Die Abdankungsurkunde des Zaren Nikolaus II., 2. (15.) März 1917

Einführung

Die Unruhen, die aufgrund des Brotmangels am 23. Februar (8. März) 1917 in GlossarPetrograd ausbrachen, gingen rasch in Massenkundgebungen gegen die Autokratie über. Der Zar reagierte darauf bereits am 24. Februar (9. März), sofort nachdem er vom Geschehen in der Hauptstadt unterrichtet worden war. Er telegrafierte dem Truppenbefehlshaber des Petrograder Militärbezirks GlossarChabalov:

"Ich befehle, die Unruhen in der Hauptstadt, die in der schweren Zeit des Krieges gegen Deutschland und Österreich unzulässig sind, noch morgen zu beenden".1

Das Telegramm des Zaren bedeutete das Ende der Versuche, die verzweifelten Massen zur Vernunft zu bringen. Als man am 25. Februar (10. März) auf die Demonstranten schießen ließ, war dies der Anfang vom Ende des herrschenden Regimes.

"Die Sache war die, daß man in der ganzen großen Stadt nicht einmal einige Hunderte von Menschen finden konnte, die mit der bestehenden Macht sympathisierten..."2

Um einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, schickte der Dumavorsitzende GlossarM. Rodzjanko dem Zaren ein Telegramm, in dem er die Einsetzung einer Regierung verlangte, die dem Parlament und der Gesellschaft gegenüber verantwortlich sein sollte.

"Es gibt keinen anderen Ausgang zum Licht" – telegrafierte er dem Zaren.3 Als Nikolaus das Telegramm las, sagte er einem Vertrauten:

"Dieser dicke Rodzjanko hat mir wieder allerhand Unsinn geschrieben, auf den ich gar nicht antworten werde."4 Statt einer Antwort erhielten die Abgeordneten eine Verordnung, die Dumasitzungen vorübergehend einzustellen. Somit wurde ein weiteres legitimes Band zwischen dem Zaren und der Bevölkerung beseitigt.

Sogar nach dem Sieg des Aufstandes am 27. Februar (12. März) "konnte man die Hauptstadt durch eine einfache Unterbrechung des Zugverkehrs nach Petersburg zum Einlenken bringen: Nach drei Tagen hätte die Hungersnot Petersburg zur Aufgabe des Widerstandes gezwungen."5 Der Zar wußte das und beeilte sich nicht, Konzessionen zu machen. Am 27. Februar (12. März) lehnte er die Bestellung des Ministeriums GlossarL'vov ab, das der GlossarDuma verantwortlich sein sollte. Auch Großfürst GlossarMichail sowie die Oberbefehlshaber der Fronten GlossarN. Ruzskij und GlossarA. Brusilov forderten ein solches Ministerium. Der Zar vertrat dagegen die Ansicht: Wenn im Lande rebelliert wird, darf man nicht nachgeben. 1916/1917 hatten die höchsten Militärkreise Gespräche über einen Umsturz am Hofe geführt, der das Ziel haben sollte, den Weg für liberale Reformen freizumachen. Nun, da die Revolution in der Hauptstadt bereits im vollen Gange war, trat der Oberbefehlshaber der Fronten GlossarM. Alekseev an den Zaren mit dem Vorschlag heran, Zugeständnisse zu machen. Er berief sich dabei auf General Ruzskij, der die Ansicht vertrat, daß "unter den derzeitigen Bedingungen Repressionsmaßnahmen die Situation nur verschärfen" würden.6

Doch Nikolaus II. ließ ein Strafkommando zusammenstellen, ernannte General GlossarIvanov zu dessen Befehlshaber und stattete ihn mit diktatorischen Vollmachten aus. Von Mogilev aus machte es sich auf den Weg in die Hauptstadt. Sabotageaktionen der Arbeiter hinderten General Ivanov daran, rasch die Hauptstadt zu erreichen.7 Doch auch der liberalen Generalität war an seinem Erfolg nicht gelegen; er hätte die Zerschlagung der Vertretungsorgane und der liberalen Parteien Rußlands einschließlich der GlossarOktobristen und die Rückkehr zu dunkler Reaktion bedeutet. Entsprechend verhielt sie sich.

Am 28. Februar (13. März) verließ der Zar das Hauptquartier, um seine Familie in Carskoe Selo aufzusuchen. Doch sein Zug wurde in der Nacht bei Malaja Višera angehalten, da die nächste Bahnstation bereits in die Hände des "Gegners" gefallen war. Und nach einigen Verschiebungen landete er schließlich in Pskov, im Stab der Nordfront. Hier konfrontierte ihn der Oberbefehlshaber der Nordfront, General Ruzskij, erneut mit der Forderung nach einem verantwortlichen Ministerium. Der Zar gab zunächst nicht nach, denn ein Kabinett, das dem Parlament und nicht dem Selbstherrscher verantwortlich war, widersprach seinen Staatsvorstellungen. Nach langer Diskussion mit N. Ruzskij willigte er schließlich ein. Die Macht war ihm letztendlich mehr wert als die Prinzipien. In der Nacht auf den 2. (15.) März wurden Ivanovs Truppen auf Befehl des Zaren "zum Stehen gebracht".

"Mit diesen Instruktionen gab Nikolaus den Gedanken auf, die Unruhen in Petrograd niederzuschlagen, und wählte den Weg der politischen Versöhnung. Er hoffte, seine Zugeständnisse würden mit der Zeit dieselbe beruhigende Wirkung auf das Land ausüben wie das GlossarManifest vom 17. Oktober 1905."8 Aber es war zu spät.

Seit dem 28. Februar (13. März) überschwemmten Massendemonstrationen unter rotem Banner Moskau und andere Industriezentren des Landes. Die Untätigkeit der Generalität und die Teilnahme der Hinterlandsgarnisonen am Aufstand ermöglichten der Revolution im ganzen Land den Sieg. Die alte Ordnung brach zusammen. Rußland stand vor der Aufgabe, eine neue Ordnung zu errichten.

Unter dem Eindruck seiner Unterredungen mit den Führern des GlossarArbeiter- und Soldatenrates stellte M. Rodzjanko eine Verbindung mit dem Stab der Nordfront her.

"Der Haß gegen die Monarchie hat seine äußeren Grenzen erreicht", teilte er Ruzskij mit. Im Falle eines Thronverzichts, so behauptete Rodzjanko, werde es "unserer ruhmreichen Armee an nichts mehr fehlen". Er beruhigte Ruzskij mit der Nachricht, daß "die Regierungsmacht zur Zeit auf das GlossarProvisorische Dumakomitee übergegangen ist"9. Das war die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze (Ruzskij ahnte nicht, wie hoch der Einfuß des Rates war), und sie hat Ruzskij so beeindruckt, daß er beschloß, den Thronverzicht Nikolaus' durchzusetzen.

Zu diesem Zeitpunkt befand sich Nikolaus de facto unter Hausarrest. Nachdem sich die Oberbefehlshaber der Truppen in ihrer Mehrheit für den Thronverzicht ausgesprochen hatten, stimmte Nikolaus ihm zu.

Am 2. (15.) März sollte eine Delegation des Provisorischen Dumakomitees unter Führung Rodzajnkos den Zaren aufsuchen. Ein Mitglied dieser Delegation, der rechte Abgeordnete GlossarV. Šul'gin hatte den Entwurf einer Abdankungsurkunde zugunsten des Zarensohnes GlossarAleksej (unter der Regentschaft des Zarenbruders Michail) vorbereitet. Die Führer des Rates erklärten, sie würden der Delegation erst dann eine Lokomotive zur Verfügung stellen, wenn im Entwurf der Hinweis auf die Übergabe der Macht an Aleksej gestrichen werde. Die Vertreter der Duma meinten freilich, der Zar sollte selbst darüber befinden, an wen er seine Machtbefugnisse abtrete. So wurde eine Geheimdelegation unter Führung von V. Šul'gin und GlossarA. Gučkov zu ihm geschickt, die den ursprünglichen Entwurf dabei hatte.

Am 2. (15.) März 1917 unterzeichnete der Zar das Telegramm über den Thronverzicht zuerst zugunsten seine Sohnes Aleksej, später zugunsten seines Bruders Michail. Diese zweite Variante wurde in den Text der Abdankungsurkunde aufgenommen. Nach dem damals geltenden GlossarThronfolgegesetz vom 1796 hatte Nikolaus II. kein Recht, im Namen des Sohnes auf den Thron zu verzichten. Und Aleksej konnte das erst tun, wenn er die Volljährigkeit erreicht hatte. Somit war das ganze Thronverzichtsverfahren juristisch fragwürdig. Dem Zaren war dies offenkundig bewußt. Die Hofdame GlossarVyrubova erinnerte sich an seine Worte:

"Man hat mich zu diesem Entschluß gezwungen, über mir hängt ein Fallbeil, das könnte ich jederzeit beweisen, wenn man mich danach fragen sollte."10 Und Glossar P. Miljukov meinte:

"Man kann sich nicht der Schlußfolgerung erwehren, daß Nikolaus II. in diesem Fall ein falsches Spiel getrieben hat [...] Die schweren Tage würden vergehen, danach werde sich alles legen, und dann werde man das gegebene Versprechen zurückziehen können."11

Das Manifest wurde am 2. (15.) März um 23 Uhr 40 Minuten im Salonwagen des Zaren in Anwesenheit von General Ruzskij, Gučkov, Šul'gin, des Ministers des Kaiserlichen Hofes GlossarFrederiks und der Leiters der Feldkanzlei General GlossarNaryškin unterzeichnet. Unter dem Manifest wurde die Uhrzeit 3 Uhr tags gesetzt. Als Motiv für den Thronverzicht nannte der Zar die Aufrechterhaltung der nationalen Eintracht in Angesicht des Feindes.

Die Rhetorik des Manifests bezaubert die Forscher manchmal derart, daß sie bereit sind, dem Zaren eine gewisse Willensfreiheit bei seiner Entscheidung für oder gegen den Verzicht zuzugestehen. So behauptet Pipes:

"Alle Anzeichen sprechen dafür, daß Nikolaus aus patriotischen Motiven abdankte; aus dem Wunsch, Rußland eine demütigende Niederlage zu ersparen und seine Streitkräfte vor dem Zerfall zu retten. [...] Wäre es Nikolaus hauptsächlich darum gegangen, den Thron für sich zu retten, dann hätte er unverzüglich einen Separatfrieden mit Deutschland geschlossen und die Aufstände in Petrograd und Moskau mit Hilfe der Frontruppen niedergeschlagen."12 Die Meinung des amerikanischen Historikers steht in krassem Widerspruch zu den Tatsachen, die für die Atmosphäre der ersten Märztage bezeichnend sind. Nach dem Scheitern der Expedition Ivanovs waren dem Zaren keine Generäle mehr zu Befehl gestanden, die bereit gewesen wären, die Rebellion zu unterdrücken, und gerade Generäle waren zum Entschluß gekommen, daß es ohne die Beseitigung Nikolaus' nicht gelingen werde, den Sieg zu erringen. Zum Zeitpunkt des Thronverzichts hatte der Zar de facto seine Macht bereits verloren. Wie wir weiter zeigen werden, hat Nikolaus Pipes' Illusionen hinsichtlich der erhabenen Motive und der Freiwilligkeit des Thronverzichts nicht geteilt.

Nikolaus erklärte seinen Thronverzicht zugunsten Michails damit, daß er nicht bereit sei, sich "von Unserem geliebten Sohne" zu trennen. Nikolaus trug Michail auf, "in voller Übereinstimmung mit den Volksvertretern in den gesetzgebenden Körperschaften", d.h. als ein konstitutioneller Monarch zu regieren. Bereits nach dem Thronverzicht bestätigte Nikolaus II. Fürst G. L'vov, einen Führer der GlossarZemstvo-Bewegung, den die GlossarKadetten vorgeschlagen hatten, rückwirkend in seinem Amt als Premierminister. Der Zar und seine Familie wurden verhaftet. Am 3. (16.) März 1917 verzichtete Großfürst Michail, ein Mann von liberalen Anschauungen, auf den Thron; seine Tat begründete er mit der Entscheidung des zukünftigen Parlaments.

Aleksandr Šubin

1 Ol'denburg, S., Carstvovanie Imperatora Nikolaja II, Moskau 1992,S. 621. [1]

2 Šul'gin, V., Dni. 1920, Moskau 1990, S. 173. [2]

3 Ol'denburg, Carstvovanie Imperatora, S. 622. [3]

4 Miljukov, P., Vospominanija, Moskau 1991, S. 452. [4]

5 Ol'denburg, Carstvovanie Imperatora, S. 630. [5]

6 Ol'denburg, Carstvovanie Imperatora, S. 627. [6]

7 Ferro, M., Nikolaus II., der letzte Zar, München 1993, S. 284-285. [7]

8 Pipes, R., Die Russische Revolution, 3 Bde, München 1992/93, Bd. 1, S. 533. [8]

9 Ol'denburg, Carstvovanie Imperatora, S. 629. [9]

10 Ferro, Nikolaus II., S. 293. [10]

11 Miljukov, Vospominanija, S. 467. [11]

12 Pipes, Russische Revolution, Bd. 1, S. 537. [12]