Thronrede Kaiser Wilhelms II. vor den Abgeordneten des Reichstags, 4. August 1914

Einleitung

Am 4. August 1914, einem Dienstag, versammelten sich die Abgeordneten des deutschen Reichstages mit Ausnahme der Sozialdemokraten um ein Uhr mittags im Weißen Saal des Königlichen Schlosses zu Berlin. Das Deutsche Reich befand sich seit dem 1. August im Kriegszustand mit dem russischen Zarenreich, und auch Frankreich war am 3. August der Krieg erklärt worden. Noch hoffte die deutsche Reichsleitung auf die Neutralität Englands, doch am 5. August 1914 erklärte auch London dem Deutschen Reich den Krieg.

Der Reichstag war zusammengerufen worden, um den notwendigen Kriegskrediten die Zustimmung zu erteilen. Entgegen den Wünschen der Sozialdemokratie hielt Kaiser Wilhelm II. die einleitende Rede jedoch nicht im Reichstagsgebäude, sondern im Königlichen Schloß. Daraufhin verweigerten die SPD-Abgeordneten ihre Anwesenheit, die sie im Falle einer Verlegung in den Reichstag zugesagt hatten. Schon diese erste Handlung verweist auf die hohe Bedeutung politischer Symbolik an diesem Tag: Während die Sozialdemokraten nicht zum Kaiser gehen und damit dessen höheren Rang anerkennen wollten, sah es dieser nicht seiner Würde entsprechend, als Herrscher von Gottes Gnaden vom Reichstag empfangen zu werden, der wiederum seine Legitimation durch das Volk erlangte. Erst nach der Kaiserrede verlegte sich der Reichstag wieder ins Reichstagsgebäude, so daß auch die sozialdemokratischen Abgeordneten an den Verhandlungen teilnehmen konnten.

Die Kaiserrede vom 4. August 1914 läßt sich in zwei Passagen gliedern: Der weitaus längere Teil wurde von Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg formuliert und bietet die offizielle Begründung des Deutschen Reiches für den Kriegseintritt. Der zweite, von Wilhelm spontan eingefügte wesentlich kürzere Abschnitt, der an eine Rede drei Tage zuvor erinnert, wurde zum Signum des Burgfriedens und des "Augusterlebnisses".

Die Kriegsbegründung im ersten Teil der Rede beruhte auf der Behauptung, eine österreichische Maßregelung Serbiens, das für die Ermordung des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajewo verantwortlich gemacht wurde, sei notwendig. Wilhelm sprach in seiner Rede gar davon, daß Kaiser Franz Joseph I. "gezwungen" gewesen sei, zu den Waffen zu greifen. Diesem berechtigten Anliegen habe sich Rußland als Schutzpatron der slawischen Balkanmächte entgegengestellt und seine Armee gegen den Zweibund mobilisiert. Dieser Schritt des Zarenreiches, so die zeitgenössische deutsche Deutung, löste den Krieg aus und zwang das Deutsche Reich, zur Verteidigung des Bundesgenossen "treu" an der Seite Österreich-Ungarns in den Konflikt einzutreten. Mit der These vom Verteidigungskrieg sollte sowohl die innere Geschlossenheit und vor allem die Unterstützung durch die SPD gewährleistet als auch um die Sympathie der neutralen Staaten geworben werden.

Die deutsche Reichsleitung wußte nur zu genau, daß der Weltkrieg nicht ursächlich durch die russische Unterstützung für Serbien heraufbeschworen worden war. Vielmehr hatte sich bei den leitenden Staatsmännern die Überzeugung durchgesetzt, daß man das Attentat von Sarajewo zu einer entscheidenden Machtprobe des Zweibundes – also des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns – gegen die Entente – bestehend aus Rußland, England und Frankreich – nutzen und dabei auch einen Weltkrieg riskieren müsse. Seit dem Entstehen der Tripelentente in den Jahren 1904 bis 1907, unter anderem angestoßen durch die unruhige deutsche Weltpolitik, war das Reich in Europa weitgehend isoliert und auf den Zweibundpartner angewiesen. Wilhelm führte den Kriegsausbruch entsprechend auf "das Ergebnis eines seit langen Jahren tätigen Übelwollens gegen Macht und Gedeihen des Deutschen Reiches" zurück. Die zunehmend als ausweglos wahrgenommene internationale Konstellation förderte die Bereitschaft zu einem "Präventivkrieg", der bereits seit längerem in militärischen Kreisen und namentlich auch vom Generalstabschef Helmuth von Moltke diskutiert wurde. Freilich ist unübersehbar, daß der Erste Weltkrieg eben kein Präventivkrieg nach klassischer Definition war, da keinerlei Angriffsabsichten auf Seiten der Entente bestanden hatten.

Ihre wichtige Bedeutung als Schlüsseldokument erhält die Rede des Kaisers durch seinen kurzen spontanen Nachtrag am Ende, der an seine Worte vom Balkon des Berliner Schlosses am 1. August 1914 erinnerte. Diese frühere Ansprache stammte aus der Feder Bethmann Hollwegs und enthielt in ihrem Kern folgende Passage: "In dem jetzt bevorstehenden Kampfe kenne ich in meinem Volke keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche, und welche von den Parteien auch im Laufe des Meinungskampfes sich gegen mich gewendet haben sollte, ich verzeihe ihnen allen." Am 4. August faßte Wilhelm seine Aussage nun in die Worte, die in den folgenden Jahren vielfach zitiert wurden und unzählige Plakate und Postkarten schmückten: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche." Das Protokoll der Sitzung vermerkte "langanhaltendes brausendes Bravo" der Parlamentarier.

Der gesamte Tagesablauf des 4. August, angefangen von der morgendlichen Predigt im Berliner Dom über die Thronrede bis zur eigentlichen Reichstagssitzung, stand unter dem Signum der "Einheit des deutschen Volkes", die auch in den Redebeiträgen beschworen wurde. Der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Hugo Haase betonte, seine Partei lasse "in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich", der Reichskanzler Bethmann Hollweg feierte die Einigkeit mit den Worten: "Was uns auch beschieden sein mag, der 4. August 1914 wird bis in alle Ewigkeit herein einer der größten Tage Deutschlands sein", und der Parlamentspräsident Johannes Kaempf beteuerte in seinem Schlußwort, "daß das deutsche Volk einig ist bis auf den letzten Mann, zu siegen oder zu sterben auf dem Schlachtfelde für die deutsche Ehre und die deutsche Einheit". Gemeinsam mit den Sozialdemokraten verabschiedete der Reichstag einmütig die Kriegskredite und beendete die Sitzung mit Hurrarufen auf "Kaiser, Volk und Vaterland", in die ebenfalls einige sozialdemokratische Abgeordnete zum ersten Mal mit einstimmten. Die Reichstagssitzung wurde so in Wort und Tat zur Geburtsstunde dessen, was man Burgfrieden genannt hat und zum Augusterlebnis verklärt wurde.

Mit dem 4. August begann aber auch die Debatte darüber, was der Burgfrieden eigentlich zu bedeuten habe. Zahlreiche Intellektuelle philosophierten über die "Ideen von 1914" und versuchten mit der Feder das auszugleichen, was sie, meist aufgrund des Alters, an der Front nicht leisten durften. Entscheidender noch war die politische Auseinandersetzung über die Deutung des "Augusterlebnisses", denn der Konsens zu Kriegsbeginn überstand kaum die ersten Gefechte. Die Sozialdemokraten begründeten ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten mit der notwendigen Verteidigung gegen Rußland, also im Sinne der offiziellen Lesart der Thronrede. Von Beginn des Krieges an strebten sie nach einem Verständigungsfrieden und wiesen die bald ausufernden Expansionsziele der nationalistischen Rechten wie weiter Teile des gemäßigten Bürgertums zurück. Dabei konnten sie sich auf die Kaiserrede berufen, die verkündete, das Deutsche Reich treibe nicht "Eroberungslust", und die Sozialdemokratie hatte schon während der Reichstagssitzung entsprechend betont, daß sie sich gegen die Regierung wenden werde, sollte diese unter dem Vorwand eines Verteidigungskrieges eine Expansionspolitik betreiben wollen. Schon nach den ersten Siegen der deutschen Truppen im Westen brach eine intensive Debatte über der Frage des Friedensschlusses aus. Zwar versuchten alle Seiten, die Einigkeit des Burgfriedens nach außen hin zu bewahren, da keine politische Gruppierung riskieren konnte, für dessen Zerfall verantwortlich gemacht zu werden. Doch die unterschiedlichen Friedensstrategien – die später durch die Schlagworte des Hindenburgfriedens (Siegfriedens) und Scheidemannfriedens (Verständigungsfriedens) geprägt wurden – trieben die politischen Flügel auseinander.

Gesteigert wurde diese Bewegung durch die anhaltende Reformunfähigkeit des Deutschen Reiches. Die SPD hatte den Burgfrieden und das "Augusterlebnis" als Versprechen für politische Reformen verstanden und wurde hierin auch von linksliberalen Politikern wie Max Weber oder Friedrich Naumann unterstützt. Die prominenteste Forderung war die nach einer Reform des preußischen Wahlrechts, das durch sein Dreiklassensystem das konservative Junkertum gegenüber der sozialdemokratischen Arbeiterschaft deutlich bevorzugte. Die Konservativen hingegen waren ganz anderer Ansicht, was den Wesensgehalt des "Augusterlebnisses" betraf. Für sie stärkten die Ereignisse vom 4. August 1914 die antidemokratische Tradition Preußens, indem durch die scheinbare Kriegsbegeisterung der Arbeiterklasse – empirische Untersuchungen bieten heute ein anderes Bild – diese sich dem monarchischen System zugewandt und der Demokratie abgeschworen hätte.

Vergegenwärtigt man sich die Wortwahl des Kaisers in seiner Thronrede, so wird deutlich, daß Wilhelm II. den Ersten Weltkrieg keinesfalls zum Anlaß nehmen wollte, der Sozialdemokratie politische Zugeständnisse zu machen. Vielmehr wird die Rede dominiert durch ein ausgeprägtes monarchisches Verständnis, das anhand einiger stichpunktartig aufgeführter Beispiele veranschaulicht werden soll: Die Wendung "die Ermordung Meines Freundes, des Erzherzogs Franz Ferdinand" verweist auf persönlich-dynastische Beziehungen, nicht aber auf die Rolle des Thronfolgers im Herrschaftsgefüge des Staates Österreich-Ungarn. Daraufhin habe der "Kaiser und König Franz Joseph" zu den Waffen greifen müssen – erneut eine Personalisierung des Staates. Eben dieser sei auch "Mein hoher Verbündeter", und Wilhelm sprach weiter von der "verbündeten Monarchie". Für ihn handelte es sich bei dem Zweibund weniger um ein Bündnis des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns, sondern um das zweier Kaiser. Selbst dem russischen Zaren gestand er weiterhin Friedfertigkeit zu – es sei das Volk mit seinem "unersättlichen Nationalismus" gewesen, das die russische Regierung dazu gedrängt habe, die immer wieder beschworene, aber tatsächlich schon lange abgeklungene traditionelle deutsch-russische Freundschaft aufzugeben.

Nicht der Kaiser ging mit seiner Rede auf das deutsche Volk und insbesondere die sozialdemokratischen Arbeiter zu, sondern von ihm erging der "Ruf" "an die Völker und Stämme des Deutschen Reiches". Die eingangs angesprochene Episode über die Anwesenheit der Sozialdemokratie während der Thronrede brachte dies bereits zum Ausdruck: Der Reichstag sollte zum Kaiser kommen und nicht umgekehrt. Wilhelm erneuerte seinen Führungsanspruch gegenüber dem deutschen Volk, ohne im Gegenzug politische Reformen zu versprechen. Vergegenwärtigt man sich nochmals die Rede vom 1. August, fällt ins Auge, daß er den entsprechenden Abschnitt mit der Wendung "ich verzeihe ihnen allen" beendet. Sein Versprechen der Thronrede, "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche" erscheint somit nur als ein Akt der Gnade, nicht der Anerkennung politischer Forderungen. Die konservative Deutung des Augusterlebnisses entsprach also durchaus den Absichten des Kaisers. Dennoch setzte sich dieses Verständnis ebensowenig durch wie das der Sozialdemokratie, sondern mußte einer nationalistisch-antidemokratischen Auslegung weichen. Die Thronrede ist auch deshalb ein Schlüsseldokument, weil in ihr diese Sichtweise fehlt. So verzichtet sie sinnfälliger Weise auf den Begriff der "Nation" in bezug auf das Deutsche Reich.

Schon die letzten Tage vor Kriegsausbruch waren in den großen Städten geprägt von nationalistischen Massen, die insbesondere vor Amtsgebäuden ihren "Patriotismus" zum Ausdruck brachten. Cafés wurden zu beliebten Sammelpunkten, in denen Besucher vaterländische Lieder wie "Die Wacht am Rhein" sangen. Hier zeigte sich auch deutlich der Konformitätsdruck, der der nationalistischen Ausdeutung des "Augusterlebnisses" letztlich zum Durchbruch verhalf. Während vor allem studentische Demonstranten den Kaiser oder das Vaterland hochleben ließen, wurden Cafébesucher, die an diesem Treiben nicht teilnehmen wollten, zur Teilnahme gezwungen oder unter dem Vorwurf des unpatriotischen Verhaltens des Saals verwiesen. Die am 4. August verkündete Einigkeit des deutschen Volkes verbot gleichsam den politischen Protest oder das Einfordern politischer Zugeständnisse. Der Verweis auf den notwendigen Zusammenhalt in einem so empfundenen "nationalen Schicksalskampf" erleichterte es radikalen Gruppierungen, die Wortführerschaft im öffentlichen Diskurs zu übernehmen, zumal sie von der Obersten Heeresleitung (OHL) um Paul von Hindenburg unterstützt wurden. Zwar gab es zahlreiche Stimmen, die versuchten, mäßigend zu wirken, nicht zuletzt auch die Reichsleitung unter Bethmann Hollweg. Doch da es einem politischen Selbstmord glich, als unpatriotisch oder unentschlossen zu erscheinen, drangen sie letztlich nicht durch und wurden mittelfristig verdrängt. Spätestens mit dem von der OHL erzwungenen Rücktritt Bethmann Hollwegs wurde die nationalistische Rechte zur entscheidenden Kraft im Deutschen Reich, die nach ausufernden Kriegszielen und einer völkischen inneren Verfassung strebte. Wilhelm II. war schon vor seinem Sturz nur noch ein Schattenkaiser, der nicht mehr in der Lage war, einen Reichskanzler gegen den Willen der neuen faktischen Machthaber, die OHL und ihre politischen Unterstützer, zu halten.

Die Unterordnung aller politischen Erwägungen unter den Primat des Siegfriedens führte in die totale Niederlage. Erst als sich die militärische Niederlage abzeichnete, wurden zaghafte politische Reformen eingeleitet und parlamentarische Vertreter in die Reichsleitung berufen. Doch dieses Zugeständnis entpuppte sich als Danaergeschenk, um die demokratischen Kräfte für die Kriegsniederlage verantwortlich zu machen. Die Novemberrevolution von 1918, die den Frieden endgültig erzwingen und politische Reformen durchsetzen wollte, ließ noch einmal die Hoffnung aufkeimen, daß sich das demokratische Verständnis des "Augusterlebnisses" durchsetzen würde. Erneut waren es jedoch die nationalistischen Kräfte, an ihrer Spitze Paul von Hindenburg, die mit der "Dolchstoßlegende" das durchsetzungsfähigere Deutungsangebot besaßen. Der Mythos vom "Augusterlebnis" wurde abgelöst durch die Legende der "Novemberverbrecher", die den Revolutionären von 1918 vorwarf, das verraten zu haben, was es niemals gab: den Burgfrieden von 1914.

Patrick Bormann