Dekret des 2. Allrußländischen Sowjetkongesses über den Grund und Boden, 26. Oktober (8. November) 1917

Einführung

Das Dekret "Über den Grund und Boden" stand im Einklang mit dem Agrarprogramm der GlossarSozialrevolutionäre, bedeutete aber einen radikalen Schwenk in den Losungen der GlossarBolschewiki, weil es nicht nur die entschädigungslose Enteignung des Gutsbesitzes sowie der Ländereien von Klöstern und Kirchen sanktionierte, sondern zugleich die Aufteilung des enteigneten Bodens unter den Bauern vorsah. Noch im Agrarprogramm vom Frühjahr 1917 hatte GlossarLenin die Überführung des Gutsbesitzes in staatliche Mustergroßbetriebe gefordert und die Aufteilung des Bodens als bürgerlich abgelehnt. Jedes Privateigentum an Boden, Bodenschätzen, Gewässern, Wäldern und Naturkräften wurde nun für immer aufgehoben. Der Boden sollte weder verkauft noch gekauft, verpachtet, verpfändet oder in irgendeiner Weise veräußert werden dürfen.

Das Dekret sanktionierte die von den Bauern eigenmächtig begonnenen und zuvor rechtswidrigen Handlungen. Die GlossarFebruarrevolution1917 hatte auch die Bauern aufgerüttelt. Sie weckte ihre Erwartungen auf eine baldige Erfüllung ihrer beharrlich vorgebrachten Forderungen nach GlossarLand und Freiheit und einer Glossar"schwarzen Umverteilung" des Gutslandes. Als sich zeigte, daß die GlossarProvisorische Regierung über die Prinzipien der Agrarreform keine Einigkeit erzielen konnte und die Lösung der Agrarfrage hinausschob, begannen die Bauern im Frühjahr zunächst vereinzelt, später immer verbreiteter ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. So eigneten sie sich brachliegendes Gutsland an. Es kam zu Zerstörungen von Gebäuden und Raub von Eigentum. Mancherorts bemächtigten sich die Bauern des Bodens der Adligen, vertrieben diese von ihrem Besitz und brannten die Herrenhäuser nieder.

Ein entschiedener Versuch, die Revolution auf dem Lande unter Kontrolle zu bringen, unterblieb. So folgten dem Dekret nicht umgehend Ausführungsbestimmungen. Die schließlich getroffenen Regelungen blieben vage. Die im Dekret für die Durchführung der Enteignung als zuständig benannten Organe, die GlossarVolost'-Bodenkomitees, bestanden in den meisten Gebieten noch gar nicht. Statt alle Gutsländereien in ihre Verfügung zu bringen und dabei den gutsherrlichen Besitz zu registrieren und unter Wahrung der Ordnung zu schützen, wurden die Komitees zumeist erst nach der Enteignung des Privatlandes gebildet. Für die Unterlassung der Lenkung gab es Gründe. Das Dekret selbst war bei den Bolschewiki umstritten, eine Einigung mit dem Koalitionspartner, den GlossarLinken Sozialrevolutionären (LSR), über die konkreten Prinzipien der Bodenaufteilung erschien unmöglich. Den LSR schwebte eine "ausgleichende Landnutzung" auf Basis von Verbrauchs- und Arbeitsnormen vor. Die Aufteilungen sollten sich nach dem GlossarSubsistenzprinzip richten. Die Bolschewiki waren dagegen überzeugt, daß die bäuerliche Kleinproduktion permanent den Kapitalismus reproduziere, und lehnten deshalb diese Form der Landnutzung aus ideologischen Gründen ab. Selbst eine zeitweilige Aufteilung des Bodens galt ihnen als rückwärtsgewandte Maßnahme. Die Bolschewiki blockierten deshalb geradezu eine Klärung der komplizierten und strittigen Detailfragen, und nahmen in Kauf, daß dadurch die Bauern weitgehend autonom handeln konnten. Trotz aller theoretischer Bedenken war die "schwarze Umverteilung" für sie politisch opportun, weil sie Adel, Kirche und wohlhabendere Bauern schwächte und damit zugleich die ökonomische Basis für die Gegner der neuen Regierung zerstörte.

Die Regelungen des Dekrets verstanden sich bis zu einem Beschluß der GlossarKonstituierenden Versammlung (Konstituante) als vorläufig. Sie schränkten dennoch die freie Entscheidung der Konstituante ein, weil diese kaum hinter den geschaffenen Fakten zurückbleiben konnte. Die Bauern waren angesichts der Sanktionierung ihres Tuns durch das Dekret vor allem daran interessiert, vollendete Tatsachen zu schaffen und durch die Zerstörung des Gutshofs die Rückkehr des Gutsherren unmöglich zu machen. Den neu erhaltenen Boden bestellten sie zunächst nur zögerlich und erste Umverteilungen beschränkten sich häufig auf das zugewonnene Land. Gerade weil in den Dörfern Unsicherheit über die Dauerhaftigkeit der Regelungen herrschte, trat das paradoxe Ergebnis ein, daß die Bauern in den Bolschewiki die Garanten der Bodenaufteilung erblickten, so daß sie ihnen im Bürgerkrieg im Konflikt mit den Weißen – trotz aller gravierenden Meinungsverschiedenheiten – die Unterstützung nicht versagten.

Die Agrarrevolution war in der Praxis eine Angelegenheit auf der Ebene der Dörfer, bestenfalls der Amtsbezirke, die vor allem die Rechtsansichten der lokalen Bauernschaft spiegelte. Die Bauern betrachteten ihr Handeln durch die formale Übereinstimmung mit der Regierung für legitimiert und strebten keine überregionale Interessenvertretung an. Die gedankliche Urheberschaft der Sozialrevolutionäre an dem Dekret war unter diesen Umständen weitgehend belanglos. Ihr Programm berücksichtigte viele bäuerliche Anschauungen, die weitergehenden ideologischen Festlegungen waren den Bauern jedoch fremd. Die Agrarrevolution entzieht sich deshalb einer einfachen generalisierenden Beschreibung. Regional ergibt sich ein erstaunlich uneinheitliches Bild sowohl hinsichtlich der Enteignungen als auch hinsichtlich von Umfang und Prinzipien der Neuverteilung des Bodens. Dabei ist von West nach Ost ein Gefälle hinsichtlich der Akzeptanz fortschrittlicherer Formen der Bodennutzung durch die Separation von Betrieben aus der GlossarGemeinde festzustellen. Gemeinsam war dem Handeln der Bauern in der Regel die Ausrichtung gegen den Gutsbesitz und das Bestreben, die Ergebnisse der GlossarStolypinschen Agrarreform in Bezug auf die Verleihung von Bodeneigentum rückgängig zu machen. Vielerorts schloß die entschädigungslose Enteignung auch Land in bäuerlichem Privatbesitz ein. Betroffen waren Bauern, die zuvor gegen den Willen der Gemeinde ihren Boden in konsolidierter Form als Glossarotrub vom Gemeindeland abgetrennt hatten. Nur in den westlichen Landesteilen blieben zum Teil die durch Aussiedlung gebildeten GlossarEinzelhöfe erhalten. Nachdem anfangs häufig nur die enteigneten Flächen aufgeteilt worden waren, kam es nachfolgend zu weiteren Umverteilungen, die zunehmend das gesamte Gemeindeland einbezogen und auch Rückkehrern aus den Städten Boden zuwiesen. Dabei kamen unterschiedliche Verteilungskriterien zur Anwendung. Während Gutsland sofort enteignet wurde, blieben die Ländereien der Klöster häufig zunächst verschont und wurden vielfach erst auf Druck der Behörden 1919 und 1920 enteignet. Nur wenige Güter blieben entsprechend den Vorstellungen der Bolschewiki von der Aufteilung verschont. Im Ergebnis wurde im Verlauf der Agrarrevolution die mit der Stolypinschen Agrarreform begonnene Übergabe des Bodens in das Privateigentum der Bauern rückgängig gemacht. Fast der gesamte Boden fiel wieder an die Bodenumverteilungsgemeinden.

Bis heute ist unklar, wieviel Land die Bauern durch die Konfiskation der privaten Ländereien dazugewannen. Die von den Bauern als Anteilland genutzte landwirtschaftliche Nutzfläche (Acker, Gartenland, Wiesen und Weiden) betrug 1917 240 Mio. ha, 1927 315 Mio. ha. Der hier ausgewiesene Zugewinn um 75 Mio. ha oder 30 % übertreibt den tatsächlichen Landgewinn allerdings, weil hier auch die Fläche mitgerechnet ist, die zuvor als Privateigentum in den Händen der Bauern war. Weiter ist zu berücksichtigen, daß die Bauern schon zuvor etwa die Hälfte des Gutslandes in Form von Landpacht genutzt hatten. Einen besseren Anhaltspunkt für den Zugewinn der Bauern vermitteln die Zahlen der landwirtschaftlichen Erhebung von 1916. Zu diesem Zeitpunkt verfügten die Güter auf dem späteren Territorium der Sowjetunion lediglich über 4 % der Pferde und bestellten 8,2 % der Ackerfläche. Diese Zahlen untertreiben den Anteil der Güter in der Vorkriegszeit etwas, da die Gutsbetriebe unter dem kriegsbedingten Mangel an Arbeitskräften auf dem Lande am schärfsten litten. Der wirkliche Zugewinn dürfte deshalb kaum mehr als 10 % des vor der Revolution von den Bauern genutzten Landes betragen haben.

Von der Aufteilung des Gutslandes profitierte also nur ein Teil der Bauern. Dort, wo es zuvor praktisch keine Güter gegeben hatte – in Nordrußland, im Ural und in den asiatischen Landesteilen –, gewannen die Bauern auch keinen Boden dazu. Nur in der Ukraine (einschl. der Krim), Weißrußland und im Zentralen GlossarSchwarzerdegebiet war der Zugewinn etwas bedeutender. Auch hier verzeichneten in der Regel nur die Gemeinden, die an Gutsland angrenzten, einen Zuwachs an Boden, weil ein Landausgleich zwischen den Gemeinden praktisch nicht stattfand. Ein erheblicher Teil der russischen Bauern, vermutlich die Mehrheit, ging also bei der Agrarrevolution leer aus. In den übervölkerten zentralen Gebieten stillte der Bodentransfer den Glossar"Landhunger" der Bauern keineswegs. Durch das Zurückfluten der Bevölkerung aus den großen Städten und verbreitete Abtrennungen aus dem väterlichen Haushalt verringerte sich bei den zunächst häufigen Bodenumverteilungen die durchschnittliche Fläche je Haushalt sogar. Die vielbeschworene Nivellierung der Betriebe bezog sich allerdings nur auf den Boden, nicht aber auf die Verteilung der Produktionsmittel, die somit noch stärker als vor 1917 zur Grundlage der sozialen Differenzierung wurde. Über Land verfügte nach der Agrarrevolution praktisch jeder dörfliche Haushalt. Dagegen war etwa ein Drittel der Betriebe darauf angewiesen, Inventar von anderen Bauern zu mieten, weil ihnen selbst die elementarsten Produktionsmittel wie Pferd und Pflug zur Bestellung des Bodens fehlten.

Auf der unterschiedlichen Beurteilung der Ergebnisse der Agrarrevolution basierten Mißverständnisse zwischen Bauern und Bolschewiki. Die Bauern sahen sich – nicht ganz unberechtigt – als eigentliche Akteure der Agrarrevolution. Mit dem Land der Gutsbesitzer nahmen sie sich nur, was ihnen nach ihrem eigenen Rechtsbewußtsein schon immer zustand. Dafür fühlten sie sich niemandem zu Dank verpflichtet. Die Kommunisten beanspruchten dagegen für sich, den Bauern den Boden gegeben und damit deren soziale Lage wesentlich verbessert zu haben, und verlangten dafür Gegenleistungen.

Die Agrarrevolution verschärfte mit dem Verzicht auf regulierendes Eingreifen die Abkapselung des Dorfes von dem Rest der Gesellschaft. Politisch wertete das die bäuerliche Selbstverwaltung im Rahmen der Gemeinden auf, die mit der Stolypinischen Agrarreform abgeschafft werden sollte. Ökonomisch gefährdete die Ausrichtung auf bäuerliche GlossarSubsistenzwirtschaften mit der nivellierenden Verteilung des Bodens akut die Erzeugung von Überschüssen für den Markt. Channon betont, daß damit die Duldung der Bodenaufteilung im lokalen Rahmen unmittelbar in den künftigen, gewaltsame Formen annehmenden Konflikt mit den Bauern um den Erhalt von Getreide zur Versorgung des Landes und der Armee führte, der schließlich in den Bauernaufständen kulminierte. Lenins Politik war also keineswegs konsistent. Das Entgegenkommen in der Bodenfrage gefährdete die Lebensmittelversorgung. Den Widerspruch, daß die Bodenaufteilung die wohlhabenderen Bauern schwächte, von denen man anschließend wieder Marktüberschüsse verlangte, lösen die Bolschewiki in der Praxis nicht auf.

In längerfristiger Perspektive ist festzuhalten, daß das Dekret "Über den Grund und Boden" die sozialistische Agrarpolitik mit einem gravierenden Widerspruch belastete und sie dem Vorwurf aussetzte, die Bevölkerung mit den ersten Maßnahmen bewußt über die eigentlichen Zielsetzungen zu täuschen. Warum schrieb eine Partei, die den Zusammenschluß der Bauern zu Agrargroßbetrieben auf kollektiver Grundlage anstrebte, eine Bodenreform mit der Landvergabe an landlose Bauern auf ihre Fahnen? Obwohl die weitere Entwicklung in der Sowjetunion zeigte, daß anschließend der Zusammenschluß der Bauern zu GlossarKollektiven nur mit Zwang vollzogen werden konnte, wurde der faktische Ablauf in der Sowjetunion in drei Stufen (Bodenreform, Anfachen des "Klassenkampfes", GlossarKollektivierung) dogmatisiert und zum Muster der richtigen Agrarpolitik in der sozialistischen Revolution erklärt. In allen osteuropäischen Staaten versuchten die Kommunisten nach dem Ende des GlossarZweiten Weltkriegs die Bevölkerung und insbesondere die Bauernschaft auf ihre Seite zu ziehen, indem sie eine umfangreiche Bodenreform mit nivellierender Wirkung (Landzuteilung an Flüchtlinge und Neubauern, Landaufstockung für Landarbeiter und landarme Bauern) durchsetzten. Wie nach 1917 entstanden dabei bäuerliche Subsistenzwirtschaften, denen häufig hinreichende Produktionsmittel zur Feldbestellung fehlten. Die Zerschlagung marktfähiger Betriebe wirkte sich in der Folge negativ auf die Marktleistung der Bauern aus und verschärfte die Versorgungsschwierigkeiten. Auch hier widersetzten sich die Bauern der anschließenden so dass wiederum Zwang zum Einsatz kam.

Die Interessenlage der Bauern prägte die Einstellung der russischen Bevölkerung nachhaltig. Ihnen war 1917 das Bestreiten des Eigentumsrechts für den Adel wichtiger als die Erlangung eines Eigentumsrechts für sich selbst. Der Sozialisierung des Bodens widersetzten sich selbst die bäuerlichen Bodeneigentümer nicht nennenswert, obwohl sie einen erheblichen Teil des Bodens mit dem Eigentumstitel in ihren Händen hielten. In der Folgezeit blieb der Begriff des Privateigentums in der Sowjetunion negativ besetzt und wurde mit allen Schattenseiten des Kapitalismus in Verbindung gebracht. Obwohl seit Anfang der 1990er Jahre mehrere Gesetze Privateigentum an Grund und Boden vorsehen (u.a. GlossarGesetz über die Bauernwirtschaften von 1990, Zivilgesetzbuch von 1994), sind ihre diesbezüglichen Paragraphen bis heute nicht in Kraft. Selbst die auf den städtischen Boden beschränkte Verleihung des Eigentumsrechts führte 2001 zu Tumulten in der GlossarDuma. Meinungsumfragen belegen, daß eine sogar wieder anwachsende Mehrheit der russischen Bevölkerung privates Eigentum an landwirtschaftlichen Grund und Boden ablehnt. Damit ist eine Voraussetzung für die notwendige Modernisierung der russischen Landwirtschaft, nämlich den Boden beleihen zu können, noch immer nicht gegeben.

Stephan Merl