Aufruf des Militärischen Revolutionskomitees (VRK) "An die Bürger Rußlands", 25. Oktober (7. November) 1917

Einführung

In der sowjetischen Historiographie dominierte ein apologetischer Standpunkt, was die Alternativen GlossarLenins und der bolschewistischen Partei betraf. Der "Aufruf" wurde als ein Dokument bewertet, das den Weg für die im Lande seit langem erwarteten revolutionären Veränderungen öffnete. In der westlichen Historiographie hing die Bewertung dieses Dokuments von der Haltung des jeweiligen Autors zum bolschewistischen Regime ab. So hielten die Kritiker der GlossarBolschewiki, wie R. Pipes, deren politische Forderungen für reine Demagogie, während Historiker, wie E. Carr, die der GlossarOktoberrevolution mit einer gewissen Sympathie begegneten, die leninschen Dokumente wohlwollend aufnahmen. Eine peinlich genaue Untersuchung der Ereignisse des Oktobers 1917 legte der amerikanische Historiker A. Rabinowitch vor. Darin zeigte er die Hintergründe bei der Bildung des GlossarMilitärischen Revolutionskomitees (VRK) auf und umriß die Umstände, die einerseits die Machtübernahme durch die Bolschewiki beschleunigten und die andererseits die Alternativen einer den GlossarSowjets rechenschaftspflichtigen sozialistischen Koalitionsregierung "platzen ließen".

Nach der Niederschlagung des GlossarKornilov-Putschesund der Liquidierung der "rechten Gefahr" für die GlossarProvisorische Regierung bemühte sich GlossarAleksandr Kerenskij, der "linken Gefahr", d.h. den Bolschewiki und ihren Verbündeten, gleichfalls ein Ende zu setzen. Währenddessen trafen diese Vorbereitungen für die Machtübernahme. Da die Grundfragen, die vor der Revolution bestanden, nicht gelöst wurden und die wirtschaftliche und soziale Lage sich weiter verschlechterte, verlor die Provisorische Regierung allmählich ihre Massenbasis, während die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung für die radikalen Parolen der Bolschewiki wuchs. Unter diesen Umständen faßte die Provisorische Regierung den Beschluß, einen bedeutenden Teil der Petrograder Garnison an die Front zu verlegen, wobei sie nach außen hin den Eindruck vermitteln wollte, daß diese Maßnahme durch die Niederlage der russischen Armee und die Kriegshandlungen der Deutschen im Baltikum hervorgerufen wurde. Die Linke unterstellte Kerenskij jedoch, er habe vor, Petrograd den Deutschen auszuliefern und auf diese Weise die Revolution niederzuwerfen. Gleichzeitig wurden Gerüchte über den geplanten Umzug der Provisorischen Regierung nach Moskau in Umlauf gebracht. Kerenskij versuchte, revolutionäre Garnisoneinheiten aus der Hauptstadt abzuziehen und durch regierungsloyale Truppen zu ersetzten. Einheiten der Petrograder Garnison sprachen mehrheitlich der Provisorischen Regierung ihr Mißtrauen aus und verlangten, die Macht den Sowjets zu übergeben.

Am 9. (22.) Oktober 1917 standen im GlossarExekutivkomitee des Petrograder Stadtsowjets die Verteidigung von Petrograd und die Motive für die Entscheidungen des amtierenden Kabinetts zur Diskussion. Alle Redner wiesen darauf hin, daß die Mutmaßungen der Garnisonseinheiten über die Handlungen der Regierung nicht unbegründet seien. Als Ergebnis der Debatten legten die GlossarMenschewiki und die GlossarSozialrevolutionäre eine gemeinsame Resolution vor, die den Aufruf enthielt, sich auf die Verlegung der Truppeneinheiten an die Front vorzubereiten und gleichzeitig ein Komitee für die Untersuchung der Frage der Verteidigung zu gründen, wobei die Garnison, im Falle von Widerstand gegen die Regierung oder einer deutschen Offensive, in Kampfbereitschaft bleiben sollte. Die Bolschewiki antworteten darauf mit ihrer eigenen von GlossarTrockij verfaßten Resolution, die die Forderung enthielt, so schnell wie möglich Frieden zu schließen. Der Regierung wurde unterstellt, daß sie bereit sei, Petrograd den Deutschen zu überlassen. Die einzige Möglichkeit, den Untergang des Landes zu verhindern, sei – so die Resolution – die Machtübernahme durch die Sowjets. Die Resolution sah außerdem die Gründung eines GlossarRevolutionären Verteidigungskomiteesvor, das fortan für die "revolutionäre Verteidigung" Petrograds zuständig sein und die Bewaffnung der Arbeiter organisieren sollte – um die "Sicherheit des Volkes" in Anbetracht der Angriffe, "die von Militärs und Anhängern GlossarKornilovs in aller Öffentlichkeit vorbereitet wurden", zu gewährleisten. Während sich das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets mit knapper Stimmenmehrheit für die Position der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre aussprach, gewann im Plenum des Petrograder Sowjets die Resolution der Bolschewiki.

Am 10. (23.) Oktober fand eine Sitzung des bolschewistischen GlossarCK statt, in der sich Lenin, der nach einer langen Unterbrechung wieder im höchsten Parteigremium zugegen war, für die Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes und die Machtübernahme durch die Sowjets aussprach. Für den Fall, daß seine Forderung keine Unterstützung erhalten sollte, drohte er dem CK mit seinem Rücktritt. In der Tat fand er in den CK-Mitgliedern GlossarLev Kamenev und GlossarGrigorij Zinov'ev zwei prominente Widersacher, die den bewaffneten Aufstand ablehnten. Unterstützt von Lev Trockij, setzte sich Lenin trotzdem durch: In der Sitzung vom 16. (29.) Oktober 1917 verabschiedete das CK eine Resolution zum bewaffneten Aufstand.

In der Folgzeit nahmen die Bolschewiki Kurs auf einen "friedlichen" und in gewisser Hinsicht sogar "verfassungsmäßigen" Aufstand, gestützt auf den GlossarSowjetkongreß, der den Sturz der Regierung "legitimieren" sollte. Der Kongreß schien der geeignete politische Deckmantel für den Aufstand zu sein, zumal die Losung "Alle Macht den Sowjets" zu diesem Zeitpunkt erneut große Popularität gewann und die Aktivitäten gegen die Regierung wie eine Verteidigung der Sowjets aussehen sollte.

Am 11. (24.) Oktober stand die Frage eines Militärischen Revolutionskomitees in der GlossarMilitärabteilung des Petrograder Sowjets auf der Tagungsordnung. Am 12. (25.) Oktober setzten die Bolschewiki den Beschluß über seine Gründung als "Verteidigungsorgan" des Sowjets durch. Als formeller Vorwand dienten die Notwendigkeit, alle Kräfte für die Verteidigung gegen die Deutschen zu sammeln, und die Verordnung der Regierung über die Verlegung der Truppen der Petrograder Garnison an die Front. Der Arbeitsplan des VRK ging jedoch weder auf die Bewaffnung der Arbeiter noch auf die Verteidigung der Revolution vor der äußeren und inneren Bedrohung ein.

Dem Komitee gehörten außer Bolschewiki auch Vertreter des linken Flügels der Sozialrevolutionäre, der Sowjets, der GlossarBetriebskomitees, der Gewerkschaften und der Armeeorganisationen an. Die Koordinierung seiner Tätigkeit übernahm ein Büro, das am 20. Oktober (2. November) gegründet wurde. Mitglieder waren die Bolschewiki GlossarV. Antonov-Ovseenko, GlossarN. Podvojskij, GlossarA. Sadovskij und der Menschewik GlossarG. Suchar'kov; in den Tagen der Oktoberrevolution wurde das VRK unter anderem von Trockij geleitet. Zum Vorsitzenden des Büros, der gleichzeitig auch den Vorsitz im VRK übernahm, wurde GlossarP. Lazimir bestellt. Mit der Entscheidung, einen GlossarLinken Sozialrevolutionär zu ernennen, wollte man den überparteilichen Charakter des VRK betonen. Etwa zur gleichen Zeit, am 16. (29.) Oktober 1917, wählte das CK ein GlossarMilitärisches Revolutionszentrum, das GlossarJa. Sverdlov, GlossarI. Stalin, GlossarA. Bubnov, GlossarM. Urickij und GlossarF. Dzeržinskij zu seinen Mitgliedern zählte und dem GlossarRevolutionskomitee des Sowjets unterstellt war.

Am 21. Oktober (3. November) erkannte die revolutionäre Petrograder Garnison – vom Stab des Petrograder Militärbezirks abgesehen – das VRK als ihr Leitungsorgan an und erklärte die Garnisonsbefehle, die nicht von dem VRK unterzeichnet wurden, für unrechtsmäßig. Die Kommandoführung des Petrograder Militärbezirks versuchte, die konfliktbeladene Situation auf friedliche Weise zu lösen, und nahm Verhandlungen mit der GlossarGarnisonsversammlung auf. Am 22. Oktober (4. November) 1917 wurde Petrograd von einer Meetingwelle zur Unterstützung der linken Kräfte überrollt. In Anbetracht dieser Situation schlug Kerenskij vor, das VRK aufzulösen und seine Mitglieder zu verhaften. Entgegen seinem Vorschlag entschied man sich jedoch dafür, die Verhandlungen mit den Komiteevertretern fortzusetzen. Inzwischen tauschte das VRK die offiziell ernannten Regierungskommissare der Truppen durch eigene Vertreter aus. Am 23. Oktober (5. November) 1917 folgte der Beschluß des Komitees, der seinen Kommissaren gestattete, alle Befehle der Militärführung mit einem Veto zu belegen. Die Linken Sozialrevolutionäre haben weder die Bolschewiki bei der Vorbereitung eines bewaffneten Umsturzes behindert noch an der Tätigkeit des Komitees teilgenommen, da sie die Vorbereitung eines "Aufstandes" für einen Ausdruck des "politischen Extremismus" hielten.

Ein bedeutender Teil der Garnison leistete dem VRK Folge, weil sich die Bolschewiki für einen schnellen Frieden mit Deutschland einsetzten. Die Tatsache, daß die Soldaten sie unterstützten, bedeutete jedoch nicht, daß die Soldaten auch bereit waren, den "imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln". (Wie es Lenin 1915/16 gefordert hatte.)

Währenddessen war Kerenskij nach wie vor der Meinung, daß er über ein größeres Militärpotential als die Bolschewiki verfügte. Am 24. Oktober (6. November) 1917 ordnete die Regierung – trotz aller Zugeständnisse des VRK – die Schließung der bolschewistischen Presseorgane an und begann damit, Truppenkontingente um die Hauptstadt zusammenzuziehen. Die Eröffnung der Offensive gegen die linken Kräfte leistete der Machtübernahme der Bolschewiki in vielerlei Hinsicht Vorschub, denn die Teile der Petrograder Bevölkerung, die sich Lenins Partei anschlossen, taten dies nicht aus Sympathie für die Alleinherrschaft der Bolschewiki, sondern im Glauben, daß sich die Revolution in Gefahr befinde. A. Kerenskij beging den heute offensichtlichen Fehler und griff die Bolschewiki ausgerechnet zu dem Zeitpunkt an, der ihnen in den Plan paßte, nämlich als die Provisorische Regierung eigentlich keine reale Kraft mehr besaß? Später rechtfertigte er seinen Schritt damit, daß er von Stabsoffizieren des Petrograder Bezirks falsch informiert worden war, die ihrerseits den Regierungsumsturz beschleunigen wollten, um anschließend die Bolschewiki zu zerschlagen und ein autoritäres Regime zu etablieren.

Am 24.-25. Oktober (6.-7. November) besetzten die Truppen, die unter der Kontrolle der Bolschewiki standen, darunter auch Einheiten der GlossarRoten Garde, Schlüsselstellen der Hauptstadt: Telephon- und Telegraphenzentralen, Brücken und Bahnhöfe. In der Neva legte ein bolschewistisches Geschwader unter der Führung des Kreuzers "Aurora" an. Das militärische Übergewicht lag auf der Seite der Bolschewiki, deren Stab im Smol'nyj Institut residierte. Die Provisorische Regierung wurde im GlossarWinterpalais von der Außenwelt abgeschlossen, verteidigt von Einheiten der GlossarMilitärkadettenschulen und einem GlossarFrauenbataillon, deren Kräfte schnell nachließen. Während Kerenskij an die Front fuhr, um Hilfe zu holen, kehrte Lenin nach Petrograd, in den Smol'nyj, zurück und begann mit der Bildung einer neuen Regierung – des GlossarRates der Volkskommissare.

Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung verhielt sich auffallend gleichgültig. Ihre Apathie stand im scharfen Gegensatz zu ihrem Verhalten während der Februarrevolution. Schließlich schlossen sich dem Aufstand auch die Linken Sozialrevolutionäre an.

Zum gleichen Zeitpunkt als der Umsturz stattfand, nahm der II. Sowjetkongreß seine Arbeit auf. Darin war etwa die Hälfte aller Sowjets vertreten, die auch am I. Sowjetkongreß teilgenommen hatten. Die Bolschewiki besaßen ursprünglich nur die Hälfte aller Mandate. Vertreter der Menschewiki und Sozialrevolutionäre kritisierten die Bolschewiki heftig dafür, daß sie den Aufstand begonnen hatten, und verließen als Zeichen des Protestes den Kongreß. Doch mit diesen ging nicht die Hälfte, sondern nur weniger als ein Drittel der Deputierten, weil die Linken Sozialrevolutionäre blieben. So konnte der Kongreß seine Arbeit fortsetzen.

Nachdem Anhänger des rechten Spektrums den Kongreß verlassen hatten, blieben darin nur zwei Richtungen vertreten – die Radikalen, für die ein Teil der Bolschewiki und die Anarchisten standen, und die Kompromißbereiten, vertreten durch gemäßigte Bolschewiki, die Linken Sozialrevolutionäre, die GlossarMenschewiki-Internationalisty und die Führer der Eisenbahnergewerkschaft GlossarVikžel'. Während Lenin und seine Anhänger der Meinung waren, daß die Macht nur von einer Partei, nämlich ihrer eigenen, übernommen werden sollte, sah ein bedeutender Teil der Deputierten in einer radikalen Einparteiherrschaft die Gefahr eines Bürgerkrieges und der Reaktion. Für sie war der Oktoberumsturz ein Mittel, um eine den Sowjets gegenüber rechenschaftspflichtige sozialistische Mehrparteienregierung zu schaffen.

In der Tat besaßen die Führer der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre zum Zeitpunkt des Oktoberumsturzes keine prinzipiellen Einwände gegen die ersten Dekrete des II. Sowjetkongresses. Im Unterschied zu ihren linken Kollegen gingen die GlossarZentristen in der GlossarRSDRP und der Partei der Sozialrevolutionäre davon aus, daß die realen Ergebnisse des Revolutionsprozesses weniger von programmatischen Erklärungen als vom realen Kräfteverhältnis abhingen. Anders als im Juli 1917 hatten die gemäßigten Sozialisten jedoch nicht vor, dem militärischen Druck nachzugeben. Dieser Schritt wäre für sie mit der Perspektive verbunden gewesen, sich in Junior-Partner der Bolschewiki, in ein Anhängsel des radikalen Regimes zu verwandeln – eines Regimes, das sich sowohl auf organisierte Massen als auch auf Hinterlandsgarnisonen stützte.

Im Ergebnis war der Aufstand vom 24./25. Oktober (6./7. November) von großer historischer Bedeutung, da er die Mehrheit der Menschewiki und Sozialrevolutionäre dazu brachte, den II. Sowjetkongreß zu verlassen und damit die Bildung einer sozialistischen Koalitionsregierung verhinderte, in der sich die gemäßigten Sozialisten in einer starken Position befunden hätten. Auf diese Weise wurden die Voraussetzungen für die Bildung einer Einparteiregierung unter Führung der Bolschewiki geschaffen, die kaum Ansätze zur Integration anderer politischer und sozialer Kräfte zeigte.

Dieses Ergebnis schien zunächst nicht endgültig zu sein. Die Anhänger eines Kompromisses suchten weiterhin nach Möglichkeiten, den Bürgerkrieg zu vermeiden und einer einheitlichen sozialistischen Regierung zum Leben zu verhelfen. Der radikal-autoritäre Kern der Bolschewiki tat jedoch bereits den entscheidenden Schritt zur Hegemonie und hatte nicht vor, seine Führungspositionen aufzugeben. Die gemäßigten Sozialisten waren ihrerseits zum entscheidenden Kampf nicht bereit, da sie zurecht einen weitläufigen Bürgerkrieg befürchteten und hofften, die Wahlen zur GlossarKonstituierenden Versammlung würden die bestehende Lage grundsätzlich verändern. Somit wurde die Möglichkeit vertan, breite Massenbewegungen in ein pluralistisches System zu integrieren, das auf einem Interessenkonsens beruht hätte.

Natalija Gerulajtis

(Übersetzung aus dem Russ. von L. Antipow)