Michail Čiaureli, “Der Fall von Berlin”, Mosfil'm 1949

Einleitung

Der Sieg über Deutschland führte in der Sowjetunion zu keiner Liberalisierung der Diktatur, wie sie in der sowjetischen Bevölkerung ersehnt worden war. Die Ausweitung des GULag erreichte vielmehr in diesen Jahren ihren Höhepunkt. Fast unterschiedslos richtete sich die Repression nicht nur gegen die vermeintlichen Kollaborateure, sondern auch gegen die militärischen Sieger. Vor dem Hintergrund einer äußerst prekären sozialen Lage war spätestens seit Sommer 1946 eine neue politische und kulturelle „Eiszeit“ angebrochen, eine „erste allgemeine ideologische Säuberung nach dem Krieg“. Unter der Führung des ZK-Sekretärs Andrej Ždanov wurde die partielle Liberalisierung, die Krieg und unmittelbare Nachkriegszeit mit sich gebracht hatten, wieder rückgängig gemacht. Die sowjetische Propaganda reproduzierte die Bilder der dreißiger Jahre; zu den Stachanovarbeitern und Aktivisten traten nun allerdings die Helden des „Großen Vaterländischen Krieges“ und der Mythos des Sieges über den Faschismus.

In der Sowjetunion waren es hauptsächlich fünf Attribute, die Stalin in der Propaganda zugeordnet wurden: sein enges Verhältnis zu Lenin; die gemeinsame Führerschaft in der Oktoberrevolution; seine Rolle beim erfolgreichen Aufbau des Sozialismus in der UdSSR; seine politischen und wissenschaftlichen Schriften und sein enges, paternalistisches Verhältnis zum „Volk“. Seit dem Krieg war das Bild Stalins als genialer und siegreicher Feldherr hinzugekommen - man hatte ihm nach dem Sieg den Titel „Generalissimus“ verliehen. In der sowjetischen Öffentlichkeit wurden diese Bilder von Stalin unablässig verbreitet. Unzählige Filme trugen zur Glorifizierung des „Großen Führers“ bei: „Der Schwur“ (Kljatva, 1946) von Michail Čiaureli, „Der dritte Schlag“ (Tretij udar, 1948) von Igor' Savčenko, „Die Stalingrader Schlacht“ von Vladimir Petrov (Stalingradskaja Bitva, 1949) – sie alle sind den Heldentaten des Kriegsherrn Stalin gewidmet. Der Produktionsplan sah damals vor, 20 Filme über die 20 Heldentaten Stalins zu drehen. Das Projekt wurde jedoch nie verwirklicht.

Das mit großem Aufwand in zwei Teilen gedrehte Kriegsepos "Der Fall von Berlin" illustriert die spätstalinistische Interpretation der Ereignisse von 1941 bis 1945. Leitfiguren der Handlung sind der Stahlschmelzer Aleša und die Lehrerin Nataša aus einer Kleinstadt im Westen der Sowjetunion. 1941 lernen sie sich kennen und lieben, unmittelbar bevor die Deutschen ihre Heimat überfallen. Nataša wird nach Deutschland verschleppt, Aleša zieht in den Krieg, kämpft vor Moskau, bei Stalingrad, zieht dann mit der Roten Armee gen Westen, bis er schließlich mit seinen Kameraden den Berliner Reichstag stürmt und inmitten der anschließenden Jubelfeiern die inzwischen aus dem KZ befreite Nataša wieder trifft.

Die Figuren des Films sind stereotyp und die anfänglichen Verwicklungen in der Liebesgeschichte sehr oberflächlich gezeichnet - dem Betrachter wird hier sehr schnell bewusst, dass dies nicht das zentrale Sujet sein kann. Dennoch macht die scheinbare Subjektivie¬rung des Blickwinkels den „Fall von Berlin“ reizvoller als vorangegangene sowjetische Kriegsfilmproduktionen, wie etwa Petrovs „Die Stalingrader Schlacht“. Die fiktiven Handlungslinien kommen gemeinsam mit der historischen zu einem Abschluss: Die Liebenden finden zueinander, die meisten anderen Charaktere den Tod. Im ständigen Wechsel zwischen dokumentarischem Mitteilungsmodus - Titeleinblendungen mit genauen Zahlen, Daten, Ortsangaben etc. - und den an ein Märchen erinnernden Erzählstrukturen liegt das Charakteristische dieses Filmwerks.

Die geographische Lage des Ortes der Handlung birgt hier - jenseits der Filmlogik - einen Widerspruch in sich: Einerseits kommt der Krieg sehr überraschend - Nataša winkt den nicht als feindlich erkannten deutschen Bombern anfänglich sogar zu - und kurz nach Beginn des Bombardements erscheinen auch schon die ersten feindlichen Bodentruppen, was bedeuten muss, dass es sich hier zwangsläufig um einen Ort direkt an der 1941er Grenze zwischen den deutschen und sowjetischen Einflusssphären handeln muss. Dies allerdings würde bedeuten, dass der Sowjetisierungsprozess in der betreffenden Region erst etwa anderthalb Jahre vor Beginn der Filmhandlung begonnen hat, was angesichts einiger zentraler Aussagen des Films fragwürdig erscheint: Wenn Alešas Mutter beispielsweise davon spricht, Stalin habe ihre Familie – eine alte Stahlschmelzerfamilie aus dem Ural - als Lehrmeister in dieser Stadt angesiedelt, wird dem Zuschauer nicht der Eindruck vermittelt, als sei dies erst vor ein paar Monaten geschehen. Aleša selbst behauptet zudem angesichts seines zerstörten Hauses, er sei an diesem Ort aufgewachsen.

Der auf das Kriegsgeschehen konzentrierte Mittelteil - vom Kriegsausbruch bis zur Erstürmung des Reichstags - spielt sich von der Logik der Erzählung her in den von den Filmen „Der Schwur“, „Der Dritte Schlag“ und „Die Stalingrader Schlacht“ vorgezeichneten Bahnen ab. Der Auftraggeber des Films ist gleichzeitig dessen eigentliche Hauptfigur - Stalin. Der sowjetische Diktator agiert gottgleich, gütig, weise und allwissend. In langen Gesprächsszenen berät der Generalissimus mit den Spitzen des Politbüros die Lage der Nation. Souverän erfasst er mit flüchtigen Blicken auf die Landkarte die Situation der eigenen Truppen und die Taktik des Gegners und lenkt die Armeen mit sicherer Hand zum Sieg. Auch im „Fall von Berlin“ zeigt sich Stalin als der einzige Entscheidungsträger im sowjetischen Heer und - obwohl sich seine Armee in der Defensive befindet - als aktiver Part im Kriegsgeschehen. Der Begriff der „Gegenoffensive“ (kontrnastuplenie) erweist sich als omnipräsent. Einige aus anderen Filmen bekannte Motive haben große Bedeutung für das hier konstruierte ideologische Selbstbild der Sowjetunion - etwa die Parade am 7. November 1941 auf dem Roten Platz - oder für die politische Rechtfertigung des Kriegsverlaufs insbesondere in den ersten Kriegswochen und -monaten, so das angebliche Sparen von Reserven bei der Verteidigung, die dann mit doppelter Effizienz beim Angriff zur Geltung kommen.

Der Film entstand 1949 im Gründungsjahr der beiden deutschen Staaten während des bereits entflammten Kalten Krieges, der Berliner Blockade und der stalinistischen Ausrichtung Ostmitteleuropas nach 1948. Vor diesem Hintergrund sind die Darstellung des Verhältnisses der Sowjetunion zu den Westalliierten und das Bild der Deutschen im Nazistaat zu sehen. Roosevelt und Churchill erscheinen als Papiertiger in der Kriegsführung und als Unsicherheitsfaktoren in der Diplomatie, und mehrmals wird angedeutet, dass sie fast eher mit Hitler sympathisieren, als mit Stalin. Der Generalissimus erkennt die Problematik und stellt fest, dass die Sowjetunion beim Vormarsch auf Berlin nur auf ihre eigene Kraft vertrauen kann.

"Die Deutschen" als solche sind im Film kaum präsent. Es gibt kein Gegenstück zu Aleša und Nataša. Anonyme, einmarschierende Soldatenzüge in der Anfangsphase, später vor allem Hitler und die politische und militärische Führung des Nazistaates, werden meist über Symbole des Nazismus und Militarismus - wie Hakenkreuzflaggen, beadlerte Offiziersmützen und Marschmusik - filmisch eingeführt und identifiziert. Auch in der Darstellung der Kriegshandlungen selbst besteht eine Asymmetrie zwischen dynamischen Bildern feuernder sowjetischer Geschütze oder den triumphal aufmarschierenden Waffengattungen der Roten Armee und den wenigen Totalen eigentlicher Kampfhandlungen beim Erstürmen von Schützengräben und ähnlichem. Deutsche werden im Rahmen dieser Kämpfe anscheinend nicht getötet. Die wenigen Ausnahmen sind meist hinterhältige und feige Offiziere. In der Endphase des Films werden einfache Deutsche als Opfer Hitlers präsentiert: Hitlers Sekretärin probt den Aufstand, als sie von der geplanten Überflutung der U-Bahn-Schächte hört, eine trauernde Soldatenmutter verflucht Hitler über der Leiche ihres Sohnes im zerstörten Berlin. Ausgehend von der Handlungsstruktur des Filmes „Der Schwur“, in der Varvara Petrova als Personifikation der „Mutter Heimat“ bzw. des „Mütterchen Russlands“ erscheint, bietet es sich auch im Falle dieses Films an, in den stereotypen Figuren des Liebespaares Symbolfiguren zu sehen, in deren Lebensgeschichte sich das gesamte Schicksal der Sowjetunion in den Jahren 1941–45 in seiner gesamten Tragweite manifestiert:

– Verlust des Hauses und der Mutter (d.h. der "Heimat");

– Ohnmacht und Zustand physischer Handlungsunfähigkeit (in Alešas dreimonatigem Lazarettaufenthalt, welcher der militärischen Katastrophe des Sommers 1941 entspricht);

– Unterdrückung, Verschleppung und Deportation (in Natašas Schicksal als Verschleppte in deutschen KZs);

– Verteidigung Moskaus und Sieg bei Stalingrad;

– Vergeltungsgelöbnis (Szene in Alešas zerstörtem Haus);

– Einmarsch in Deutschland und Eroberung Berlins.

Interessant ist, dass es nach Aussage des Films in der sowjetischen Armee des Zweiten Weltkrieges anscheinend keinerlei Befehlsinstanzen zwischen "einfachen" Soldaten wie Aleša und Stalin mit seinem Generalstab gegeben hat. Aleša steht mit seinen Kameraden an der Oder und wartet auf den Einsatzbefehl, der natürlich von Čujkov persönlich ausgegeben wird. Er kündigt "seinen" Stalingrader Kämpfern an, dass nun der Zeitpunkt gekommen sei, die Stalingrader Siegesfahne nach Berlin zu tragen. Bei näherer Betrachtung des im Film agierenden sowjetischen Generalstabs wird zudem ersichtlich, dass Žukov, der als Befehlshaber der 1. Weißrussischen Front maßgeblich an den Schlussoperationen des Krieges und an der Eroberung Berlins beteiligt war - schließlich nahm er als sowjetischer Vertreter am 9. Mai die Kapitulation der deutschen Wehrmacht entgegen - im Film nur mit einer äußerst marginalen Rolle bedacht wird. Žukov gerät lediglich einmal als schweigender Teilnehmer einer Generalstabsbesprechung ins Bild - unmittelbar zu Beginn des ersten Teils - glänzt aber ansonsten durch Abwesenheit. In der Schlussszene nehmen Čujkov, Konev und Rokossovskij die Glückwünsche ihres eben vom Himmel herabgestiegenen obersten Befehlshabers entgegen, die Person Žukovs wird jedoch noch nicht einmal am Rande erwähnt. Als in diesem Zusammenhang nicht unbedeutend kann Stalins Misstrauen gegen eine Armee gelten, die während des Krieges viel Ruhm geerntet und zum populärsten Machtgebilde im Land geworden war. Die siegreichen Marschälle waren in der Öffentlichkeit beliebte Gestalten, darunter vor allem Žukov, der Eroberer Berlins. Freilich hatte Stalin nicht die Absicht, seine Machtstellung von den Marschällen untergraben zu lassen. Nach einjährigem Kommando in Deutschland wurde Žukov im Sommer 1946 abgesetzt und auf obskure Posten im Innern der Sowjetunion abgeschoben; erst gegen Ende 1952 durfte er wieder einen Posten in Moskau übernehmen.

Die zeitgenössischen sowjetischen Rezensionen zu "Der Fall von Berlin" sind einhellig in ihrem Lob, nicht selten gestalten sich ganze Phrasen in zwei oder mehr Filmbesprechungen wortwörtlich identisch. Die Handlung wird in der Regel in paraphrasierender Art und Weise ausführlichst beschrieben und interpretiert, wobei der Hauptfokus der meisten Rezensionen auf Stalins Beziehung zum "Volk" (narod) bzw. zu "den Völkern" (narody) gerichtet ist. So schreibt der Drehbuchautor Aleksandr Štejn in der Literaturnaja Gazeta vom 21. Januar 1950: "‚Der Fall von Berlin’ ist wunderbar durch seine wahre Darstellung der gegenseitigen Beziehungen von Führer und Volk. Im Film wird inspiriert, poetisch, leidenschaftlich von der großen Liebe der Völker zu Stalin erzählt, von der Liebe des großen Stalin zu den Völkern. Das gigantische Bild Stalins gibt dem ganzen Film Farbe. Stalin nimmt sogar dann unsichtbar an den Angelegenheiten der sowjetischen Menschen teil, wenn er gar nicht auf der Leinwand ist."

Lars Karl