Beschluß des Politbüros des CK der VKP(b), 31. Juli 1937, und Einsatzbefehl des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten der UdSSR Nr. 00447 über die Repressivmaßnahmen gegen ehemalige Kulaken, Kriminelle und andere antisowjetische Elemente, 30. Juli 1937

Einführung

1937 glaubte GlossarStalin, daß bei weitem nicht alle Glossar"Volksfeinde" entlarvt worden waren, so daß sein Regime akut gefährdet sei. Gleichzeitig sah er ein, daß es nicht in seiner Macht lag, alle tatsächlichen Systemgegner ausfindig zu machen. Deshalb traf er Mitte 1937 die Entscheidung für eine GlossarSäuberung, bei der man "flächendeckend" vorzugehen hatte. Dies geschah, obwohl damit zu rechnen war, daß der totale Terror Stalins politischen Plänen in einem bedeutenden Maße schaden würde. Hätte doch die geplante Ausrottung ganzer Schichten der Führungs- und Wirtschaftseliten die zeitweilige Enthauptung der sowjetischen Wirtschaftsverwaltung und somit, zieht man den bürokratischen Charakter des sowjetischen Wirtschaftssystems in Betracht, die Gefahr seines Zusammenbruchs bedeutet. Kaum weniger ernst waren die Folgen, mit denen man bei der Säuberung unter den "verseuchten" Kadern der Diplomatie und der Komintern zu rechnen hatte. Sie ließ eine Verengung des außenpolitischen Handlungsspielraumes der Sowjetunion, eine Einschränkung ihrer Präsenz in Spanien und eine tiefgreifende Krise der GlossarVolksfrontpolitik befürchten. Doch die innenpolitischen Interessen Stalins fielen mehr ins Gewicht, als alle möglichen Verluste. Schließlich hatte er nur noch ein Mittel, die totale Macht des Zentrums über die Peripherie durchzusetzen: alles zu vernichten, was sich ihr hätte widersetzen können.

In dieser Phase des Terrors verfolgte Stalin das Ziel, die soziale Basis des Widerstandes gegen das Regime zu desorganisieren. Seit August 1937 wurden die Randgruppen und -schichten der sowjetischen Gesellschaft durch die Terrormaschinerie erfaßt. Sie beseitigte die letzten Fetzen des bereits zu Beginn der 1930er Jahre zerstörten Sozialgewebes. Zu Objekten der Repressionen wurden alle potentiellen Wortführer der Unzufriedenheit "von unten" bestimmt, d.h. diejenigen, die aus offizieller Sicht im Konflikt mit dem Regime lagen oder aufgrund ihrer politischen Ansichten und ihrer Klassenzugehörigkeit sowie ihres "antisozialen Verhaltens" seinen Fortbestand gefährdeten. Dazu gehörten aktive Teilnehmer der ehemaligen Opposition, die noch Ansätze eines kritischen Denkens bewahrt hatten, ehemalige GlossarKulaken, die sich von der Macht benachteiligt fühlten, und Kriminelle. Aufgrund der Vereinfachung der Untersuchungs- und Gerichtsverfahren und der Einführung der GlossarTrojka waren die lokalen GlossarNKVD-Mitarbeiter mit der Macht ausgestattet, jeden Menschen zu beseitigen, an dem sie etwas auszusetzen hatten, sei es, daß er politisch verdächtig, ein Krimineller oder persönlich unsympathisch war. Unabgängig davon, ob und was die betroffenen Personen getan hatten – nach ihrer Verhaftung fand man in ihren Handlungen immer eine "Schädlingsabsicht". Jetzt wurde zur "Schädlingsarbeit" erklärt, was früher als Fahrlässigkeit und Kopflosigkeit eingestuft wurde, nämlich wirtschaftliche und technische Fehlplanungen sowie insbesondere die Versuche, seine Kader vor den "Dienstprügeln" in Schutz zu nehmen und "Immunitätsreste" zu wahren. Über das Schicksal eines Menschen entschied seine Vergangenheit (die Zugehörigkeit zur Opposition), jeder Verdacht ihm gegenüber, sei er begründet oder nicht, sowie sein "Einsatz für entlarvte Volksfeinde".

GlossarEžovs Befehl konfrontierte seine Mitarbeiter mit der komplizierten Aufgabe, die Verschwörungsnetze mit Tausenden von Teilnehmern auszuheben und gleichzeitig diese so schnell wie möglich zu vernichten. So überrascht es nicht, daß die "Aufdeckung der Verbrechernetze" unter Folter geschah. Auf diese Weise wurden Hunderttausende sowjetische Bürger verhaftet, erschossen oder ins Lager gesperrt und dem Untergang geweiht. Bis Ende 1938 wurden im Rahmen dieser großangelegten Aktion ca. 400 000 Personen verhaftet. Ein derartiges Arbeitstempo ließ vermuten, daß die Trojkas der Sache nicht mehr auf den Grund gingen und ihre Beschlüsse nach Gutdünken fällten. Die Angst atomisierte die Gesellschaft: Beziehungen untereinander wurden abgebrochen und jeder Mensch pflegte nur noch Kontakt zu seinem offiziellen Vorgesetzten, den man wiederum bei der Parteispitze und bei Stalin persönlich denunzieren konnte.

Einen Schwerpunkt der Massenaktionen stellten die Säuberungen unter den Vertretern der nationalen Minderheiten dar. Das Mißtrauen gegenüber ihnen kannte keine Grenzen. Eine Opfergruppe bildeten jene Völker und Ethnien, bei denen der Großteil der Stammesgenossen jenseits der Grenzen der UdSSR wohnte. Sie waren von Massendeportationen betroffen. So wurden Koreaner möglichst weit weg von den Grenzen zu der von Japanern besetzten Mandschurei umgesiedelt, damit sie nicht für Japan "spionieren" konnten. Auf Sachalin wurden fast alle lese- und schreibfähigen Ureinwohner zu "japanischen Spionen" erklärt.

Der Beschluß des GlossarPolitbüros vom 31. Juli 1937 bestätigt, daß die massenhaften Terroraktionen, die zur Vernichtung von Tausenden unschuldiger Menschen führten, weder auf die Initiative noch auf die Kompetenzüberschreitung seitens des NKVD zurückgingen. Der russische Historiker O. Chlevnjuk hält alle Vorstellungen "von der hohen Selbstständigkeit und Unkontrolliertheit der Repressionspolitik vor Ort" für "übertrieben". Dies bestätigen auch Dokumente der Leitungsgremien der GlossarVKP(b), darunter die Glossar"Sonderprotokolle" der Politbürositzungen, in denen die Beschlüsse über die Durchführung der Repressionsmaßnahmen festgehalten wurden. Historische Dokumente sprechen dafür, daß es sich bei der Säuberung der Jahre 1937-1938 um eine zielgerichtete Aktion handelte, die im gesamtstaatlichen Maßstab geplant wurde. Sie wurde auf Initiative und unter der Kontrolle der höchsten Staats- und Parteiführung der UdSSR durchgeführt. Sogar eine kurze Aufzählung bei weitem nicht aller Aktionen, die alle zusammen das Wesen dessen ausmachen, was als Glossar"Großer Terror" bekannt ist, erlaubt die Schlußfolgerung, daß die Massenrepressionen grundsätzlich nach einem vom Zentrum aus gesteuerten Mechanismus abgewickelt wurden.

Selbstverständlich bedeutet dies nicht, daß bei der Umsetzung der Repressionsmaßnahmen der Jahre 1937-1938 weder lokale Eigeninitiative noch eine gewisse Spontanität vorgekommen waren. Im offiziellen Jargon hießen sie "Übertreibungen" oder "Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit". Zu den "Übertreibungen", die in den Jahren 1937-1938 unter den lokalen Organen stattfanden, gehörte die Überschreitung des Verhaftungslimits, die durch Moskau festgesetzt wurden. So hatte beispielsweise die NKVD-Trojka in Turkmenien zwischen August 1937 und September 1938 nach unvollständigen Angaben 13 259 Personen verurteilt, während das Limit nur 6 277 Personen vorsah. Dazu gehörten auch Anträge auf Erhöhung der Erschießungsquoten, die die lokalen Behörden bei zentralen Stellen einreichten: Der NKVD-Apparat nutzte die Situation, um an den persönlichen Feinden Rache zu nehmen. Schließlich wurden als "Übertreibungen" auch Amtsmißbrauch und eine "zu hohe" Zahl von Toten bei den Verhören gewertet. Allerdings wurde eine derartige "Spontanität" und "Initiative" der lokalen Behörden von vorneherein eingeplant; sie waren Konsequenzen der Befehle, die das Zentrum erteilte, sowie der Ernennung der brutalen Vollstrecker auf Führungspositionen im NKVD und der Unterbindung jedes auch noch so kleinen Versuchs, dem Terror entgegenzusteuern. Die Autonomie der lokalen Behörden wurde in einem gewissen Umfang geduldet: So konnten sie die Entscheidung darüber fällen, wer zu erschießen, wer ins Lager zu schicken, und wer in Ruhe zu lassen war.

Sowohl die Drahtzieher des Terrors, als auch die neuen Leitungskader entstammten jenen sozialen Schichten, gegen die der Kampf geführt wurde. Viele unter ihnen handelten aus Karrierismus und nutzten das Unglück der Verhafteten in ihren eigenen Interessen aus. Nach dem "Pogrom" unter den Funktionären, die zum Clan eines "sowjetischen Baron" gehörten, mußte man sie durch irgend jemand anders ersetzen. Die "Reserve", auf die man jetzt zurückgriff, setzte sich aus Tausenden von ehemaligen Parteimitgliedern zusammen, die die alte Führung aus der VKP(b) ausgeschlossen hatte. Ohne erforderliches Wissen und Vorbereitung kam eine Vielzahl von Parteifunktionären der untersten Ebene, die die Säuberung überlebt hatte, gleichzeitig über mehrere Stufen in der Diensthierarchie nach oben. Da diese Personen ihre schwindelerregende Karriere dem Terror zu verdanken hatten, wurden sie zu treuen Stützen des sowjetischen Führers. Als eine gute Kaderreserve galten die Mitarbeiter des NKVD.

Die Umtriebe der "Volksfeinde", die sich angeblich in die politische Führung und in alle Ecken der Gesellschaft eingeschlichen hatten, boten die Erklärung für alle Probleme des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft. Der sowjetische Führer wollte den gewöhnlichen Menschen vor Augen führen, daß er keine persönliche Verantwortung für ihr Unglück trug, was ihm die Möglichkeit gab, den Zorn der Unzufriedenen von der herrschenden Oligarchie auf die lokale Bürokratie zu lenken. Die "ehrliche Kommunistin, Genossin GlossarNikolaenko", die ihre Parteivorgesetzten in der Provinz bei der zentralen Führung denunzierte, wurde zum Musterbeispiel für andere erhoben. Millionen wurden in "Nikolaenkos" verwandelt und gegen die Parteielite eingesetzt. Die Denunziationen wurden zur Massenerscheinung. Teilnehmer von tausendendköpfigen Meetings der "sowjetischen Öffentlichkeit" verlangten die Erschießung der "Spione und Mörder", die Mehrheit unter ihnen – durchaus aufrichtig. Hiermit hatte Stalin sein Ziel erreicht: Er bewies allen, daß er sich in seinem Kampf gegen breite Schichten der Gesellschaft auf die "kleinen Leute" stützte.

Dem sowjetischen Führer kam es darauf an, daß kein alternatives Programm des Kommunismus aufgestellt wurde, wie es einst der GlossarTrotzkismus war. Stalin verfolgte die ideelle Entwicklung unter der Parteiintelligencija aufmerksam; mit der Zeit konnten ja auch überzeugte Kommunisten zu gleichen Schlußfolgerungen gelangen, wie die soeben "ausgerottete" Opposition. Alle diejenigen, die sich einer oppositionellen Haltung verdächtig machten, wurden beseitigt. Unter den Opfern waren der Theaterregisseur GlossarV. Mejerchol'd, Schriftsteller und Dichter, die kritische Anspielungen auf den Führer machten (z.B. GlossarB. Pil'njak und GlossarO. Mandel'štam) oder der führende kommunistische Journalist GlossarM. Kol'cov. Vor der Kreativität der parteilosen Intelligencija, die dem ideologischen Kampf fernstand, hatte Stalin keine Angst – er ließ z.B. die herausragenden russischen Schriftsteller GlossarA. Achmatova, GlossarM. Zoščenko und GlossarM. Bulgakov, die bei weitem keine kommunistische Gesinnung vorweisen konnten, am Leben.

Der Terror führte zur Desorganisation des Einparteistaates. Das NKVD brachte die Partei- und Staatstrukturen unter seine Gewalt. Doch dann wurde offensichtlich der Beschluß gefaßt, der weiteren Eskalation des Terrors Einhalt zu gebieten, da er bereits die engsten Mitstreiter Stalins und die neue Generation der Parteikader bedrohte, die während der Säuberung aufgestiegen waren. Die Aufgaben, die dem Großen Terror oblagen, waren gelöst: Am 28. und 29. Juli 1938 wurden die verhafteten Partei- und Staatsführer en gross erschossen. Diese Hinrichtungen markierten zugleich den Anfang vom Ende des Terrors.

Die Zahl der Opfer, die der Terror gefordert hatte, ist riesig. Nach Angaben des KGB der UdSSR fielen zwischen 1930 und 1953 3 778 234 Menschen dem Terror zum Opfer, davon wurden 786 098 erschossen, und die anderen in Lager eingewiesen und der Sklavenwirtschaft des Mammutsystems GlossarGULag zur Verfügung gestellt. In den Jahren 1937-1938 wurden 1 372 329 Personen verhaftet, von denen 681 692 erschossen wurden. 1917-1938 starben 115 922 Lagerinsassen. Insgesamt starben zwischen 1934 und 1947 962 100 Lagerinsassen, mehr als die Hälfte davon – während des Krieges. In Anbetracht dessen kann davon gesprochen werden, daß die Repressalien der 1930er Jahre mehr als anderthalb Millionen Tote gefordert haben.

Aleksandr Šubin

(Übersetzung aus dem Russ. von L. Antipow)