Dekret des 2. Allrußländischen Sowjetkongresses über die Bildung der Arbeiter- und Bauernregierung, 26. Oktober (8. November) 1917

Einführung

In der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober (vom 6. auf den 7. November) 1917 stürzten die GlossarBolschewiki in einem bewaffneten Aufstand die Regierung GlossarKerenskijs und riefen die Sowjetrepublik aus. Als am darauffolgenden Abend der 2. Allrußländische GlossarSowjetkongreß zusammentrat, beschloß er – auf bolschewistischen Antrag – die Einrichtung einer "Arbeiter- und Bauernregierung". Sie sollte Glossar"Rat der Volkskommissare" (SNK) heißen und das Land zunächst "provisorisch", bis zum Zusammentreten der GlossarKonstituante, der Verfassungsgebenden Versammlung, verwalten. Schon die Namensgebung verhieß etwas völlig Neues, den Abschied von der bisherigen Form der Ministerialregierung. Das vorliegende Gründungsdekret führte dazu aus: Zu jedem Zweig des staatlichen Lebens würden "Kommissionen" gebildet, die – "im engen Kontakt mit den Massenorganisationen" – das vom Sowjetkongreß beschlossene Regierungsprogramm verwirklichten. Die neuen Glossar"Volkskommissare" würden an die Spitze dieser Kommissionen treten und dem Allrußländischen Sowjetkongreß wie seinem GlossarExekutivkomitee für ihre Amtsführung verantwortlich sein.

Alle vorgeschlagenen und vom Sowjetkongreß bestätigten Regierungsmitglieder waren Bolschewiki. Zu diesem Zeitpunkt hatten die gemäßigten Sozialisten, die GlossarMenschewiki und GlossarRechten Sozialrevolutionäre, den Kongreß bereits verlassen – als Zeichen des Protestes gegen den bolschewistischen Putsch. Die zurückbleibenden GlossarLinken Sozialrevolutionäre lehnten einen Eintritt in die Regierung ab, solange nicht auch die anderen sozialistischen Parteien beteiligt würden. Erst Mitte November übernahmen die Linken Sozialrevolutionäre das ihnen angebotene Landwirtschaftsressort, im Dezember sechs weitere Regierungsposten. Doch ihre Rolle als Koalitionspartner der Bolschewiki blieb Episode. Bereits im März 1918 zogen sie sich – aus Protest gegen den Abschluß des GlossarFriedensvertrages mit Deutschland – wieder zurück und räumten endgültig ihren Platz für eine rein bolschewistischen Regierung.

Die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch den Rat der Volkskommissare war im Oktober 1917 zunächst nur Programm. Die Kommissionen, denen die Volkskommissare vorstehen sollten, existierten nicht, und die Fäden der Macht liefen nicht hier, sondern im GlossarMilitärischen Revolutionskomitee (VRK) zusammen, einem Organ des GlossarPetrograder Arbeiter- und Soldatensowjets. Gegründet Anfang Oktober zur Verteidigung der Hauptstadt, hatten es die Bolschewiki zur Schaltstelle der Macht ausgebaut und mit seiner Hilfe den bewaffneten Aufstand vorbereitet und durchgeführt. Auch nach dem Sturz der Kerenskij-Regierung blieb das Militärische Revolutionskomitee als Kommandozentrale unentbehrlich: Bevor es sich Anfang Dezember auflöste, organisierte es den Übergang der Macht in die Hände der Sowjets. So verschaffte es auch den neuen Volkskommissaren Zugang zu den alten Ministerien: Auf Befehl des Revolutionskomitees besetzten bewaffnete Verbände die Gebäude, konfiszierten die Schlüssel und drohten jedem mit Entlassung, der die Sowjetregierung nicht anerkannte. Noch im Laufe des November übersiedelten alle GlossarVolkskommissariate aus dem GlossarSmol'nyj, ihrem bisherigen Sitz, in die alten Fachbehörden. Viel mitzunehmen war nicht. Im Smol'inyj hatte die gesamte Regierung gerade zwei Zimmer, jeder Volkskommissar kaum seinen eigenen Schreibtisch besessen, und das gemeinsame Sekretariat war eben erst im Entstehen. Mit Hilfe des Militärischen Revolutionskomitees wurde der Widerstand der Ministerialbürokratie gebrochen. Auf organisierte Arbeitsniederlegung und systematische Vernichtung von Dokumenten reagierte man mit Entlassung und Verhaftung. Die Ministerialbeamten, die Ende Oktober im voraus ihre Gehälter bis zum Januar erhalten hatten und nun streikten, wurden unter Strafandrohung aufgefordert, zum Dienst zu erscheinen oder die erhaltenen Summen zurückzuzahlen. Das massive Vorgehen der neuen Machthaber und die Aussicht, Staatswohnung und Pensionsansprüche zu verlieren, bewogen das Gros der Beamtenschaft, ihre Arbeit wiederaufzunehmen.

Ein Vorgang mit Folgen: die Volkskommissariate übernahmen die alten Ministerien und gingen in ihnen auf. Vom ursprünglichen Konzept blieb, sofern es vorhanden war, nur der Name. Im internen Gebrauch benützte man schon sehr bald die Bezeichnungen "Volkskommissariat" und "Ministerium" synonym. Wie groß die Kontinuität in der Ministerialbürokratie war, konnte der sowjetische Historiker M. P. Irošnikov an internen statistischen Erhebungen der Volkskommissariate zeigen. Fachbehörden wie das Finanzministerium, so ergaben seine Forschungen, wurden nahezu vollständig übernommen. Von der höheren Beamtenschaft der Volkskommissariate waren (im August 1918) 80-90% schon vor der GlossarOktoberrevolution im öffentlichen Dienst tätig gewesen, nur 8% waren Bolschewiki! Lediglich in den GlossarVolkskommissariaten für Auswärtige Angelegenheiten und Glossarfür Nationalitätenfragen war der Anteil der Kommunisten hoch und die Zahl derer gering, die schon früher einen staatlichen Posten bekleidet hatten.

Die Übernahme der alten Ministerien ließ auch die Fachabteilungen des GlossarAllrußländischen Zentralen Exekutivkomitees (VCIK) verkümmern. Zum Aufbau einer eigenständigen zentralen Sowjetadministration fehlten ihnen die Mittel und das Personal, aber auch die Aufgaben. Die neuen/alten Volkskommissariate/Ministerien zogen alles an sich. Die beiden wichtigsten neuen Behörden, die GlossarAußerordentliche Kommission (ČK) und der GlossarOberste Volkswirtschaftsrat, wurden der Regierung und nicht der Sowjetspitze, dem VCIK, unterstellt. Von den 184 Gesetzen und Dekreten, die vom Oktober bis zum Ende des Jahres 1917 erlassen wurden, gingen gerade neun auf das Konto des Allrußländischen Zentralen Exekutivkomitees. Für 88 war dagegen der Rat der Volkskommissare verantwortlich, 62 stammten aus einzelnen Volkskommissariaten. Das Allrußländische Zentrale Exekutivkomitee wurde auf eine quasi parlamentarische Kontrollfunktion abgedrängt – nur ohne das legislative Monopol seines bürgerlichen Pendants. Ende Dezember 1917 löste das Zentrale Exekutivkomitee die eigenen Fachabteilungen auf und stellte das freiwerdende Kaderpotential den Volkskommissariaten zur Verfügung.

Daß der Rat der Volkskommissare zunächst nur "provisorisch", bis zum Zusammentreten der Verfassungsgebenden Versammlung, mit der Wahrnehmung der Regierungstätigkeit beauftragt worden war, erwies sich schon im Januar 1918 als bedeutungslos. Während die Konstituante, als sie sich den Wünschen der Bolschewiki widersetzte, nach nur einer Sitzung wieder aufgelöst wurde, blieb der Rat der Volkskommissare im Amt. Die GlossarVerfassung der RSFSR (die am 10. Juli 1918 vom 5. Allrußländischen Sowjetkongreß angenommen wurde) beauftragte den Rat der Volkskommissare mit der "allgemeinen Verwaltung der Geschäfte", mit dem Recht, "Dekrete, Verordnungen, Instruktionen" zu erlassen, ja überhaupt "alle Maßregeln" zu ergreifen, "die für einen geregelten und schnellen Lauf des staatlichen Lebens notwendig" seien. Allerdings hatte er alle Entscheidungen von erheblicher staatlicher Bedeutung dem Allrußländischen Zentralen Exekutivkomitee der Sowjets zur Prüfung und Bestätigung vorzulegen, das seinerseits befugt war, alle Beschlüsse und Entscheidungen des Rates der Volkskommissare aufzuheben und zu stornieren. Denn der Allrußländische Sowjetkongreß blieb nach der Verfassung "die höchste Gewalt" im Staat, das Allrußländische Zentrale Exekutivkomitee – das "höchste gesetzgebende, verfügende und kontrollierende Organ" zwischen den Kongressen.

Alle Ansätze zur Stärkung der Sowjetspitze gegenüber der Regierung gingen – wenig später – im Bürgerkrieg unter. Die oft gestellte Frage, ob die innersowjetische Entwicklung ohne den Bürgerkrieg eine andere Richtung genommen hätte, erscheint spekulativ, ihre Erörterung müßig. Von 1919 an bis zum 2. Februar 1920 trat das Zentrale Exekutivkomitee zu keiner Sitzung zusammen. Sein Präsidium tagte in unregelmäßigen Abständen, ohne größere Bedeutung zu gewinnen. Die Entscheidungen an der Spitze fielen ohne Beteiligung der zentralen Sowjetgremien, und auch die lokalen und regionalen Sowjets verloren, wie noch zu zeigen sein wird, ihre Bedeutung als Entscheidungsträger; beide wurden durch "außerordentliche" Organe ersetzt. Parteipolitische Rücksichtnahme war nicht mehr vonnöten: Die Linken Sozialrevolutionäre, die – gestützt auf ihre starke Stellung im VCIK – die Rechte der Sowjets verteidigt hatten, befanden sich seit ihrem GlossarPutschversuch im Juli 1918 im offenen Konflikt mit den Bolschewiki.

Im Kampf gegen Hunger, Krieg und Konterrevolution verlieh die Regierung zivilen wie militärischen Kommissariaten diktatorische Vollmachten. Wo die vorhandenen Institutionen zur Bewältigung der Probleme nicht auszureichen schienen, schuf sie neue. Eine Vielzahl von Kommissionen und Organisationen agierte und agitierte schließlich neben-, mit- und gegeneinander. Der Rat der Volkskommissare koordinierte und legalisierte die häufig andernorts getroffenen Entscheidungen; aus der kollegial verfaßten Regierungsbehörde wurde eine plenipotente Schaltstelle der Macht. Daß dieses System von Kommissariaten und Kommissionen ohne klare Abgrenzung von Rechten und Zuständigkeiten nicht binnen kurzem in einem völligen Chaos endete, lag wohl daran, daß die kleine bolschewistische Führungsspitze die wichtigsten Ämter in Personalunion vereinte, daß oberhalb der Institutionen sich das Chaos lichtete und die Entscheidungsgewalt in der Hand weniger zusammenlief.

Man hat zu Recht darauf hingewiesen, daß das Gewicht des Rates der Volkskommissare im staatlichen Willensbildungsprozeß mit der unangefochtenen Autorität seines Vorsitzenden, GlossarLenin, eng zusammenhing. Der Rat basierte auf seinem Konzept; am Auf- und Ausbau und an der Verteidigung seiner Rechte hatte Lenin wesentlichen Anteil. Er stärkte die Regierung gegenüber der "parlamentarischen" Mitsprache des VCIK und hielt sie frei von der Gängelung durch die Partei. Schon bei Lenins erster Erkrankung im Frühjahr 1922 erwies sich, daß er in dieser vermittelnden Funktion durch seine Stellvertreter nicht zu ersetzen war. Der Rat der Volkskommissare konnte ohne Lenin, so zeigte sich, keine weiterreichenden Entscheidungen selbständig tragen. Er blieb auf die stete Unterstützung und Absicherung im Politbüro angewiesen, wohin sich das Schwergewicht der politischen Führung nun verlagerte. Diese Entwicklung hatte – folgt man der Literatur – bereits im Bürgerkrieg begonnen: mit dem Ausbau des Parteiapparats an der Spitze und dem Aufbau einer das ganze Land erfassenden Parteiorganisation. Der "Dualismus" von Partei und Staat wird dahinter als Grundproblem erkennbar – eine Konstellation, die im Gründungsdekret des Rates der Volkskommissare, im ursprünglichen Konzept des "Sowjetstaats" gar nicht "vorgesehen" war.

Helmut Altrichter