Gesetz, betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben [Kinderschutzgesetz], 30. März 1903

Einleitung

"Ich glaube, daß mit dieser Vorlage den [...] Ausbeutern, den sogenannten Schweißaustreibern, der Weg verlegt wird, auf welchem die Kinder durch Umgehung der Gesetze ausgebeutet werden. Nur wenn denselben der Rückzug in den Familienbetrieb, in die Heimindustrie abgeschnitten ist, werden die Arbeiterschutzgesetze, welche wir erlassen haben, in volle Wirksamkeit treten lassen."1

Auf diese optimistische Weise beurteilte Cornelius Wilhelm von Heyl, Fabrikant und Abgeordneter der Nationalliberalen Partei, den Entwurf für das Gesetz, betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben, das schließlich am 1. Januar 1904 in Kraft trat. Das Kinderschutzgesetz ist ein wichtiger Bestandteil innerhalb der Maßnahmen zum Arbeiterschutz um die Jahrhundertwende und kann als eine der letzen Folgen des "neuen Kurses" nach der Entlassung des Reichskanzlers Otto von Bismarck betrachtet werden. Erst nach der Ära Bismarck war es möglich geworden, Gesetze zum Arbeiterschutz zu verabschieden. Während Otto von Bismarck stets befürchtet hatte, durch präventive Maßnahmen wie Arbeitszeitbegrenzungen, die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie zu gefährden, setzte Kaiser Wilhelm II. zu Beginn seiner Herrschaft auf soziale Reformen. In einem Wechselspiel von Reform und Blockade wurde dann seit Mitte der 1890er Jahre der Arbeiterschutz ausgebaut. Vor diesem Hintergrund ist die Verabschiedung des Kinderschutzgesetzes 1903 zu sehen.

Wesentlich für die Durchsetzung des Kinderschutzes war das zunehmend verbreitete Ideal einer arbeitsfreien Kindheit, das sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts ausprägte. Vor allem Pädagogen trugen dazu bei, das Prinzip "Schule statt Arbeit" langfristig als politische Zielvorstellung zu etablieren. Militärpolitische Erwägungen, nach denen die Kinderarbeit zur Erhaltung der Wehrtüchtigkeit unterbunden werden sollte, spielten nachgewiesenermaßen keine entscheidende Rolle, obwohl sich diese "Kanonenfutterlegende" hartnäckig im kollektiven Gedächtnis erhält.

Das Kinderschutzgesetz basierte auf dem "Arbeiterschutzgesetz" (Novelle zur Reichsgewerbeordnung) vom 1. Juli 1891, das die Beschäftigung von Kindern unter dreizehn Jahren in Fabriken generell untersagte. Diese Altersgrenze hängt mit der Volksschulpflicht zusammen, die zwar regional unterschiedlich gehandhabt wurde, aber in den meisten Bundesstaaten nach der Vollendung des vierzehnten Lebensjahres endete. Das Verbot der Kinderfabrikarbeit schien zunächst sehr wirksam, doch stellte sich bald heraus, dass in demselben Maß, in dem sich die Zahl der in der Industrie beschäftigten Kinder vermindert hatte, die Zahl der Kinder im Gewerbe angewachsen war. Einen wesentlichen Bestandteil dieser gewerblichen Arbeit machte die Heimindustrie aus, eine Massenindustrie, die von wirtschaftlich unselbständigen Produzenten in der eigenen Wohnung oder Werkstätte für einen Unternehmer verrichtet wurde (Hausweberei, Tütenkleben, Holzschnitzerei, Tabakwarenherstellung). Eine Erhebung im Jahr 1898 über die Anzahl der unter Vierzehnjährigen, die in kleineren Werkstätten, in der Hausindustrie und als Botengänger arbeiteten, zählte 532.283 im Deutschen Reich, das entsprach 6,4 % aller volksschulpflichtigen Kinder. Allerdings bildet dieses Ergebnis nur einen Teil der gewerbetätigen Kinder ab, da die Enquête von den Bundesstaaten nicht einheitlich und vollständig ausgeführt worden war. Hervorzuheben ist das hohe Ausmaß der Kinderarbeit in den Zentren der Heimarbeit. In der Spielwarenindustrieregion Sachsen-Coburg-Gotha waren 86 % aller Schulkinder im Gewerbe tätig. Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Emanuel Wurm ging für das gesamte Deutsche Reich von einer Million Kindern im Gewerbe aus. Nicht erfasst wurden Kinder, die in der Landwirtschaft arbeiteten.

Die in der Enquête von 1898 erhobenen Zahlen und die darin enthaltenen Angaben über die teilweise gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen der schulpflichtigen Kinder reichten trotz ihrer Unvollständigkeit aus, eine neue Gesetzesvorlage zu motivieren. Es war augenfällig, dass die Gewerbeordnung von 1891 nicht ausreichte, um dem Missstand der Kinderarbeit wirksam entgegenzutreten. Kritisiert wurden vor allem die mangelhafte Konzentrationsfähigkeit arbeitender Kinder in der Schule, die Beeinträchtigung der körperlichen Entwicklung durch wenige oder einseitige Bewegung und den Umgang mit gesundheitsschädigenden Materialien und gefährlichen Maschinen. Einige Tätigkeiten im Gewerbe, wie das Kegelaufstellen in Wirtshäusern und die Mitwirkung bei Schaustellungen galten zudem als moralisch gefährdend. Vertreter des Innenministeriums, des Ministeriums für Handel und Gewerbe und des Kultusministeriums berieten über einen entsprechenden Gesetzesentwurf. Eine zentrale Streitfrage bildete die Rolle der elterlichen Autorität. Der Eingriff in die familiäre Sphäre, der bei einem Verbot der Heimarbeit und der Kinderarbeit in Familien für die Durchsetzung notwendig war, erschien als Wagnis: "Das Kind ist, solange es dem elterlichen Hausstand angehört und von den Eltern erzogen und unterhalten wird, verpflichtet, in einer seinen Kräften und seiner Lebensstellung entsprechenden Weise den Eltern in ihrem Hauswesen und Geschäft Dienste zu leisten", hieß es im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896 (§ 1617, RGBl. 1896, S. 472). Das Ideal einer arbeitsfreien Kindheit hatte sich noch nicht durchgesetzt. Der Staatssekretär des Reichsamts des Innern Graf von Posadowsky schrieb noch 1902 in einem Brief an Kaiser Wilhelm II, "daß eine mäßige Beschäftigung von Kindern in sofern eine Berechtigung hat, als sie geeignet ist, die Kinder an körperliche und geistige Thätigkeit zu gewöhnen, den Sinn für Fleiß und Sparsamkeit zu beleben und sie vor Müßiggang und Abwegen zu bewahren." 2Die Idee der erzieherischen Wirkung von Arbeit wurde auch in der bürgerlichen Gesellschaft und in der Arbeiterschaft vertreten. Die Gesetzgebung stellte letztlich einen Kompromiss dar. Es ging nicht darum, die Kinderarbeit vollständig abzuschaffen, sondern lediglich einzudämmen.

Das Gesetz, betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben regelte die Lohnbeschäftigung von Jungen und Mädchen unter 13 Jahren und Kindern über dreizehn Jahren, die noch zum Besuch der Volksschule verpflichtet waren, in Industrie, Handel und Verkehr, Handwerksbetrieben, Heimarbeit, Gastgewerbe, bei öffentlichen Vorstellungen sowie als Botengänger und Austräger von Waren. Um starke Eingriffe in die Familie zu vermeiden, unterschied das Gesetz zwischen "eigenen" und "fremden" Kindern. Die Definition "eigene Kinder" umfasste auch die Kinder des Ehepartners, Nichten und Neffen sowie Kinder, die einer Familie zur "Fürsorgeerziehung" anvertraut waren. Die "eigenen" Kinder wurden durch das Gesetz weniger geschützt als "fremde", sodass Eltern ein größerer Spielraum blieb, die Arbeitskraft ihrer Kinder im eigenen Betrieb zu nutzen. Generell verboten war jedoch die Arbeit in "ungeeigneten Beschäftigungen" wie dem Tagebau, Schornsteinfegen, Steinklopfen und an Arbeitsstellen, an denen Triebwerke zur Verwendung kamen, die durch "elementare Kraft" (Dampf, Wind, Wasser, Gas etc.) angetrieben wurden. Für alle schulpflichtigen Kinder galten außerdem ein Nachtarbeitsverbot und eine Mittagspausenregelung. Mindestens zwölf Jahre musste ein Kind alt sein, um auch in der Werkstatt oder Wohnung der Eltern Arbeiten für Dritte, zum Beispiel Heimarbeit, auszuführen. Alle anderen Paragraphen unterschieden zwischen "eigenen" und "fremden" Kindern. Während fremde Kinder erst ab dem zwölften Lebensjahr in zugelassenen Betrieben arbeiten durften, war es Erziehungsberechtigten gestattet, ihre Kinder bereits im Alter von zehn Jahren arbeiten zu lassen. Fremde Kinder durften maximal drei Stunden arbeiten, eigene Kinder während der Schulzeit vier bis sieben Stunden täglich. Für die Schulferien gab es keinerlei Schutz für eigene Kinder. Sie konnten täglich zehn Stunden arbeiten. Fremde Kinder durften in der Ferienzeit nur vier Stunden täglich arbeiten. Einschränkungsfrei war auch die Botentätigkeit eigener Kinder, während fremde Kinder an Sonn- und Feiertagen vormittags nur zwei Stunden als Boten arbeiten durften und hier ein Mindestalter von zwölf Jahren festgelegt war. Den Landesregierungen oblag die Durchführung des Kinderschutzgesetzes. Die Ortspolizeibehörden und die zuständigen Gewerbeaufsichtsbeamten hatten die gesetzlichen Bestimmungen zu kontrollieren und Sanktionen durchzusetzen. Möglich waren Geldstrafen bis zu zweitausend Mark und Haftstrafen bis zu sechs Monaten. In der Praxis blieb es gewöhnlich bei geringen Geldstrafen.

Im Reichstag kritisierten die Abgeordneten der SPD und der Nationalliberalen vor allem die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Kindern. Erstens erschwerte diese Differenzierung einen umfassenden Kinderschutz, zweitens verkomplizierte sie das Gesetz. Letztlich entsprach sie aber der Auffassung der Mehrheit und spiegelt die Familienvorstellung im Kaiserreich wider. Besonders kontrovers wurde im Reichstag darüber diskutiert, dass die Kinderarbeit in der Landwirtschaft nicht durch das Gesetz eingeschränkt wurde. Vor allem die Vertreter der konservativen Parteien bagatellisierten die Landarbeit von Kindern als romantisches Element der deutschen Kultur.

Aufgrund einer schwierigen Quellenlage und einer unwägbaren Dunkelziffer ist es nicht möglich die Wirkung des Gesetzes, betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben zu bewerten. Es ist lediglich festzuhalten, dass die Bestimmungen schwieriger durchzusetzen waren als die Gewerbeordnung von 1891. Die Mitarbeit von Kindern in den gewerblichen Betrieben und vor allem innerhalb der Familie war in der Tradition verankert und dadurch nur allmählich zu reduzieren. Auch in der Weimarer Republik war das Bild des arbeitenden Kindes noch allgegenwärtig.

Im internationalen Vergleich schnitt das Gesetz nicht schlecht ab. In anderen europäischen Ländern wurden zwar junge Menschen teilweise bis zum Alter von 18 Jahren in den Arbeiterschutz einbezogen, während der Jugendschutz in Deutschland bereits bei der Altersgrenze von 16 Jahren endete, doch für den Schutz von schulpflichtigen Kindern bot das deutsche Gesetz differenziertere und weitreichende Regelungen. Somit lieferte es entscheidende Impulse, die die Vorstellungen vom Kinderschutz im 20. Jahrhundert maßgeblich prägten.

Ines Heisig

1 Freiherr Cornelius Wilhelm von Heyl zu Herrnsheim (Worms), Fabrikant, Nationalliberale Partei, in der Reichstagsdebatte bei den Beratungen des "Entwurfs eines Gesetzes betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben", 23. April 1902, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. X. Legislaturperiode. II. Session. 1900/1903, Berlin 1903, S. 5018 (online: http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k10_bsb00002795_00001.html). [1]

2 Schreiben des Staatssekretärs des Reichsamts des Innern, Graf von Posadowsky, an Kaiser Wilhelm II. vom 2. Januar 1902, zit. n. Siegfried Quandt (Hg.): Kinderarbeit und Kinderschutz in Deutschland 1783-1976. Quellen und Anmerkungen (Geschichte, Politik. Materialien und Forschung, Bd. 1), Paderborn 1978, S. 89. [2]