aufzeichnung vom 5.2.1970, S. 174. [4 ]

5 Vgl. AAPD 1970 (1. Mai-31. August), Dok. 262: Aufzeichnung des Staatssekretärs a.D. Duckwitz, 11.6.1970, S. 959-965. [5 ]

6 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA/AA), MfAA C 791/73, Die Entwicklung der Kontakte zwischen der VRP und der BRD und der Stand der Beziehungen VRP-BRD, Berlin, 13.11.1970. [6 ]

7 Protokoll über das Gespräch zwischen dem I. Sekretär des ZK der PVAP, Władysław Gomułka, und dem Kanzler der BRD, Willy Brandt. Abgedruckt in: Tomala, Polityka i dyplomacja polska wobec Niemiec. Tom I, S. 401-414; hier: S. 408. [7 ]