Beschluß des CK VKP(b) "Über den Umbau der literarisch-künstlerischen Organisationen", 23. April 1932

Einführung

Nach ihrem Sieg in GlossarRevolution und GlossarBürgerkrieg hatten die GlossarBolschewiki auf den Gebieten von Kunst, Literatur und Musik eine eher zurückhaltende Politik betrieben, die insgesamt darum bemüht war, die im Land verbliebenen Kulturschaffenden für die neuen politischen Konzepte zu gewinnen und an der Aufgabe der Neuordnung des Kulturwesens im sozialistischen Sinne zu beteiligen. Wie in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft war man sich auch in der sowjetischen Kultur zu Beginn der 1920er Jahre unsicher, welche Wege in Richtung GlossarSozialismus zu beschreiten seien. So definierte sich die offizielle Linie der Kulturpolitik als eine Art Sammlungsbewegung, die Proletarier und Intellektuelle, Kommunisten und wohlgesonnene Glossar"Mitläufer", ältere und jüngere Generationen, ästhetisch Progressive und Konservative im Kampf um eine sozialistische Kultur vereinen sollte. So anerkannten weder GlossarVolkskommissar für BildungswesenGlossarLunačarskij noch die in ästhetischer Hinsicht meist konservativ geprägte Führungsriege der Bolschewiki die Vorrangs- bzw. Exklusivitätsansprüche von Vertretern des GlossarProletkul't, der GlossarFuturisten oder der proletarischen Realisten, die sich auf dem Gebiet der Literatur bereits 1920 in einer GlossarAllrußländischen Assoziation proletarischer Schriftsteller (VAPP) zusammengefunden hatten. Die verhältnismäßige Toleranz der sowjetischen Kulturpolitik in den Zwanzigern darf freilich nicht als Liberalität mißverstanden werden: Vorstellungen von einer explizit sozialistischen Ausrichtung der Kunst, von Zensur und Kontrolle, von der gebotenen Verfolgung politisch Andersdenkender sind auch in den frühen Jahren der Sowjetunion klar präsent und deuten in manchem bereits auf spätere Entwicklungen hin.

Dennoch gab es – innerhalb des von der Partei gezogenen Rahmens – Raum für unterschiedliche ästhetische und programmatische Strömungen, die sich in mehreren Organisationen manifestierten. Die proletarischen Realisten sammelten sich in der VAPP: Sie firmierte seit 1928 als GlossarRußländische Assoziation proletarischer Schriftsteller (RAPP), da sie russischer Teil einer als multinational gedachten GlossarAllunionsvereinigung der Assoziationen proletarischer Schriftsteller (VOAPP) sein sollte. Daneben existierten der GlossarAllrußländische Schriftstellerverband (VSP), in dem sich "Mitläufer" zusammengefunden hatten; die GlossarLinke Front der Künste (LEF) als Organisation der Futuristen; das GlossarLiterarische Zentrum der Konstruktivisten (LCK) oder die GlossarAllrußländische Vereinigung der Bauernschriftsteller (VOKP). In der Musik stellten die GlossarRußländische Assoziation Proletarischer Musiker (RAPM) auf der klassenkämpferischen Schiene und die avantgardistisch-modern ausgerichtete GlossarAssoziation für zeitgenössische Musik (ASM) gegensätzliche Pole dar. Gemeinsam war diesen unterschiedlichen Vereinigungen, von denen es auch in der bildenden Kunst eine ganze Reihe gab, der grundsätzliche Wille bzw. zumindest die Bereitschaft, zur Schaffung einer der neuen sowjetisch-sozialistischen Gesellschaft angemessenen Kunst beizutragen. Auf welchen ästhetischen Wegen und mit welchen künstlerischen Mitteln dieses Ziel zu erreichen war, darüber wurde heftigst diskutiert und gestritten.

Führungsrollen in diesen Auseinandersetzungen beanspruchten angesichts der sozialen Bezogenheit des neuen politischen Systems auf das Proletariat die jeweiligen "proletarischen" Organisationen (RAPP; RAPM; Glossar RAPCh (Rußländische Assoziation proletarischer Künstler), allerdings erst seit 1931). Untereinander keineswegs einmütig, sondern in radikale und gemäßigte Flügel gespalten, traten sie für die Abwendung von der überkommenen bürgerlich-adeligen Hochkultur, für die Annäherung der Kunst an die neuen staatstragenden Gesellschaftsklassen, sowie für die Schaffung neuer, "proletarischer" Ausdrucksformen der Hochkultur ein. Die große Stunde dieser proletarischen Künstlerassoziationen schlug 1928. Hatten sie bereits zuvor in scharfen diskursiven Auseinandersetzungen die angeblichen Verfehlungen anderer künstlerischer Richtungen kritisiert, so wurde ihr klassenkämpferisches Programm nun von der politischen Führung als richtige Option sanktioniert.

Hintergrund dieser Entscheidung der sowjetischen Kulturpolitik für die "Proletarier" war die Durchsetzung GlossarStalins in der Partei und der damit verbundene politische Umbruch. Zum einen verloren kulturell im bürgerlichen Sinne hochgebildete, ästhetisch eher konservativ ausgerichtete "Altbolschewiki" in Spitzenfunktionen wie Lunačarskij, GlossarTrockij, GlossarBucharin, GlossarVoronskij u.a., die eher als Verteidiger einer kulturellen Sammlungsbewegung aufgetreten waren, an Einfluß oder wurden ausgeschaltet. Zum anderen zeitigte Stalins Postulierung und Initiierung eines "verschärften Klassenkampfes" nicht nur auf ökonomischem Sektor, sondern auch in Bildung und Kultur ihre Auswirkungen: Die Abkehr vom Kompromißkurs der GlossarNeuen Ökonomischen Politik (NĖP) hin zur forcierten GlossarIndustrialisierung und zur GlossarZwangskollektivierung der Landwirtschaft fand ihr Äquivalent in einer Glossar"kulturellen Revolution", die – darin vergleichbar den wirtschaftspolitischen Umgestaltungen – mit bürgerlichen Relikten in Gesellschaft und Kultur im weitesten Sinne ein Ende machen wollte. Dabei handelte es sich keineswegs nur um eine "Kulturrevolution von oben", im Gegenteil: Viele eifrige Funktionäre und Publizisten verfochten radikal und kämpferisch die Ideen des kulturellen Klassenkampfes, der nun endlich, mehr als 10 Jahre nach der Revolution, der proletarischen Kultur zum Sieg verhelfen sollte. Daß man dabei selbst nicht so genau wußte, wie letztere eigentlich auszusehen hatte, ging im diskursiven Furor jener Jahre zwischen 1928 und 1931 oft unter. Wichtiger war, daß man wußte, gegen wen man vorzugehen hatte – gegen Künstler, deren Werke man als bürgerlich, reaktionär, spießig und antisowjetisch erkannt hatte. Wenn sich auch, um den Jargon der Zeit zu benutzen, manch fauliges Element spießbürgerlicher Kultur aufgrund seiner ungleich größeren Publikumswirkung erstaunlich gut im Repertoire bzw. Programm jener Jahre hielt, so besteht kein Zweifel daran, daß die proletarischen Kunstorganisationen mit Rückendeckung der Partei Artikulationshoheit und Vertretungsmonopol im Kulturleben erreicht hatten.

Es verwundert nicht, daß angesichts dieser scheinbaren Durchsetzung auf ganzer Linie das Selbstbewußtsein der "proletarischen" Kulturfunktionäre beträchtlich anstieg, ja, man beging in den Führungsetagen der Assoziationen den Fehler, sich für unangreifbar zu halten. Seit 1931 regte sich zunehmend Unmut über die Assoziationen; längst waren RAPP und RAPM in die Kritik geraten, wofür auch die – im Vergleich zur Lautstärke ihrer Proklamationen – insgesamt bescheidenen schöpferischen Ergebnisse der proletarischen Kulturschaffenden verantwortlich zeichneten. Letztlich war es ihnen nicht gelungen, aus der ideologischen Vision die adäquate kulturelle Praxis zu schaffen. Man hatte alle Arten von "Mitläufern" diskreditiert, sich zugleich der Reduktion auf reine tagespolitische Agitationskunst gegenüber verwahrt, es jedoch nicht vermocht, eigene Konzeptionen nachhaltig zu vermitteln. So saß man bereits, ohne es recht zu merken, zwischen den Stühlen, als ein erneuter Kurswechsel der politischen Führung eintrat. Der "verschärfte Klassenkampf" sei erfolgreich zu Ende gebracht worden, war seit 1931 zu vernehmen, nun stünden andere Aufgaben auf der Tagesordnung, dies gelte auch für den kulturellen Bereich. Die RAPP und ihr ChefliteratGlossarAverbach verbaten sich derlei Einmischung von ihrer Meinung nach inkompetenter Seite und beharrten auf klassenkämpferischen Positionen. Die Partei drohte damit in die Rolle des Zauberlehrlings zu geraten: Der Besen, den man selbst gerufen hatte, um kräftig durchzukehren, war nicht mehr gewillt, sich bändigen zu lassen. Was folgte, wirkt aus historischer Perspektive naheliegend, kam aber zur damaligen Zeit doch überraschend – die Liquidierung der proletarischen Kunstorganisationen durch einen Beschluß des Zentralkomitees im April 1932.

Wie (nicht nur) in autoritären Systemen üblich galt es, diese überraschende Entscheidung nicht als Eingeständnis einer verfehlten Politik, sondern als Ausdruck einer folgerichtigen und erfolgreichen Entwicklung darzustellen. So setzt die GlossarСK-Verlautbarung mit der Feststellung ein, daß in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem Aufbau des Sozialismus eine große Qualitäts- und Quantitätssteigerung in den Bereichen Literatur und Kunst zu verzeichnen sei. Vor einigen Jahren sei die Situation noch nicht so erfreulich gewesen, weshalb die Partei sich bemüht habe, die proletarischen Schriftsteller und Künstler durch die Stärkung der proletarischen Kunstorganisationen zur fördern. Inzwischen sei der gewünschte Erfolg eingetreten und die neuen Kader quasi ihren Organisationen entwachsen. Die RAPP und ihre Schwesterorganisationen hatten ihren Dienst als Mobilisierungsorgane getan. Nach dem erfolgreichen Klassenkampf war die Konzentration auf den Klassenstandpunkt hinfällig geworden, ja es bestand sogar die Gefahr "zirkelartiger Abgeschlossenheit" und der "Entfremdung von den politischen Aufgaben der Gegenwart". Um dies zu vermeiden, traf das CK die Entscheidung, die proletarischen Assoziationen für Literatur, Musik und bildende Kunst aufzulösen sowie alle Schriftsteller, Musiker und Künstler, sofern sie die Sowjetmacht unterstützten und am Aufbau des Sozialismus mitwirken wollten, in neu zu gründenden Verbänden ihrer jeweiligen Kunstsparten zu vereinigen.

Der Entschluß zur Gründung von Schriftsteller-, Komponisten- und Künstlerverbänden wurde in der Forschung lange als Etablierung einer totalen Kontrolle über das Kulturleben geschildert. Ähnlich wie auf anderen Untersuchungsfeldern erwies sich jedoch auch in der Kultur das totalitäre Modell des stalinistischen Staates längst nicht als so monolithisch, wie es die eigenen Verlautbarungen des Regimes suggeriert haben mögen. Von einer rigiden Gleichschaltung des Kulturlebens konnte jedenfalls nicht die Rede sein: Nicht nur, da die Etablierung der entsprechenden Verbände – zumindest auf Unionsebene – zum Teil Jahre in Anspruch nahm, sondern auch, da diese Organisationen bei allem Parteieinfluß doch ein beträchtliches Eigenleben führten, das ein wesentlicher Teil der spezifischen Sowjetkultur geworden ist. Zwar hatten die Verbände ohne Zweifel Steuerungs-, Kontroll- und Disziplinierungsfunktionen und mußten sich Direktiven von Partei und Staat unterordnen. Die Politik konnte andererseits aber nicht in jedes Detail künstlerischen Alltags hineinregieren. Die Verbände waren damit nicht nur Gängelungsinstrument der Partei, sondern boten den Künstlern Kommunikations- und Publikationsforen und darüber hinaus Grundlagen materieller Sicherheit bis hin zur Privilegierung.

Neuere Forschungen gehen auch nicht mehr davon aus, daß die Parteiführung mit dem Beschluß von 1932 die "absolute Parteihegemonie" über Literatur und Kunst einführen wollte. Vielmehr scheint es das Ziel gewesen zu sein, nach den verstörenden Jahren der Kulturrevolution für (sozialistische) Konsolidierung und Stabilität zu sorgen sowie die dem System wohlgesonnene künstlerische Intelligenz nicht zu verprellen, sondern einzubinden. Daß dies im Zeichen des Sowjetsozialismus und nicht einer liberalen Beliebigkeit geschah, kann nicht ernsthaft verwundern. Wenn man so will, wurde mit dem Beschluß die "sammlungspolitische" Vorstellung der Kulturpolitiker um Lunačarskij aus den 1920er Jahren wieder aufgegriffen – mit dem Unterschied, daß inzwischen im Selbstverständnis der sowjetischen Politik der Klassenkampf erfolgreich zu Ende gebracht und die sozialistische Gesellschaft in der Sowjetunion erreicht worden sei. Die verteufelten bürgerlichen Relikte erklärte man für ausgemerzt, der Entfaltung einer sozialistischen Kunst sollte nun nichts mehr im Wege stehen.

Es ist nur einer von vielen Widersprüchen in der Geschichte der Sowjetunion, daß sich die sowjetische Hochkultur unter den Vorzeichen eines Glossar"Sozialistischen Realismus" seit Mitte der 1930er Jahre in ästhetischer Hinsicht stark an jenen überkommenen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts orientierte, die man in der "kulturellen Revolution" so heftig bekämpft hatte, während die revolutionäre Avantgarde eliminiert und Vorstellungen einer "proletarischen Kunst" marginalisiert wurden. Die Entwicklung der sowjetischen Kultur nach 1932 ist damit Teil jenes generellen, für die Stalin-Zeit typischen Wertewandels weg von radikaler Umgestaltung hin zu einer konservativen Grundhaltung – eine Tendenz, die sich auf vielen, ganz unterschiedlichen Feldern ausmachen läßt, von der Hochkultur bis hin zur Familienpolitik, vom Geschichtsbewußtsein bis hin zur Außenpolitik. Ideologisch und rhetorisch mochte man die eigene Fortschrittlichkeit feiern, in der Praxis griff man allzu oft auf die Tradition zurück, arrangierte sich mit ihr und baute sie im eigenen Interesse aus. Der CK-Beschluß von 1932 wird ex post zu einem Meilenstein bei der Aufgabe revolutionärer Vision zugunsten eines pragmatischen Realismus – das gilt ästhetisch ebenso wie administrativ. Im Ergebnis bleibt die Umgestaltung des sowjetischen Kulturlebens ambivalent. Von vielen Kunstschaffenden durchaus begrüßt, schuf sie in der longue durée in den organisatorischen Strukturen (und über weite Strecken auch in der ästhetischen Ausrichtung) sicherlich die erwünschte Berechenbarkeit und Stabilität: Das Verbandswesen nahm im sowjetischen Kulturbetrieb bis 1991 eine prägende Rolle ein – sowohl als Regelungsinstrument wie als Gestaltungsforum. Andererseits vermochten die 1932 getroffenen Entscheidungen, insbesondere unter der Herrschaft Stalins, Krisen und Verwerfungen wie die Affäre um GlossarDmitrij Šostakovič 1936 oder die Generalabrechnungen mit den Künsten 1946-1948 nicht zu verhindern. Auch in dieser Hinsicht können sie als typisch für den GlossarStalinismus gelten.

Matthias Stadelmann