Willy Brandts Regierungserklärung, 28. Oktober 1969

Einführung

Regierungserklärungen verorten Regierungsprogramme im Kontext der Zeit und geben so Einblick in vergangene Gegenwartsdeutungen, zeitspezifische Problemwahrnehmungen und politische Leitideen der historischen Akteure. Im Regierungssystem der Bundesrepublik kommt den so genannten "großen" Regierungserklärungen der Bundeskanzler nach ihrem Amtsantritt besondere Bedeutung zu. Als politische Standortbestimmung strukturieren sie die Regierungstätigkeit und entwickeln als "Berufungsinstanz und Referenzpunkt des Regierungshandelns" (Karl Rudolf Korte) eine hohe Bindewirkung für die Koalitionspartner und die Administration. Während der Regierungszeit GlossarWilly Brandts wirkten Regierungserklärungen zudem als Instrumente koalitionspolitischer Feinjustierung, da die Koalitionspartner keine förmlichen Koalitionsverträge schlossen.

Die Regierungserklärung Willy Brandts vom Oktober 1969 markiert in mehrfacher Hinsicht einen Umbruch. Nach langen Jahren der Opposition und dem Zwischenspiel einer Großen Koalition aus GlossarCDU und GlossarSPD (1966-1969) wurde erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine Bundesregierung von der SPD geführt. Möglich wurde dies durch den Bündniswechsel der GlossarLiberalen, für die der Eintritt in eine Koalition mit der SPD zunächst eine schwere innerparteiliche Zerreißprobe bedeutete, da nationalliberale Abgeordnete, wie der ehemalige Parteivorsitzende GlossarErich Mende und der einflußreiche Wirtschaftsflügel der FDP, einer Annäherung an die Sozialdemokratie kritisch gegenüberstanden. Daß mit Brandt, der 1933 vor der nationalsozialistischen Verfolgung ins skandinavische Exil geflohen war, erstmals ein Vertreter des "anderen Deutschland" einer Bundesregierung vorstand, unterstrich in den Augen vieler, zumal junger Menschen, ebenfalls den Zäsurcharakter der sozialliberalen Regierungsbildung. Bei der Bundestagswahl 1969 waren erstmals Angehörige der nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft geborenen Jahrgänge wahlberechtigt. Die SPD profitierte 1969 und bei den folgenden Wahlen besonders stark vom Zustrom dieser Jungwähler.

Die öffentliche Wirkung der Regierungserklärung Brandts wurde erheblich durch ihren visionären und bisweilen auch pathetisch anmutenden Ton bestimmt. Brandt erzielte diesen Effekt, indem er, dem Zeitgeist entsprechend, modern konnotierte sozialwissenschaftliche Termini verwendete und positiv besetzte Begriffe als Leitmotiv seiner Rede anklingen ließ, deren konkreter Bedeutungsgehalt aber weitgehend unbestimmt blieb. In rund 90 Minuten war 31mal von "Reform", 20mal von "Gesellschaft" und immerhin 8mal vom "Frieden" die Rede.

Auch wenn der neu gewählte Bundeskanzler eingangs demonstrativ Kontinuitätslinien zur Politik seines Amtsvorgängers herausstellte, war seine Regierungserklärung doch in vielerlei Hinsicht ein "Manifest des Neubeginns" (Wolfgang Jäger). Deutschlandpolitisch lief Brandts Formel von den "zwei Staaten", die "doch füreinander nicht Ausland sind", auf eine informelle Anerkennung der DDR-Staatlichkeit hinaus und markierte damit eine deutliche Richtungsänderung der bisherigen Politik. Im Blick auf die Ostpolitik blieben die Äußerungen weniger konkret, Brandts Plädoyer für eine "Politik des Gewaltverzichts, die die territoriale Integrität des jeweiligen Partners berücksichtigt", ließ sich aber als deutliches Signal der Verständigungsbereitschaft auf Grundlage der Nachkriegsgrenzen lesen.

Rund vier Fünftel der Rede bezogen sich auf innenpolitische Themen. Brandt reagierte auf die gestiegenen Partizipationsansprüche, die im Zuge des gesellschaftlichen Wertewandels der 1960er Jahre vor allem von jüngeren Bürgern artikuliert wurden, indem er den vielfältig deutbaren Begriff der "Demokratisierung" ins Zentrum seiner Regierungserklärung stellte. Brandt verband seine Forderung "mehr Demokratie [zu] wagen" mit konkreten Reformvorschlägen, etwa einer Herabsetzung des aktiven Wahlalters von 21 auf 18 Jahre. Dies war eine Einladung an die jugendliche Protestbewegung der Glossar68er, sich innerhalb der demokratischen Ordnung zu engagieren, markierte aber auch eine klare Scheidelinie zu denjenigen Teilen der außerparlamentarischen Opposition, die diese Ordnung überwinden wollten. Der Leitbegriff "Demokratisierung" bezog sich in erster Linie auf die Gestaltung des politischen Prozesses, zielte aber auch auf Veränderungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Allerdings fand "Demokratisierung" dort ihre Grenzen, wo sie Fragen der Besitzverhältnisse berührte. Bei einem Kernbereich partizipatorischer Reformen, der Glossarparitätischen Mitbestimmung von Arbeitnehmern in der Unternehmensführung größerer Betriebe, reichte die Schnittmenge politischer Gemeinsamkeiten zwischen den Koalitionspartnern nur für die dürre Ankündigung, der Bericht einer Expertenkommission würde "geprüft und erörtert". Konkretere Formulierungen scheiterten am Veto des FDP-Vorsitzenden GlossarWalter Scheel.

Mit der Ankündigung von mehr als 30 Reform- und Modernisierungsvorhaben nahm Brandt die für das Meinungsklima der späten 1960er Jahren charakteristische "Grundwelle des Veränderungswillens" (Hans Günter Hockerts) in der Bevölkerung auf. Brandt und seine Berater begriffen den rapiden wirtschaftlichen, technischen und sozialen Wandel als entscheidende Herausforderung der Politik. Bei der Bewältigung des Wandels wies Brandt der Wissenschafts- und Bildungspolitik eine Schlüsselstellung "an der Spitze der Reformen" zu. Anders als sein Amtsvorgänger GlossarKurt Georg Kiesinger, bezog Brandt die Herausforderung nicht nur auf die Modernisierung des politisch-administrativen Systems, sondern nahm auch Folgen der Umweltveränderung für den einzelnen Bürger in den Blick. Die Politik sei aufgefordert, diesem schützend und unterstützend beizustehen, etwa durch Programme zur "Humanisierung des Arbeitslebens", die den wachsenden Gesundheitsrisiken einer zunehmend technisierten und automatisierten Umwelt begegneten, und durch eine Arbeitsmarktpolitik, die Arbeitsplätze auch bei wirtschaftlichen Umstrukturierungen sichern half. Hieraus ergab sich ein neues Verständnis der Aufgaben staatlichen Handelns: Der Staat sollte seine Interventionen auf möglichst alle Lebensbereiche ausdehnen, um eine umfassende Daseinsvorsorge für seine Bürger zu garantieren.

In ihrem ungebrochenen Grundvertrauen in die Problemlösungsfähigkeit wissenschaftlich angeleiteter und technokratisch-planender Politik markiert Brandts Regierungserklärung den Gipfelpunkt des zukunftsoptimistischen Machbarkeitsglaubens der Reformära 1966-1974. Allerdings stehen die steigenden Steuerungsansprüche des Staates einerseits und die Emanzipations- und Partizipationsversprechen in der Rede Brandts in einem Spannungsverhältnis zueinander.

Winfried Süß