Stalins Trinkspruch auf das Wohl des russischen Volkes: Rede beim Empfang zu Ehren der Truppenbefehlshaber der Roten Armee im Kreml, 24. Mai 1945

Einführung

Am 8. Mai 1945 wurde im Berliner Vorort Karlshorst die GlossarUrkunde über die bedingungslose Kapitulation Deutschlands unterzeichnet. Am 9. Mai wandte sich GlossarStalin mit einer Ansprache an das sowjetische Volk, in deren Druckfassung, die einen Tag später in der Zeitung Glossar"Pravda" erschien, zu lesen war, daß der "historische Tag der endgültigen Zerschlagung Deutschlands, der Tag des großen Sieges unseres Volkes über den deutschen Imperialismus gekommen ist".

Einige Zeit später erteilte er der Führung des GlossarGeneralstabs der Sowjetarmee den Befehl, Überlegungen bezüglich der Siegesparade anzustellen und ihm zukommen zu lassen. Stalin schlug außerdem vor, den Sieg "nach russischer Sitte" mit einer großen Festtafel zu feiern, die im Kreml auszurichten war. Nach Stalins Plan waren dazu Oberbefehlshaber der Truppen und andere hochrangige Militärs einzuladen. Der Empfang im Kreml sollte der Siegesparade vorausgehen.

Das Generalstab ging unverzüglich an die Arbeit. Zusammen mit der GlossarPolitischen Hauptverwaltung der Sowjetarmee, so erinnerte sich GlossarS. Štemenko, bereitete er die Teilnehmerlisten für die Festtafel im Kreml vor.

Der Festempfang im Kreml zu Ehren der Oberbefehlshaber der Truppen der GlossarSowjetarmee fand am 24. Mai 1945 statt. Bei dieser Gelegenheit sprach Stalin den berühmten Trinkspruch "auf das Wohl des russischen Volkes".

Bis in jüngster Zeit stützten sich die Forscher bei allen Interpretationen des stalinschen Trinkspruchs auf die Version, die bereits am 25. Mai 1945 in den zentralen Zeitungen veröffentlicht wurde und danach in verschiedenen Werkausgaben Stalins erschien.

Das Interpretationsspektrum des stalinschen Trinkspruchs ist äußerst breit. So bemerkte u.a. N. Popovič, daß Stalin in seinem Trinkspruch "versuchte, den russischen Nationalismus und Patriotismus in Beziehung zum Sowjetpatriotismus zu setzen". V. Kuliš betonte, daß Stalins Trinkspruch den Aufruf enthielt, mit der Erfahrung des soeben zu Ende gegangenen Krieges kritisch umzugehen, obwohl keiner der sowjetischen Historiker und "Nichthistoriker" "der Versuchung nachgab, Fehler der Regierung" (und eigentlich I. Stalins) und "Augenblicke einer verzweifelten Lage" in den Jahren 1941 und 1942, von denen beim Empfang zu Ehren der Oberbefehlshaber der Truppen der GlossarRoten Armee die Rede war, einer "Analyse zu unterziehen". Andere Historiker wiederum, wie z.B. M. Lobanov, sahen in Stalins "Lobhudelei" eine Spiegelung der komplizierten "Beziehungen" zwischen dem sowjetischen Führer und dem russischen Volk.

Nach Ansicht von V. Pochlebkin erinnerte I. Stalins Trinkspruch "seiner historischer Rolle und seinem Stellenwert unter einer Reihe von formalen Akten, die den Krieg beendeten, nach" an das Manifest des Zaren GlossarAleksandr I., das auf den November 1812 zurückging. Stalin studierte sorgfältig die Geschichte des GlossarVaterländischen Krieges von 1812, maß der historischen Symbolik eine große Bedeutung bei und griff darauf in seiner politischen Alltagspraxis zurück. Wie der gleiche Autor meinte, mußte der sowjetische Führer die historische Parallele zwischen den zwei Vaterländischen Kriegen – von 1812 und von 1941-1945 – herstellen, damit das Volk oder zumindest die Vertreter der Intelligencija die tiefliegende Bedeutung dieser Ereignisse begriffen. Allerdings, so die unerfreuliche Schlußfolgerung des Historikers, habe es zum Jahre 1945 keine "echte, denkende Intelligencija" mehr gegeben: Stalin habe durch den Terror jene Personen ausgerottet, die über ein "breites und tiefes Wissen" auf dem Gebiet der vaterländischen Geschichte verfügten. Als Folge, so Pochlebkin, wurde die historische Analogie, die in Stalins Trinkspruch unübersehbar war, sogar von denjenigen nicht begriffen, die dem Führer nahe standen. Der "tiefe historisch Sinn" des Trinkspruchs habe sich kaum jemandem erschlossen; stattdessen wurde er "eng" und "primitiv-praktisch" als einer Art "Einteilung" des sowjetischen Volkes in das russische Hauptvolk und den zweitrangigen Rest bewertet.

G. Bordjugov und V. Bucharev unternahmen den Versuch, die "neue Strategie auf dem ethnopolitischen Bereich", zu deren Signum Stalins Trinkspruch beim Empfang der Oberbefehlshaber der Sowjetarmee wurde, detailliert zu analysieren. Sie wiesen darauf hin, daß die Bewertung des russischen Volkes als der führenden Kraft in der Sowjetunion, die Stalin in diesen Trinkspruch vornahm, bis dahin nur im Bezug auf die Partei und die Arbeiterklasse, jedoch nicht im Bezug auf ein Ethnos verwendet wurde.

Ein Bestandteil dieser "neuen Strategie" war es, die Russen den anderen Völkern des Landes gegenüber zu stellen. Somit machte der Führer den Versuch, sich auf die Autorität des russischen Volkes zu stützen, in seinem Namen aufzutreten und es auf diese Weise zu "einer Art Vermittler in seinen Beziehungen zu anderen Nationalitäten" zu machen.

Bordjugov und Bucharev versuchen, die Stilistik und die "verbal-symbolische Füllung" des Trinkspruchs freizulegen, und entdecken dabei, daß Stalin "gewisse Glossarbylinenhafte Eigenschaften des russischen Volkes" pries – den "klaren Verstand", den "standhafter Charakter" und die "Geduld" –, wobei er für die Lobhudelei an die Adresse der "mythenhaften Russen" Superlative und Hyperbeln verwendete. Auf diese Weise erhält die Rede des Führers weniger eine entsprechende "politische Tonalität", als daß sie in einer "menschennahen Dimension gesprochen wird". Sie trägt die Form eines "Trinkspruchs auf die Gesundheit", was ihre besondere Vertraulichkeit bedingt.

Nach Ansicht der besagten Autoren benutzte Stalin geschickt das psychologische Moment der Beichte, ein "Verfahren, das die Gefühle der vollen Vergebung bei Umgebung eines betrunkenen Menschen aktiviert". Er gestand zum ersten Mal seine Fehler, ohne sie den anderen aufzubürden.

Bordjugov und Bucharev wiesen darauf hin, daß die "Mystifizierung" an jener Stelle des stalinschen Trinkspruchs ihren Höhepunkt erreicht, wo das Spezifische an den Beziehungen zwischen dem russischen Volk und der "Regierung" formuliert wurde. Nach ihren Berechnungen kommt der Terminus "Regierung" in den aufeinanderfolgenden Sätzen fünf Mal vor, in zwei Fällen wird er groß geschrieben und klingt an den Stellen, wo die Rede von der Unterstützung und vom Glauben des Volkes in der schweren Stunden ist, wie "Herrscher" – "pravitel'". Sie zogen den Schluß, daß der Trinkspruch einen "gewissen mythologischen Raum bildet", wo die Hauptrolle "enthnokulturellen, und nicht soziopolitischen Faktoren gehört". V. Efimov, dem man allerdings – zieht man die stenografische Aufzeichnung des Trinkspruchs in Betracht – nicht zustimmen kann, behauptete, im Trinkspruch zeige sich der Einfluß, den der "religiöse Faktor" auf Stalins Denken hatte. Er meint, daß beim Trinkspruch der Satz über das russische Volk als dem älteren Bruder in der Familie der sowjetischen Brüdervölker fiel, doch Stalin ihn bei der Vorbereitung der Druckversion gestrichen habe. Zu diesem Satz, so Efimov weiter, wurde I. Stalin durch die Auseinandersetzung mit dem Matthäusevangelium veranlaßt, aus dem hervorging, daß nur Jesus Christus der "ältere Bruder" für alle Menschen sein kann.

Das Stenogramm des Trinkspruches, das im Privatfond des sowjetischen Führers entdeckt wurde, gestattet, gewisse Korrekturen an den früheren Interpretationen vorzunehmen, die sich auf die offizielle Zeitungsveröffentlichung des Trinkspruchs stützten.

Im großen und ganzen ist der in der Forschung etablierten Meinung zuzustimmen, daß Stalin in diesem Trinkspruch nicht nur die Schuld der sowjetischen Regierung, sondern auch seine persönliche Verantwortung für die Fehler und die "Augenblicke der verzweifelten Lage", die 1941-1942 entstanden, zugab. Dieses "Geständnis" erfolgte, wenn man das Stenogramm analysiert, aus dem Mund des Führers am 24. Mai 1945 mit aller Unmittelbarkeit. Dafür spricht unter anderem, daß Stalin sich an die Anwesenden beim Empfang im Kreml ausgerechnet als "Vertreter" der sowjetischen Regierung wandte. Zu beachten ist auch seine vorsätzliche Hervorhebung des Umstandes, daß das Volk wegen der Fehler, die die Regierung zuließ, diese Regierung und als Folge auch Stalin selbst "zum Teufel schicken" konnte. "Dies konnte passieren, denkt dran", erinnerte der Führer. "Wir machten Fehler", wiederholte er zum zweiten Mal.

Nach einer genauen Überlegung sah Stalin offensichtlich doch ein, daß er mit dem Eingeständnis seiner Verantwortung für die Fehler in der Anfangsphase des Krieges gegen Deutschland zu weit gegangen war. Deshalb beschloß der Führer, das Stenogramm sorgfältig zu redigieren.

Er versuchte, sich von der "Regierung" zu "distanzieren", die während des Krieges Versehen und Fehltritte zuließ, weshalb er aus dem Stenogramm die Wendung "Vertreter unserer Sowjetregierung" herausnahm. Offensichtlich hatte Stalin den Eindruck, daß in der Beschreibung der Eigenschaften des sowjetischen Volkes sich eine Ungenauigkeit eingeschlichen hatte, weshalb er anstelle des "gesunden Verstandes, des allgemeinpolitischen gesunden Verstandes" – "zdravyj smysl, obščepolitičeskij zdravyj smysl" –, der den Russen zueigen sei, den "klaren Verstand" – "jasnyj um" – setzte. Die passiv-abwartende Nuance, die in der Bewertung der Handlungen des russischen Volkes zu vernehmen war, das der "Partei glaubte", doch abwartete und hoffte, bis ihre Führung "der Ereignisse Herr wird", wurde vom Führer sofort als unerwünscht verworfen. Nach der entsprechenden Korrektur ergab sich, daß das russische Volk nicht nur seit Kriegsbeginn daran glaubte, "daß die Politik seiner Regierung richtig war", sondern auch diese unterstützte und dabei Opfer brachte, "um die Niederwerfung Deutschlands zu erreichen". Gerade das "Vertrauen des russischen Volkes zur Sowjetregierung" wurde in der endgültigen Formulierung Stalins zum "entscheidenden Faktor", der den "Sieg über den Faschismus gesichert hat".

Durch einen unvorsichtigen Strich hätte Stalin beinahe den logischen Aufbau seines Trinkspruchs "auf das russische Volk", der zur Publikation vorbereitet wurde, "verwischt". Stalin wollte bei der Aufzählung der herausragenden Eigenschaften des russischen Volkes ergänzen, daß dieses außer "klarem Verstand" und "standhaftem Charakter" auch einen "starken Rücken" habe, zog es jedoch vor, die beiden Wörter zu streichen. Offensichtlich waren solche Assoziationen unerwünscht, da sie auf den Gedanken bringen konnten, daß das russische Volk die Sowjetführung auf seinem "breiten Rücken" durch den Krieg getragen habe.

Vladimir Nevežin

(Übersetzung aus dem Russ. von L. Antipow)