Betriebsrätegesetz, 4. Februar 1920

Einleitung

Schon während des Ersten Weltkrieges wurden, um das Hindenburg-Programm zu erfüllen, den Arbeitnehmern im Vaterländischen Hilfsdienstgesetz von 1916 erste rechtliche Zugeständnisse gemacht. Es sah in Betrieben mit mindestens 50 Arbeitern oder Angestellten die Errichtung von Arbeiter- und Angestelltenausschüssen vor, die ein Anhörungsrecht insbesondere in sozialen Angelegenheiten bekamen. Während der Revolution entstand mit den Arbeiter- und Soldatenräten eine Rätebewegung, die den Aufbau eines ganzen Räaetesystems forderte. Dieses Rätesystem, auch als Rätedemokratie bezeichnet, sollte sich nicht nur auf den Betrieb beschränken, sondern den Partizipationsbedürfnissen der Arbeiter im Betrieb, in der Wirtschaft und in der Politik Rechnung tragen. Gleichzeitig sollte es die Sozialisierung in die Wege leiten. Die Hauptvertreter eines "reinen Rätesystems" gehörten der USPD an.

Im Januar und Anfang März 1919 wurde die deutsche Wirtschaft von breiten Streikbewegungen erschüttert, die in der Ausrufung des Generalstreiks gipfelten und die junge Regierung der Weimarer Republik mit der Forderung konfrontierten, unverzüglich die Sozialisierung einzuleiten und ein Rätesystem zu errichten. Die Regierung fühlte sich unter Zugzwang, um Ruhe und Ordnung, die ihr für die Bewältigung der Nachkriegsprobleme unabdingbar erschienen, wieder herzustellen. Deshalb sagte sie in einer Erklärung am 5. März zu, daß man sich der Sozialisierungsfragen annehmen werde und Arbeiterräte in der Verfassung verankert würden. In der Folge beauftragte das Kabinett das Wirtschaftsministerium, eine Sozialisierungsgesetzgebung auszuarbeiten, während das Arbeitsministerium von der Regierung den Auftrag erhielt, die reichsgesetzliche Neuregelung des Arbeitsrechts und das Betriebsrätegesetz voranzutreiben. Bereits am 20. März legte Reichsarbeitsminister Gustav Bauer einen Entwurf vor, der die Schaffung von Betriebs- und Bezirksarbeiterräten sowie einen Reichswirtschaftsrat zur Regelung aller sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten vorsah. In der Diskussion über diesen Vorschlag wurden vor allem die Zusammensetzung des Reichswirtschaftsrates und die Beschränkung seiner Gesetzgebungsfunktion debattiert. Außerdem ging es um die Abgrenzung von berufsständischen Konzepten und den Schutz der Gewerkschaften gegen eine Machterweiterung der Räte. In der Kabinettssitzung vom 26. März wurden fünf weitere Varianten, drei des Arbeitsministeriums und je eine des Innen- und Finanzministeriums, diskutiert. Der Entwurf A des Arbeitsministeriums, der um einen Reichsarbeiterrat, Bezirkswirtschaftsrat und einen Reichswirtschaftsrat ergänzt worden war, wurde schließlich zur Verhandlungsgrundlage mit den Mehrheitsparteien erhoben. Als er nach weiteren Überarbeitungen und Besprechungen mit den Führern der Regierungsparteien am 4. April erneut besprochen wurde, näherte er sich dem später verabschiedeten Gesetz insofern, als die Gewerkschaften und Unternehmerverbände ebenso wie ihre Tarifvereinbarungen ausdrücklich anerkannt wurden. Auch wurde neben den Arbeiterräten jetzt die Schaffung von Wirtschaftsräten beschlossen, die ausschließlich aus Vertretern der Unternehmer und Arbeitnehmer gebildet werden sollten. Sie sollten "gemeinwirtschaftliche Aufgaben" erfüllen und an der Ausführung der Sozialisierungsgesetze mitwirken. Die legislativen Befugnisse des Reichswirtschaftsrates wurden erweitert, ohne ihm aber ein Vetorecht in der Gesetzgebung einzuräumen. Die Regierung hoffte, daß es gelingen würde, mit Hilfe eines so zugeschnittenen Räteartikels in der Verfassung die Rätebewegung auf wirtschaftliche Fragen zu beschränken, sie quasi auf das Niveau von erweiterten Arbeiter- und Angestelltenausschüssen zurückzudrängen und ihre Forderungen dadurch zu kanalisieren. Dabei wurde mit dem Plan zur Schaffung von Arbeiterräten gleichzeitig auf eine ältere Forderung der Arbeiterorganisationen nach Ergänzung der bestehenden öffentlich-rechtlichen Kammern, wie der Industrie- und Handelskammern, durch Arbeiterkammern zurückgegriffen. Den Gewerkschaften war die Ableitung der Rätebewegung auf den wirtschaftlichen Bereich zunächst sehr suspekt, weil sie fürchteten, durch diese abgelöst zu werden. Sie konnten sich aber mit ihrer grundsätzlichen Ablehnung einer Verankerung der Räte in der Verfassung nicht durchsetzen. Statt dessen arrangierten sie sich mit dem Räteartikel, nachdem die Zuständigkeit der Tarifparteien in Wirtschaftsfragen von der Regierung ausdrücklich anerkannt wurde. In den Gewerkschaften setzte sich die Auffassung durch, daß es sinnvoller sei, sich die Räte zur Durchsetzung der Betriebsdemokratie zunutze zu machen und sich darin zu engagieren als sie zu bekämpfen. Diese neue Position schlug sich im Frühjahr 1919 in den Leitlinien über Betriebsräte, ihre Kompetenzen und ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften nieder.

Die Vorlage der Regierung zur Verankerung des Rätesystems in der Verfassung wurde im Staatenausschuß am 30. Mai mit einigen stilistischen Veränderungen verabschiedet. Im Verfassungsausschuß der Nationalversammlung wurde der Räteartikel dann dahingehend verändert, daß neben den Arbeitern die Angestellten als besondere Gruppe der Arbeitnehmer aufgeführt wurden; außerdem wurde festgelegt, daß auch andere am Wirtschaftsprozeß beteiligte Volkskreise entsprechend ihrer Bedeutung vertreten sein sollten und daß der Reichswirtschaftsrat bei Verhandlungen seiner Vorlagen im Reichstag eigene Vertreter entsenden könne. In der Plenardebatte wurde diese Aufwertung teilweise wieder zurückgenommen, indem festgelegt wurde, daß Vorlagen des Reichswirtschaftsrates über die Reichsregierung einzubringen waren. Wenn diese die Vorlage ablehnte, mußte sie sie aber unter Erklärung ihrer Gründe trotzdem weiterleiten. Zudem wurde das Recht an Reichstagsverhandlungen teilzunehmen auf einen Vertreter beschränkt. Der Räteartikel fand in dieser Form Eingang in die Verfassung, die am 31. Juli 1919 von der Nationalversammlung angenommen wurde und am 14. August in Kraft trat. Zunächst als Artikel 34a geplant, wurde er schließlich als Artikel 165 Teil der Weimarer Reichsverfassung. Damit hatte die Gründung von Betriebsräten in Weimar Verfassungsrang erhalten, so daß auf der Grundlage dieses Räteartikels in der Nationalversammlung am 18. Januar 1920 ein Betriebsrätegesetz verabschiedet werden konnte, das die Funktionen und Aufgaben der Betriebsräte regeln sollte und das am 4. Februar 1920 in Kraft trat. Man kann also sagen, daß das Betriebsrätegesetz ein erster Schritt war, die Bestimmungen des Artikels 165 durch ein Reichsgesetz zu implementieren.

Bereits am 15. Mai 1919, parallel zu den Verhandlungen über einen Räteartikel, wurde ein erster im Reichsarbeitsministerium auf Referentenebene entstandener "Entwurf eines Gesetzes über die Betriebsräte" mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern diskutiert. Da keine Einigkeit über die den Betriebsräten zu gebenden Befugnisse herzustellen war, setzte das Reichsministerium eine Sachverständigenkommission ein, die aus Vertretern der Arbeitnehmer und Arbeitgeber bestand. Diese sollte sich um eine Einigung bemühen und eine Gesetzesvorlage formulieren, die dann dem Reichsrat und der Nationalversammlung zugeleitet werden sollte. Am 9. August 1919 wurde dieser Kompromiß im Reichsanzeiger publiziert. Am 16. August 1919 erteilte der Reichsrat nach einigen Abänderungen seine Zustimmung, so daß am 21. August 1919 die erste Lesung in der Nationalversammlung stattfinden konnte. Dort wurden noch verschiedene Änderungen vorgenommen. Widerstand kam vor allem aus dem Umfeld der USPD und der kommunistischen Gewerkschaftsorganisationen, denen das Betriebsrätegesetz nicht weit genug ging, weil es in ihren Augen die Betriebsräte zu Anhängseln der Gewerkschaften machte. Trotz von ihnen initiierter Massenkundgebungen konnten sich USPD, KPD und Rote Betriebsrätezentrale mit ihrer Position nicht durchsetzen. Am 18. Januar 1920 wurde das Gesetz in der Nationalversammlung angenommen. Es sollte Teil eines noch zu kodifizierenden Arbeitsgesetzbuches werden und den Bereich der Betriebsverfassung abdecken.

§ 1 bestimmte, daß in allen Betrieben, die mindestens 20 Arbeitnehmer beschäftigten, Betriebsräte errichtet werden sollten. In Betrieben mit weniger als 20, aber mindestens fünf Arbeitnehmern, sollte ein Betriebsobmann zur Vertretung der Arbeitnehmerinteressen gewählt werden (§2). Waren in einem Betriebsrat Arbeiter und Angestellte vertreten, so sollten, um die jeweiligen Interessen spezifischer vertreten zu können, zusätzlich jeweils ein Angestellten- und ein Arbeiterrat gewählt werden (§6). Ob jeweils ein spezifischer Betriebsobmann gewählt werden sollte, wurde der Einigung der Arbeiter und Angestellten untereinander unterstellt (§2, §7). § 8 betonte ausdrücklich, daß die Befugnisse der wirtschaftlichen Interessenverbände durch dieses Gesetz nicht eingeschränkt werden sollten. Die allgemeine Vertretung der Arbeitnehmerinteressen sollte weiter den Gewerkschaften obliegen, allerdings wurde, um, so die damalige Auffassung nicht nur der Unternehmer, eine gerechte Repräsentation der im Betrieb Beschäftigten und die Vereinigungsfreiheit zu gewährleisten, die Wählbarkeit zum Betriebsrat ausdrücklich von der Gewerkschaftszugehörigkeit entkoppelt (§66 Absatz 6). Die Aufgaben wurden so umrissen, daß die befriedende, den Unternehmer unterstützende Funktion des Betriebsrates gegenüber der partizipierenden deutlich im Vordergrund stand. So wurde der Betriebsrat gegründet, um "1. in Betrieben mit wirtschaftlichen Zwecken die Betriebsleitung durch Rat zu unterstützen, um dadurch mit ihr für einen möglichst hohen Stand und für möglichste Wirtschaftlichkeit der Betriebsleitung zu sorgen; 2. in Betrieben mit wirtschaftlichen Zwecken an der Einführung neuer Arbeitsmethoden fördernd mitzuarbeiten; 3. den Betrieb vor Erschütterungen zu bewahren [...] 6. Das Einvernehmen innerhalb der Arbeitnehmerschaft sowie zwischen ihr und dem Arbeitgeber zu fördern und für Wahrung der Vereinigungsfreiheit der Arbeitnehmerschaft einzutreten"(§66). Dabei sollte der Betriebsrat darauf achten, daß Maßnahmen, die das Gemeinwohl schädigten, unterlassen wurden. (§68) Außerdem wurde ausdrücklich festgehalten, daß dem Betriebsrat Eingriffe in die Betriebsleitung nicht erlaubt sein sollten (§69), er nur ein Recht auf Einsichtnahme in die Betriebsvorgänge (§71) und, um soziale Härten zu vermeiden, ein Mitspracherecht bei einer größeren Zahl von Einstellungen oder Entlassungen erhalten sollte(§74), wodurch die demokratisierende oder womöglich sozialisierende Wirkung des Betriebsrätegesetzes von vornherein eingeschränkt wurde.

Was sich hier überdeutlich niederschlug, war die Angst der Zeitgenossen vor Konflikten, die man für höchst desintegrierend und keinesfalls nützlich hielt. Oberstes Ziel jeder politischen Maßnahme zu diesem Zeitpunkt war die Ordnung zu erhalten bzw. wieder herzustellen. Anarchie und Chaos, als deren Keim Konflikt und Dissens angesehen wurden, galt es abzuwenden. Um einen stabilisierenden Konsens herzustellen, war man in nahezu allen Bereichen bemüht, eine möglichst große Repräsentativität herzustellen. Alle Beteiligten sollten auf das für sachlich notwendig gehaltene verpflichtet werden. Dabei kam es zur Hierarchisierung der anzunehmenden Sachkenntnis. Galt der Staat, in diesem Fall synonym zur Regierung, unzweifelhaft als Kenner des für das Gemeinwohl sachlich Notwendigen, so traute man den Unternehmern mehr Sachverstand bei der Leitung von Unternehmen zu als den Arbeitnehmern. Letzteren, so war man auch auf Seiten der Gewerkschaften überzeugt, fehle die Sachkenntnis, um ein Unternehmen zu leiten. Diese müßten die Arbeitnehmer erst noch erlangen, indem sie durch die Einblicke, die ihnen u. a. das Betriebsrätegesetz ermöglichen würde, dazulernten. Ansonsten sahen die Arbeitnehmervertreter ihre Aufgabe vor allem darin, die Arbeiter dazu anzuhalten, sich vernünftig zu verhalten und nicht eigenmächtig Sozialisierungen, vorzunehmen, für welche die Gewerkschaften die deutsche Wirtschaft nur bedingt reif hielten.

Vor diesem ideellen Hintergrund ist auch die extrem kooperative Ausrichtung der Aufgabenumschreibung, obwohl das Betriebsrätegesetz sicherlich auch durch die revolutionäre Rätebewegung angeregt wurde, nicht mehr so überraschend. Es sollte einen Modus der Kooperation in den Arbeitsbeziehungen etablieren, weil Konflikte als zu "kostspielig" angesehen wurden, und ist insofern mit einigen Modifikationen sicherlich ein Vorläufer der Arbeitsbeziehungen des "Modell Deutschland".

Andrea Rehling