Note der Provisorischen Regierung an die Regierungen der alliierten Mächte ["Miljukov-Note"], 18. April (1. Mai) 1917

Note der Provisorischen Regierung an die Regierungen der alliierten Mächte ["Miljukov-Note"]

18. April 1917

Am 27. März d. J. veröffentlichte die GlossarProvisorische Regierung eine Deklaration an die Bürger, in der eine Darstellung der Ansichten der Regierung des freien Rußland über die Aufgaben des jetzigen Krieges enthalten ist. Der Außenminister beauftragt mich, Ihnen das genannte Dokument mitzuteilen und aus diesem Anlaß folgende Bemerkungen auszusprechen. Unsere Feinde versuchten in der letzten Zeit, Zwietracht in die Beziehungen der Alliierten hineinzutragen, indem sie unsinnige Mitteilungen verbreiteten, als ob Rußland bereit wäre, mit den Zentralmonarchien einen Separatfrieden zu schließen. Der Wortlaut des beigefügten Dokuments dementiert am besten solche Erfindungen.

Sie werden daraus ersehen, daß die von der Provisorischen Regierung proklamierten allgemeinen Prinzipien den großen Gedanken vollständig entsprechen, die bis in die jüngste Zeit von vielen hervorragenden Staatsmännern der alliierten Länder wiederholt geäußert wurden, und einen besonders deutlichen Ausdruck bei unserem neuen Alliierten, bei der großen Republik auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans, in den Äußerungen ihres Präsidenten gefunden haben.2 Die Regierung des alten Regimes war selbstverständlich nicht in der Lage, diese Gedanken vom Befreiungscharakter des Krieges, von der Schaffung sicherer Grundlagen für das friedliche Zusammenleben der Völker, vom Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nationen usw. zu verstehen und zu teilen. Aber das befreite Rußland kann jetzt die Sprache, die den fortschrittlichen Demokratien der Menschheit unserer Zeit verständlich ist, sprechen, und beeilt sich, sich mit ihrer Stimme den Stimmen der Alliierten anzuschließen. Die Erklärungen der Provisorischen Regierung, die von diesem neuen Geist der befreiten Demokratie erfüllt sind, können selbstverständlich nicht den geringsten Anlaß für den Gedanken geben, daß der erfolgte Umsturz zur Schwächung der Rolle Rußlands im gemeinsamen Kampf der Alliierten führte. Ganz im Gegenteil hat sich das Streben des ganzen Volkes, den Weltkrieg bis zum entscheidenden Sieg zu führen, dank dem Bewußtsein der gemeinsamen Verantwortung aller und jedes einzelnen nur verstärkt. Dieses Streben ist noch aktiver geworden, da es auf die dringende Aufgabe, die alle berührt, konzentriert ist, den Feind abzuwehren, der tief ins Innere unseres Vaterlandes eingedrungen ist. Es ist selbstverständlich, daß die Provisorische Regierung, indem sie die Rechte unseres Vaterlandes schützt, die Verpflichtungen, die unseren Alliierten gegenüber übernommen wurden, vollauf wahren wird, wie auch in dem beigelegten Dokument ausgeführt wird. Sie fährt fort, die vollständige Überzeugung der siegreichen Beendigung des jetzigen Krieges im vollen Einvernehmen mit den Alliierten zu hegen und ist vollständig davon überzeugt, daß die durch diesen Krieg aufgeworfenen Fragen im Geist der Schaffung einer sicheren Grundlage für einen Dauerfrieden gelöst werden, und die von gleichen Bestrebungen erfüllten fortschrittlichen Demokratien einen Weg zur Aufstellung von Garantien und Sanktionen finden werden, die zur Vorbeugung neuer blutiger Zusammenstöße in Zukunft notwendig sind.

Rev. Übersetzung hier nach: Die Europäischen Mächte und die Türkei während des Weltkrieges. Konstantinopel und die Meerengen, Red. von E. Adamow, 4 Bde, Bd. 2, Dresden 1930, S. 433-434.

2 Am 2./15. April 1917 hatte Woodrow Wilson unter Berufung der Verteidigung von Recht und Demokratie vor dem amerikanischen Kongreß zum Krieg aufgerufen. Die Kriegserklärung der USA an die Mittelmächte folgte am 6./19. April 1917. [2]

Die Deklaration der Provisorischen Regierung über die Aufgaben des Krieges

27. März 1917

Bürger! Nach der Beratung über die militärische Lage des russischen Staates hat die Provisorische Regierung aus Pflichtgefühl vor dem Land beschlossen, direkt und offen dem Volke die volle Wahrheit zu sagen.

Die nunmehr gestürzte Regierung hat die Sache der Landesverteidigung in einem schweren und zerrütteten Zustand hinterlassen. Durch ihre verbrecherische Untätigkeit und ihre ungeschickten Maßnahmen hat sie den Zerfall unseres Finanzwesens, der Versorgung und des Transportes, der Verpflegung der Armee verursacht. Sie hat unser Wirtschaftssystem untergraben.

Die Provisorische Regierung wird unter lebhafter und aktiver Mitarbeit des ganzen Volkes alle ihre Kräfte der Sache der Behebung dieser schweren Folgen des alten Systems widmen. Aber die Zeit wartet nicht. Das Blut vieler Söhne des Vaterlandes wurde in diesen letzten langen zweieinhalb Kriegsjahren ohne Maß vergossen, aber das Land bleibt immer noch den Schlägen eines starken Feindes preisgegeben, der ganze Gebiete unseres Staates besetzt hat, und uns jetzt, in den Tagen der Geburt der russischen Freiheit, mit einer neuen entschlossenen Offensive bedroht.

Die Verteidigung des Besitzes unseres eigenen Vaterlandes um jeden Preis und die Befreiung des Landes von einem Feind, der in unser Gebiet eingedrungen ist, – das ist die erste, wichtigste Lebensaufgabe unserer Krieger, die die Freiheit des Volkes verteidigen.

Die Provisorische Regierung überläßt es dem Volkswillen, alle Fragen, die mit dem Weltkrieg und seiner Beendigung verbunden sind, in engster Eintracht mit unseren Alliierten endgültig zu lösen, und hält es für ihr Recht und ihre Pflicht, sofort zu erklären, daß das Ziel des freien Rußlands nicht die Herrschaft über andere Völker, nicht die gewaltsame Aneignung ihres Nationaleigentums, nicht die gewaltsame Eroberung fremder Gebiete, sondern die Behauptung eines sicheren Friedens auf Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes der Völker ist. Das russische Volk erstrebt nicht die Erstarkung seiner äußeren Macht auf Kosten anderer Völker, es macht sich nicht die Versklavung und Erniedrigung anderer zum Ziel. Im Namen der höchsten Grundsätze der Gerechtigkeit hat es die Ketten zerrissen, in denen das polnische Volk lag.3 Aber das russische Volk wird nicht dulden, daß sein Vaterland aus dem gewaltigen Kampf erniedrigt und in seinen Lebenskräften gelähmt hervorgeht. Diese Prinzipien werden die Grundlage der Außenpolitik der Provisorischen Regierung bilden, die unentwegt den Volkswillen verwirklicht und die Rechte unseres Vaterlandes bei voller Achtung aller Verpflichtungen verteidigt, die unseren Alliierten gegenüber eingegangen wurden.

Die Provisorische Regierung des freien Rußlands ist nicht berechtigt, dem Volk die Wahrheit zu verheimlichen – der Staat ist in Gefahr. Man muß alle Kräfte anstrengen, um ihn zu retten. Die Antwort des Landes auf die ausgesprochene Wahrheit soll nicht ertraglose Niedergeschlagenheit, nicht Stimmungsverfall, sondern der einmütige Aufbruch zur Schaffung eines einheitlichen Volkswillens sein. Er wird uns neue Kräfte für den Kampf verleihen und zur Rettung führen.

In der Stunde der schweren Prüfung soll das ganze Land die Kräfte in sich selbst finden, um die eroberte Freiheit zu sichern, und sich der unermüdlichen Arbeit zum Wohl des freien Rußlands zu widmen. Die Provisorische Regierung, die den feierlichen Schwur geleistet hat, dem Volk zu dienen, glaubt fest daran, daß bei der allgemeinen und einmütigen Unterstützung aller und jedes einzelnen auch sie selbst imstande sein wird, ihre Pflicht gegenüber dem Land bis zum Ende zu erfüllen.

Ministerpräsident Fürst GlossarG. L'vov

27. März 1917

Rev. Übersetzung hier nach: Die Europäischen Mächte und die Türkei während des Weltkrieges. Konstantinopel und die Meerengen, Red. von E. Adamow, 4 Bde, Bd. 2, Dresden 1930, S. 423-424.

3 Gemeint ist der Aufruf der Provisorischen Regierung an die Polen vom 16./29. März 1917, der die Wiederherstellung des unabhängigen polnischen Staates aus seinen russischen, österreichischen und deutschen Bestandteilen verhieß. [3]