Parteistatut der Rußländischen Kommunistischen Partei (der Bolschewiki) (RKP(b)), März 1919

Einleitung

Die Russische Kommunistische Partei (Bol'ševiki) – so die offizielle Bezeichnung seit dem VII. Parteitag 1918 – war im Revolutionsjahr 1917 rasch gewachsen. Die Mitgliederzahlen hatten sich in kurzer Zeit verzehnfacht: allein zwischen Januar 1917 und Januar 1918 stiegen sie von 24.000 auf 250.000. Die Untergrundpartei, die bisher über keine funktionierende, landesweite Organisation verfügte, war nicht in der Lage, diesen Zustrom zu bewältigen. Die Mitgliederfluktuation war hoch, die Parteispitze hatte keinen klaren Überblick über Mitgliederbestand und Gliederung der eigenen Organisation. Daher war es ein dringendes Anliegen des 1919 verabschiedeten Statuts, den Zuwachs durch verschärfte Aufnahmebestimmungen zu regulieren und eine geeignete Führungsstruktur zu schaffen.

Ersteres geschah durch Einführung des Kandidatenstatus. Neue Mitglieder, die von zwei Parteimitgliedern mit mindestens sechsjähriger Parteizugehörigkeit empfohlen werden mußten, hatten zunächst eine Probezeit zu absolvieren, die bei Arbeitern und Bauern zwei, bei anderen Personen sechs Monate dauern sollten. In dieser Zeit sollten sie sich gründlich mit Programm und Taktik der Partei vertraut machen. Ziel war es, "zufällige Elemente" und Karrieristen aus der Organisation fernzuhalten und der Partei, die sich als Avantgarde verstand und danach strebte, die Leitung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in der Hand zu behalten, einen Elitecharakter zu geben.

Die innere Gliederung der Partei wurde an die staatliche Verwaltungsstruktur angepaßt. Auf jeder administrativen Ebene sollte es die entsprechende Parteiorganisation geben. Dabei unterstanden nach dem Prinzip des "demokratische Zentralismus" die Parteigliederungen auf unterer Ebene jeweils dem höheren Parteiorgan: die Parteizelle als Grundeinheit unterstand der Parteiorganisation des Amtsbezirks, diese wiederum den Kreiskomitees usw. Die Festlegung des hierarchischen Aufbaus taucht 1919 das erstemal im Statut auf – im Statut von 1917 (verabschiedet auf dem VI. Parteitag der SDRPR) war eine Organisation, die das ganze Land in allen Verwaltungsebenen durchzog, noch nicht vorgesehen.

Eine Neuerung war auch die Organisation der Führungsspitze. Parteitag und Zentralkomitee (CK) gab es zwar schon vorher, aber das Statut von 1919 führte nun drei neue Gremien ein: das politische Büro (Politbüro), das Organisationsbüro (Orgbüro) und das Sekretariat, geleitet von einem Sekretär, der zugleich Mitglied des Organisationsbüros sein sollte. Das Statut von 1917 hatte zwar vorgesehen, daß das ZK aus seiner Mitte einen engeren Kreis bilden sollte, der die laufende Arbeit übernahm, doch wurde dies nicht institutionalisiert – es ergab sich praktisch aus der Autorität einzelner Parteiführer wie Lenin, Smirnov, Trockij oder Zinov'ev, die maßgeblich die Politik der Partei bestimmten. 1919 wurde dies nun formalisiert. Das Politbüro war für die laufende politische Arbeit verantwortlich, das Orgbüro die organisatorische, während das Sekretariat im wesentlichen eine technische Funktion wahrnehmen sollte.

Damit wurde eine Struktur eingeführt, die in der Folge die Machtverteilung in der Führungsspitze der RKP(b) entscheidend beeinflussen sollte. Im April 1922 (nach dem X.. Parteitag im März 1922) setzte die Führung Iosif Stalin als Generalsekretär ein, der zugleich Politbüromitglied und Mitglied des Orgbüros war und damit eine Schlüsselstellung einnahm. Es gelang Stalin, die organisatorisch-technische Funktion des Sekretärs in politische Macht umzusetzen, indem er seinen Einfluß auf Personalentscheidungen nutzte, um sich Mehrheiten in den wichtigsten Parteiorganisationen zu verschaffen. In den Flügelkämpfen der zwanziger Jahre verschaffte ihm dies eine überlegene Position, die er dazu nutzte, nacheinander alle politischen Konkurrenten auszuschalten.

Hans-Henning Schröder