Gesetz "Über die Gerichtsverfassung der UdSSR, der Unions- und der Autonomen Republiken" des Obersten Sowjets der Union der SSR, 16. August 1938

Einleitung

Die Verfassung der UdSSR vom 5. 10. 1936 (sog. Stalin-Verfassung) sprach der Union, die nach der Verfassung von 1924 nur die Kompetenz zum Erlass entsprechender "Grundsätze" (d. h. Rahmengesetze) besaß, das Recht zum Erlass der Gesetzgebung über die Gerichtsverfassung und das Gerichtsverfahren sowie eines Straf- und eines Zivilgesetzbuches zu (Art. 14 Buchst. u). Darin lag eine deutliche Zentralisierung. Allerdings wurde von diesen Vorhaben nur das Gerichtsverfassungsgesetz, und auch dieses nur in sehr lückenhafter Form, verwirklicht. Die Gerichtsverfassungen der Einzelrepubliken, insbesondere das der RSFSR von 1926, traten damit außer Kraft.

Das GVG wiederholt zunächst in die in der Verfassung festgelegten Justizgrundrechte, nämlich das Rechtsprechungsmonopol der Gerichte (Art. 1 = Art. 102 Verf.), den Grundsatz der Unabhängigkeit der Richter und ihrer Unterordnung nur unter das Gesetz (Art. 6 = Art. 112 Verf.), die Festlegung der Republikssprache als Gerichtssprache und das Recht auf Gebrauch der Muttersprache vor Gericht und ggf. Beiziehung eines Dolmetschers (Art. 7 = Art.110 Verf.), den Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens und das Recht des Beschuldigten auf Verteidigung (Art. 8 = Art. 111 Verf.). Der Grundsatz der Unabhängigkeit der Richter erfuhr also gegenüber der Verfassung eine deutliche Voranstellung.

Diese Grundrechte wurden nicht nur in der Praxis, sondern teilweise schon durch die Gesetzgebung eklatant missachtet. So wurde das Rechtsprechungsmonopol der Gerichte durchbrochen durch die Möglichkeit der Verhängung der Verbannung im Verwaltungswege durch die Besondere Konferenz des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (sog. OSSO-Verfahren). Die Unabhängigkeit der Richter war bereits durch ihre kurze Wahlperiode und das Kandidatenaufstellungsrecht der Kommunistischen Partei eingeschränkt. Außerdem gab es regelmäßige Einflussnahmen der Partei und der örtlichen Machthaber auf laufende Prozesse. Es bürgerte sich ein, dass die Richter aus Angst vor Nachteilen von sich aus bei den örtlichen Machthabern antelefonierten, um das gewünschte Prozessergebnis zu erfahren (sog. "Telefonrecht"). In den Prozessen gegen deutsche Kriegsgefangene waren die Dolmetscher so unzulänglich und parteiisch, dass dies auf eine Nichtgewährung des Rechts hinaus lief. Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verfahren war hinsichtlich der Prozessbeteiligten durch die Möglichkeit der Verhandlung in Abwesenheit, hinsichtlich des Publikums durch Verhandlung in nicht bekannt gemachten Räumen, durch Besetzung der verfügbaren Plätze durch Agenten der Staatssicherheit oder schließlich durch Geheimverfahren beeinträchtigt. Die Justizgrundrechte wurden offensichtlich - ebenso wie die vielen anderen Grundrechte in der Verfassung von 1936 - zur Anbiederung bei den Westmächten in Erwartung eines Krieges gegen Deutschland in die Verfassung eingefügt.

Außerdem wiederholt das Gesetz die Verfassungsbestimmung über die Mitwirkung von Volksbeisitzern, außer in besonderen Fällen (Art. 9 = Art. 103 Verf.), die Bestimmung der Richter durch Wahlen (Art. 10 = Art. 105 – 109 Verf.), und zwar nicht mehr durch die jeweiligen Exekutivkomitees für ein Jahr (!, Art. 16, 41 GVG der RSFSR von 1926), sondern der Volksrichter durch allgemeine Wahlen für drei Jahre (Art. 23f., allerdings erst 1948 verwirklicht!), der übrigen Gerichte (sic!) durch die jeweiligen Sowjets für fünf Jahre (Art. 3o). Die Volksrichter hatten sich vor ihren Wählern zu verantworten (Art. 29). Mit diesen Bestimmungen wollten Verfassung und GVG eine stärkere Demokratisierung der Rechtspflege zum Ausdruck bringen. Diese Regelungen blieb dies jedoch wegen der straffen Führung der Gesellschaft durch die Kommunistische Partei eine reine Fassade; das Recht zur Aufstellung der Kandidaten für die Volksrichter stand sogar ausdrücklich der Partei zu (Art. 24).

Die Wiederholung wichtiger Bestimmungen der Verfassung im einfachen Recht erscheint nur auf den ersten Blick positiv. In Wahrheit verstärkt sie angesichts der tatsächlichen Missachtung den rein propagandistischen Eindruck der Bestimmungen und bezeugt im übrigen die fehlende Bedeutung des Verfassungsrechts und das Fehlen einer Hierarchie der Rechtsquellen in der Sowjetunion.

Weitere Grundsätze waren die Gleichheit des Gerichts für alle Bürger (Art. 5), das Kollegialprinzip (Art. 14), das Recht auf Rechtsmittel, wobei die Kompetenz des Rechtsmittelgerichts auf die Tatsachenüberprüfung erweitert wird (Art. 15). Als Voraussetzung für das Richteramt genügte die Innehabung des Wahlrechts (Art. 11), also ein Alter von 18 Jahren (1948 auf 23 Jahre erhöht); eine juristische Ausbildung war nicht erforderlich und fehlte dem entsprechend jedenfalls bei den Volksrichtern weit gehend.

Unter den Aufgaben der Rechtsprechung waren im Gegensatz zu den "Grundsätzen der Gerichtsverfassung der UdSSR und der Unionsrepubliken" von 1924 der Schutz der Rechtsordnung und die Verwirklichung der revolutionären Gesetzlichkeit nicht mehr genannt. Aufgeführt war nunmehr auch der Schutz des sozialistischen Wirtschaftssystems und des sozialistischen Eigentums - eine Widerspiegelung der einschlägigen brutalen Strafvorschriften. Gleich zweimal verlangt das Gesetz die Sicherung der "genauen und strikten Ausführung der Sowjetgesetze (Art. 2, 3). Art. 3 Abs. 2 lautet pathetisch: "Durch seine gesamte Tätigkeit erzielt das Gericht die Bürger der UdSSR im Geiste der Hingabe an die Heimat und an die Sache des Sozialismus, im Geiste einer genauen und strikten Ausführung der Sowjetgesetze, eines sorgsamen Umgangs mit dem sozialistischen Eigentum, der Arbeitsdisziplin, einer ehrlichen Einstellung zur staatlichen und gesellschaftlichen Pflicht, der Achtung der Regeln des sozialistischen Gemeinschaftslebens (Art. 3 Abs. 2). Hierin kommt der Übergang der Sowjetunion zu konservativen Werten unter Stalin zum Ausdruck. An die Stelle der Weltrevolution ("Die Arbeiter haben kein Vaterland!") tritt die "Hingabe an die Heimat".

In weiteren Abschnitten regelt das Gesetz die Kompetenz und die Besetzung der Volksgerichte (Abschnitt II), der Mittelgerichte (Abschnitt III), der Obersten Gerichte der Autonomen Republiken (Abschnitt IV), der Obersten Gerichte der Unionsrepubliken (Abschnitt V), der Spezialgerichte (Abschnitt VI: Militärtribunale, Liniengerichte des Eisenbahntransports, Liniengerichte des Wassertransports), des Obersten Gerichts der UdSSR (Abschnitt VII) und der Gerichtsvollzieher (Abschnitt VIII).

Während das Recht auf Rechtsmittel erweitert wurde (s. o.), wurde die Möglichkeit der Aufhebung und Änderung rechtskräftiger Urteile im Wege des "Protests" auf die Unions- und die Republikstaatsanwälte und die Präsidenten des Obersten Gerichts und der Obersten Gerichte der Republiken im Interesse "größerer Stabilität" beschränkt (Art. 16); diese Beschränkung wurde allerdings durch Erlass vom 14. 8. 1954 wieder rückgängig gemacht.

Während die Kompetenz des Volksgerichts durch das GVG selbst bestimmt wurde (Art. 21), verweist es für die übrigen Gerichte auf andere gesetzliche Bestimmungen (Art. 32,40, 48,66, 67). Insbesondere politische Delikte worden vor den Obersten Gerichten behandelt, nicht zuletzt, um Rechtsmittel des Verurteilten auszuschließen. Die dem Obersten Gerichts seit seiner Gründung (1923) zugesprochene Kompetenz zum Erlass "Leitender Erläuterungen" wurde zu der des Erlasses "Leitender Anweisungen" verstärkt (Art. 75).

Abschnitt VII über das Oberste Gericht der UdSSR wurde durch ein "Gesetz über eine neue Ordnung über das Oberste Gericht und über die Einfügung von Änderungen und Ergänzungen in die Artikel 104 und 105 der Verfassung der UdSSR" vom 12. 2. 1957, das ganze Gesetz durch die neuen "Grundsätze der Gesetzgebung über die Gerichtsverfassung der UdSSR, der Unionsrepubliken und der Autonomen Republiken" vom 25. 12. 1958 aufgehoben.

Friedrich-Christian Schroeder