Sergej Ėjzenštejn, Aleksandr Nevskij, Mosfil'm 1938

Einleitung

Filmplot: Man schreibt das Jahr 1242. Die Kiever Rus’ ist seit Mitte des 12. Jahrhunderts in einzelne Teilfürstentümer (Udel’naja Rus’) zerfallen. Die Länder der Rus’ werden von den mongolischen Eroberern unter Chan Batu verwaltet. Dem von der Uneinigkeit unter den russischen Fürsten und vom mongolischen Einfall aus dem Osten (dem „Tatarenjoch“) geschwächten Land, droht nun eine neue Gefahr. Diesmal kommt sie aus dem Westen, von Seiten der christlichen Glaubensverwandten: Der Deutsche Orden hat auf seinem Kreuzzug mit Hilfe deutscher und livländischer Kreuzritter bereits Pskov erobert und gebrandschatzt. Er nähert sich der noch freien Stadt Novgorod. Deren Bewohner sind entschlossen, ihre Stadt zu bewahren, doch sind sie noch uneins über das richtige Vorgehen. Bojaren, Kaufleute und der Mönch Ananij raten, sich auf den Friedensvertrag mit den Deutschen zu verlassen. Bojar Domaš, die städtischen Unterschichten und die Patrioten (vertreten durch Ignat, Ol’ga, Gavrilo) sind dafür, sich zur Verteidigung zu rüsten und dem großen Heerführer Fürst Aleksandr Nevskij die Führung im Kampf anzutragen. Eine Delegation macht sich zu ihm auf den Weg.

Aleksandr Jaroslavič war 1240 in der Schlacht an der Neva gegen Schweden siegreich gewesen. Das hatte ihm den Beinamen „Nevskij“ eingetragen und seinen Ruf als Retter der Unabhängigkeit Novgorods begründet. Nach diesem Sieg kehrte er allerdings der Stadt den Rücken, weil sie ihm nicht die geforderten politischen Rechte einräumte. Jetzt, 1242, schlägt er ein Angebot des mongolischen Herrschers aus, ihn zum Voevoden bei der Horde zu ernennen. Stattdessen folgt er dem Ruf, zwar nicht für Novgorod, doch für die Ehre des rus’ischen Landes (rus’kaja zemlja), gegen die Deutschen, den ärgsten Feind der Rus’, zu kämpfen.

Am 5. April beginnt die Schlacht auf dem Pejpussee. Der keilförmigen Kampfformation der Kreuzritter begegnet Aleksandr mit einer Strategie, die – im Film – von der Volkserzählung des Waffenschmieds Ignat inspiriert ist: Ein von einer Füchsin verfolgter Hase lockt jene in eine Falle, in der sie stecken bleibt, und vergewaltigt sie. Aleksandr überträgt die derbe Volksweisheit in seine Kampfstrategie. Er lockt die Kreuzritter auf den vereisten See, wo ihre Pferde ausgleiten und sie ins trügerische Frühlingseis einbrechen. Die Schlacht auf dem Eis nimmt fast ein Drittel des gesamten Films ein. Das bis dahin übermächtig scheinende Ritterheer der Deutschen wird schließlich besiegt. Aleksandr kann im Zweikampf den Ordensmeister schlagen. Nach der Schlacht ziehen die Sieger im Triumphzug mit ihren Gefangenen in die Stadt ein. Aleksandr richtet über die Feinde: Das Fußvolk lässt er frei. Auch die Ritter kommen mit dem Leben davon. Sie aber sollen beim Orden gegen Seife(!) eingetauscht werden. Einzig der Verräter Tverdila, wird an das Volk zur gerechten Strafe übergeben und hingerichtet. In der Bildmontage wechselt sein Gesicht mit dem Blick auf die eigenen Gefallenen und weist ihm so die Schuld am Tod dieser Vaterlandsverteidiger zu. Die zentrale Heldengeschichte des Fürsten und die Kriegshandlung begleitet ein paralleler Handlungsstrang mittelalterlicher Minne zwischen Stadt und Kriegsschauplatz. Nachdem nun auch noch zwei Ehen gestiftet sind, hält Aleksandr eine beschwörende und warnende Rede an die freigelassenen Feinde: "Geht hin und sagt allen in den fremden Ländern, dass die Rus’ lebt. Mögen [die Fremden] uns ohne Furcht als Gäste besuchen. Wenn aber jemand mit dem Schwert zu uns kommt, dann wird er durch das Schwert umkommen. Darauf ruht heute und in Zukunft das rus’ische Land."

Analyse: Mit dem Konflikt zwischen dem Beschluss der Novgoroder städtischen Volksversammlung (veče) und dem Fürstenwillen knüpft der Film an historische Fakten an. Nicht unumstritten ist allerdings, ob Aleksandrs Kampfbereitschaft 1242 tatsächlich den genannten patriotischen Motiven entsprang, genauer ob nach mehr als zwei Generationen der Spaltung die Idee eines gemeinschaftlichen Landes der Rus’ (rus’kaja zemlja), die es zu verteidigen galt, noch so stark gewesen sein konnte. [1; Zum historischen Zusammenhang und der Rolle des Aleksandr-Mythos auch in Bezug auf den Film siehe: Schenk, F. B., Aleksandr Nevskij, Köln 2004.]

Im 13. Jahrhundert sahen sich die russischen Fürstentümer von Osten wie von Westen bedrängt. Der Einfall der Mongolen hatte das Land unter das "Tatarenjoch" (tatarskoe igo) gezwungen. Die Polovcer unterlagen 1223 in der Schlacht an der Kalka, Rjazan’ und Vladimir-Suzdal’ wurden 1237/38 eingenommen und Černigov und Perejaslavl’ fielen 1239. Aufgrund der von hohen Menschenverlusten geschwächten Gebiete und der zerstörten und geplünderten Städte musste ein Befreiungskampf aussichtslos scheinen, und dies umso mehr, als Machtkämpfe zwischen den russischen Fürsten ein geschlossenes Handeln gegen die mongolische Besetzung verhinderten. Doch dieser innerrussische Konflikt tritt bei Ėjzenštejn ganz in den Hintergrund. Stattdessen betont der Film die Steigerung der Feindseligkeiten von außen: Gemessen am Tatarenjoch erweist sich die deutsche Invasion als weitaus gefährlicher. Zwar sind die mongolischen Herrscher streng und fordern bedrückende Abgaben, aber sie respektieren die menschliche Würde des besiegten russischen Volkes. Die Eindringlinge aus dem Westen hingegen, kommen im Namen Christi, handeln jedoch wie fanatische Barbaren, deren Unmenschlichkeit keine Grenzen kennt. Anders als der Chan, der sich darauf beschränkt, materiellen Nutzen aus dem besetzten Land zu ziehen, verfolgen die katholischen Eiferer das Ziel, das russische Volk selbst auszurotten. Zu den bestialischsten Szenen in diesem Film gehört die Verbrennung der Säuglinge und Kleinkinder in Pskov durch die von einem diabolischen Mönch angestachelten deutschen Kreuzritter.

Mit dieser Fassung der Aleksandr-Geschichte gelingt es Ėjzenštejn, auf geniale Weise sowohl nationale Vergangenheit lebendig zu machen als auch der politischen Gegenwart Rechnung zu tragen und überdies intuitiv die nahe Zukunft vorwegzunehmen. Das russische Publikum erlebt in seinem bewegenden Film Liebe und Krieg, Spannung, Witz, heroische Taten und moralische Größe. Stalin findet Bestätigung in dem Führer- und Vatermodell des weisen Heerführers Aleksandr, im patriotischen Geist und im kollektiven Wir-Gefühl in der Gegenüberstellung mit dem äußeren Feind – all dies Integrationseffekte, die nach der Großen Säuberung nötiger sind denn je. Geradezu symbolisch ist das Datum der öffentlichen Filmpremiere: Am 1.12.1938 jährt sich die Ermordung Kirovs zum vierten Mal, jener Fall, mit dem die Säuberungen begonnen hatten. Für den Künstler, Ėjzenštejn selbst, bringt dieser Film nach langen Jahren der öffentlichen Kritik endlich die überlebensnotwendige Anerkennung. Formal nach den Erfordernissen des Sozialistischen Realismus konzipiert, entwirft er in jeder Hinsicht positive Rollenvorbilder und ordnet Gut und Böse eindeutig zu. Das Drehbuch blickt in die Zukunft, sofern es mit der mittelalterlichen Geschichte das nationale Trauma, den Überfall des deutschen Faschismus auf die Sowjetunion gestaltet, der drei Jahre später erst Wirklichkeit werden sollte. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass zwischen der Produktion dieses Films und dem Ereignis, auf das er verweist, noch der Geheimpakt zwischen Stalin und Hitler liegt, ein Pakt, vor dem der Film entschieden warnt: trauten doch schon die Novgoroder dem Frieden mit den deutschen Invasoren nicht. Kein Wunder, dass der Film Aleksandr Nevskij zwischen dem 23.8.1939 und dem 22.6.1941 mit Rücksicht auf den ungenannten Vertragspartner in sowjetischen Kinos nicht gezeigt werden durfte. Doch wie der Vertrag, währte auch das Verbot nicht lange.

Entstehungsgeschichte und Rezeption des Films: Nach einigen politischen Misserfolgen und neun Jahren des Schweigens seit seinem vorherigen Film konnte Ėjzenštejn mit Aleksandr Nevskij sein großes Ansehen als sowjetischer Filmemacher zurückgewinnen. An der Entstehung des neuen Epos nahm die Öffentlichkeit in ungewöhnlichem Maße Anteil. Ende 1937 erschien unter dem Titel Rus’ in der literarischen Zeitschrift Znamja das erste Drehbuch zum Film. Wie angesichts der politischen Lage zu erwarten war, hagelte es zunächst heftige Kritik. Doch dann wurde just im Januar 1938 die bisherige "Staatliche Hauptverwaltung für Film- und Fotoindustrie" (Gosudarstvennoe upravlenie kinofotopromyšlennosti [GUKF]) durch die "Hauptverwaltung der Filmproduktion" (Glavnoe upravlenie po proizvodstvu) ersetzt. Damit verlor Boris Šumjatskij, einer der Hauptkritiker Ėjzenštejns, seinen führenden Posten in der Filmwirtschaft. Und Ėjzenštejn beeilte sich, die Gunst der Stunde zu nutzen und seinen neuen Film so rasch wie möglich herzustellen. Noch mitten im Sommer wurden unter Zuhilfenahme filmischer Tricks die Szenen auf dem Eis gedreht. [2; Tissé ließ zu diesem Zweck hinter dem Mosfil’m Studio einen Garten planieren, asphaltieren und mit Kreide und flüssigem Glas überziehen – und zeigte damit die sowjetische Technik der Natur überlegen. Nur die Sommerwolken über dem "Eis" verwirren etwas.]

1938 war Aleksandr Nevskij trotz starker Konkurrenz auf dem sowjetischen Filmmarkt unangefochten sowohl der ertragreichste als auch der populärste sowjetische Spielfilm. [3; D.h. er war sowohl nach der Höhe der Einspielergebnisse wie nach der Zahl der Filmkopien (800) am erfolgreichsten. Vgl. Turovskaya, M. in: Taylor/Spring, S. 50. Bereits am ersten Tag sollen, dank der 800(!) Kopien, mit denen der Film in Umlauf gebracht wurde, 45 000 Zuschauer Aleksandr Nevskij gesehen haben.] Weitere erfolgreiche Filme waren im selben Jahr Grigorij Aleksandrovs Komödie Volga-Volga, von Kozincev und Trauberg der dritte Teil der Maksim-Trilogie Vyborgskaja storona (Die Vyborger Seite) und Jutkevičs Čelovek s ruž’em (Der Mann mit der Flinte). Aleksandr Nevskij blieb Ėjzenštejns einziger Kassenschlager. Leonid Kozlov geht so weit zu sagen, dass dieser Erfolg Ėjzenštejn das Leben gerettet hat. [4; Kozlov, L. in: Taylor/Spring, S. 110]

Was machte diesen Film zum Kassenschlager? Ėjzenštejn setzte all seine filmischen Mittel ein, um eine starke, kollektive emotionale Identifikation des Zuschauers mit dem Geschehen auf der Leinwand zu erreichen. Nach dem Debakel mit seinem vorhergehenden Film Bežin lug (Die Wiese von Bežin, 1935-37), dessen Produktion abgebrochen wurde, wollte Stalin ursprünglich Ėjzenštejn nicht mit diesem neuen "patriotischen" Film betrauen. Schon für Bežin lug hatte der Regisseur versprochen, dem "Formalismus" und "Subjektivismus" abzuschwören und der neuen Arbeit die verordnete ideologische und künstlerische Richtung und eine sozialistisch-realistische Fundierung zu geben. Dann aber musste das damalige Projekt wegen "destruktiver Tendenzen" vorzeitig abgebrochen werden. [4; Vgl. Šumjatskij, B. "O fil’me Bežin lug", in: Pravda, 19.3.1937, S. 3.]

Anders – Aleksandr Nevskij. Wie Ėjzenštejn selbst in einem programmatischen Auslandsartikel schrieb, war sich das Filmteam während der gesamten Dreharbeiten bewusst, dass der Hauptgegenstand dieses Films der russische Patriotismus sei: "Mein Thema ist der Patriotismus […] und ich glaube, diese Devise, die unsere ganze Filmarbeit leitete, ist im fertigen Film spürbar" [5; Eisenstein, S. in: Taylor/Christie, S. 398-401, übers. B.F.] Solcher Patriotismus wuchs vor dem Hintergrund eines scharfen Kontrastes: Der eigenen nationalen Würde, dem eigenen nationalen Stolz, dem Unabhängigkeits- und Freiheitsstreben stellte man einen blutrünstigen Alptraum von Gewalt, Unterdrückung und Unfreiheit gegenüber und versah das Ganze mit einem eindeutigen moralischen Impetus.

Kontrastreich ist auch das Bild: Dem Weiß der Kreuzritter steht das Schwarz des verschlagenen Mönchs gegenüber, der weißen Erscheinung Aleksandrs und seiner Fischer und Bauern das Schwarz der Kriegsrüstungen. Der große Aleksandr überragt die kleinen Tataren um Haupteslänge. Die deutschen Ritter, eine anonyme Masse, bewegen sich wie seelenlose Automaten, während die lebensfrohen russischen Krieger namentlich und individualisiert lebendige Rollen spielen. Wo die Kontraste im einzelnen Bild oder in der Bildmontage oder aufeinandertreffen, bleiben sie nicht ohne emotionale Wirkung. In der Verbrennungsszene von Pskov sind es mit Kettenhandschuhen bewehrte Ritterhände, die die nackten Kleinkinder ins Feuer werfen.

Eine wichtige Rolle in der kontrastreichen Komposition dieses ersten Tonfilms von Ėjzenštejn spielt die Musik. Sergej Prokof’ev komponierte eigens für diesen Film und in Zusammenarbeit mit dem Regisseur eine Tonspur, die das Geschehen auch akustisch unterstreicht. Rhythmische Melodien in einfacher Harmonik und Volksgesänge begleiten die Volksszenen. Hier überwiegen die Dur-Tonarten, bevorzugt für Pfeifen. Sie verkünden den Heroismus des russischen Volkes. In Moll, mit Trompeten und Hörnern, sind die deutschen Ritter und deren unheildrohende Szenen gestimmt, eine meist dissonante Begleitung zu Kreischend und Quietschen deformiert.

1941 erhält Ėjzenštejn für Aleksandr Nevskij den Stalinpreis erster Klasse.

Brigitte Flickinger