Dekret des Rates der Volkskommissare über die Gründung der Roten Arbeiter- und Bauernarmee, 15. (28.) Januar 1918

Einleitung

Die Parteien der Zweiten Sozialistischen Internationale waren sich einig, daß eine sozialistische Revolution das „stehende Heer“ beseitigen und die Armee durch die „Miliz“, die „Bewaffnung des Volkes“, ersetzen müsse. Die russische Sozialdemokratie nahm diese Forderung 1903 in ihr erstes Parteiprogramm auf, und die Bolschewiki wiederholten sie im Frühjahr 1917. Mit Marx im Rücken und den Erfahrungen der Pariser Kommune als Vorbild bestimmte Lenin die Auflösung der alten Armee, die Bewaffnung der Arbeiterschaft und den Aufbau einer proletarischen Territorialverteidigung als Ziele und Stufen der Machtergreifung und Voraussetzung ihres Gelingens.

An die Macht gekommen, folgten die Bolschewiki dieser strategischen Linie. Der Zustand der Armee kam ihnen entgegen: Erschöpft durch die mehr als dreijährige Dauer des Krieges, demoralisiert durch die Niederlagen, erschüttert durch die politischen Vorgänge im Hinterland und ohne Hoffnung, den Konflikt siegreich zu beenden, hatte die Armee längst den Glauben an den Sinn ihres Tuns verloren. Hier konnte die bolschewistische Politik ansetzen. Die Legalisierung der Wahl der Kommandeure durch die Mannschaften und die gleichzeitig verfügte Aufhebung aller Dienstgrade nahmen ihr Mitte Dezember 1917 den letzten Halt, beschleunigten und besiegelten den Zu¬sammenbruch. Ohne den Frieden und die versprochene Demobilisierung abzuwarten, verließen die Soldaten zu Hunderttausenden ihre Stellung, nur mehr bestrebt, bei der Umverteilung des Bodens im Dorf nicht zu spät zu kommen.

Die eilig neu aufgestellten Verbände hielten dem Angriff der deutschen Truppen nicht stand. Mit beschleunigtem Tempo wurde daher die Anfang Dezember begonnene Diskussion um die Neugründung einer revolutionären Armee gegen Jahresende im Kriegskommissariat fortgesetzt. Unter Zuziehung der einschlägigen Parteigremien, von Repräsentanten der Heeresführung und Vertretern des Hauptstabes der Roten Garden Petrograds führte sie zur Ausarbeitung eines Dekrets, das Mitte Januar 1918 vom Rat der Volkskommissare angenommen wurde. Es verkündete, was Allrussisches Exekutivkomitee und dritter Sowjetkongreß wenige Tage vorher bereits gutgeheißen hatten: die Bildung einer "Roten Arbeiter- und Bauernarmee" (raboče - krest'janskaja krasnaja armija, abgekürzt: RKKA) zum Schutz der Revolution und als Anfang der "allgemeinen Volksbewaffnung". Auch von der Hilfsfunktion der Roten Armee für die künftige sozialistische Revolution in Europa war im Dekret die Rede. Die Rote Arbeiter- und Bauernarmee sollte als militante Avantgarde des Proletariats die "bewußtesten und bestorganisierten Elemente der werktätigen Massen" erfassen.

Die Erfahrung der operativen Unterlegenheit der sowjetischen Miliztruppen gegenüber den regulären deutschen Verbänden führte zur Diskussion und schließlich - schon im Frühjahr 1918 - zur Aufgabe des Milizsystems. An die Stelle der alten militärpolitischen Leitidee trat die neue Forderung der Schaffung einer regulären Armee mit einheitlicher Organisation, straffer Disziplin und klarer, von oben nach unter verlaufender Befehlsstruktur: Die proletarische Revolution - so lautete die neue Begründung - habe nur Aussicht auf Erfolg, wenn sie dem Gegner gleiche Mittel entgegensetzen könne; solange die Weltrevolution auf sich warten lasse und Rußland das einzige sozialistische Land sei, müßten die Milizpläne zurückgestellt werden. Diese Behauptungen stießen im Zentralkomitee der Partei auf den entschiedenen Widerstand der Linken Kommunisten. Sie hatten bereits gegen den Frieden von Brest-Litowsk protestiert und einen revolutionären Partisanenkrieg gefordert, und sie sahen nun in den militärpolitischen Plänen Lenins, Trockijs und anderer die Abkehr von den ursprünglichen Positionen und Zielsetzungen der Oktoberrevolution bestätigt. Doch ihr Protest blieb ohne Erfolg.

Im April 1918 wurde die freiwillige Meldung zur Roten Armee durch die allgemeine Wehrpflicht ersetzt. Sie galt für alle Werktätigen, gleich ob Bauer oder Arbeiter; nur „parasitische und ausbeuterische Elemente“ waren vom Dienst mit der Waffe ausgeschlossen. Die Wehrpflichtigen hatten sich einer achtwöchigen Grundausbildung zu unterziehen, möglichst neben der Arbeit, wobei der militärische Unterricht mindestens zwölf Stunden pro Woche umfassen mußte. Danach konnten sie zur Roten Armee eingezogen werden. Die Dienstpflicht erlosch mit dem 40. Lebensjahr. Seit Ende Mai ging die Sowjetregierung zu Zwangsaushebungen von Rekruten in den Gebieten von Moskau, Petrograd, an Don und Kuban’ über, und im Juli wurde die allgemeine Wehrpflicht auch in der Sowjetverfassung verankert. Bei seiner Einberufung hatte der Rekrut - seit dem Frühjahr 1918 - als „Sohn des schaffenden Volkes“, „Bürger der Sowjetrepublik“ und vor dem „Angesicht der werktätigen Klasse und der ganzen Welt“ feierlich zu versprechen, die revolutionäre Disziplin strikt zu beachten, alle Befehle widerspruchslos auszuführen und für die Verteidigung der sowjetischen Republik, die Sache des Sozialismus und die Völkerfreundschaft auch das eigene Leben nicht zu schonen.

Gegen heftigen Widerstand wurde seit Ende März 1918 auch die Wahl der Kommandeure durch die Soldaten abgeschafft. An die Stelle der Wahl trat eine genaue Bestallungsordnung, nach der die Ernennung in aller Regel von oben, durch den vorgesetzten Kommandeur oder die Militärverwaltung, erfolgte, wobei die fachliche Qualifikation des Kandidaten vorab zu prüfen war. Die Abschaffung der Wahl war die Voraussetzung für die Übernahme alter, zarischer Offiziere in die Führungskader der neuen Roten Armee. Mit einem Appell an ihr nationales Gewissen, mit Versprechungen und nicht selten auch mit Drohungen wurden Zehntausende ehemaliger Offiziere bis hinauf in die Generalität als „Militärspezialisten“ zurückgeholt. Sie dienten als Ausbilder und Kommandeure, Ärzte und Verwaltungsfachleute. Ohne sie, so gestand Lenin später ein, wäre es nicht möglich gewesen, die Rote Armee aufzubauen. Der Rat der Volkskommissare hatte schon Mitte März die Anwerbung der alten Offiziere genehmigt, und der 5. Sowjetkongreß schloß sich im Juli diesem Votum an. Für Trockij, der inzwischen zum Volkskommissar für das Kriegswesen avanciert war, schien die Indienstnahme des alten Offizierskorps nur folgerichtig; denn militärtechnische Fragen, so hielt er seinen Gegnern entgegen, ließen sich nur mit Sachverstand, nicht mit „marxistischer Methode“ lösen. Auch beim Aufbau einer eigenen, effektiven, straff zentralisierten Militärverwaltung (zur Registrierung der Wehrpflichtigen, ihrer Ausbildung, zur Formierung der Streitkräfte und ihrer materiellen Versorgung) spielten sie eine wichtige Rolle, wenn auch jeweils überwacht von politischen Kommissaren.

Am 1. April 1918 war die Rote Armee 150 000 Mann stark, bis Anfang Juni hatte sich ihr Bestand verdreifacht. Mit der Verschärfung der Lage im Bürgerkrieg und der allgemeinen Mobilmachung im September stieg ihre Zahl rasch weiter. Im Oktober war die Millionengrenze erreicht, Mitte März des folgenden Jahres eine weitere halbe Million hinzugekommen, Ende 1920 schließlich die 5-Millionen-Grenze überschritten.

Helmut Altrichter