Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR "Über die Verstärkung des Schutzes des Privateigentums der Bürger" und Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR "Über die strafrechtliche Verantwortung für den Raub staatlichen und gesellschaftlichen Eigentums", 4. Juni 1947

Einleitung

Nach außen kaschiert durch die Aufhebung der Todesstrafe am 26. Mai 1947, stand die Strafrechtspolitik der zweiten Hälfte der vierziger Jahre in der Sowjetunion im Zeichen repressiver Maßnahmen, die sich gegen die Masse der Bevölkerung richteten. Dies zeigte sich deutlich mit dem Erlass der Diebstahls-Dekrete vom 4. Juni 1947, die bereits am nächsten Tag in der Pravda veröffentlicht wurden. Danach konnte bereits einfacher Diebstahl mit Freiheitsentzug und Lagerhaft von fünf bis zehn Jahren bestraft werden. Die Höchststrafe für Diebstahl betrug 25 Jahre Haft im ‚Besserungs-Arbeitslager’. Insgesamt wurden Vergehen gegen staatliches und gesellschaftliches Eigentum deutlich höher bestraft als die Entwendung von Privateigentum. Doch auch für solche Delikte waren fortan Strafen von fünf bis 20 Jahren Lagerhaft vorgesehen. Ideologisch begründet wurde der verbesserte strafrechtliche Schutz privaten Eigentums und Vermögens mit dem Hinweis, dass dieses durch schwere Arbeit des Einzelnen im Sowjetstaat erwirtschaftet worden sei und daher besonderen staatlichen Schutz verdiene.

Tatsächlich sind beide Dekrete in den Kontext der Hungersnot von 1946/47 und ihrer Folgen sowie des gleichzeitig verfügten Ausschlusses weiter Bevölkerungskreise vom Zugang zu rationierten Lebensmitteln bzw. der erheblichen Verteuerung der Rationen einzuordnen – Maßnahmen, die vor allem die Landbevölkerung zwang, tagtäglich um ihr eigenes und das Überleben ihrer Angehörigen zu kämpfen. Bereits am 25. Oktober 1946, als sich die Folgen der Missernte abzeichneten, forderte das Dekret "Über die Vereidigung staatlichen Getreides" das kaum noch angewendete Gesetz vom 7. August 1932, das sog. ‚Ährengesetz’, das Getreidediebstahl mit drakonischen Strafen bis hin zur Todesstrafe belegte, wieder mit aller Strenge anzuwenden. Es traf vor allem Kolchozbauern, von denen bis Jahresende mehr als 50.000 wegen Getreide- oder Brotdiebstahl zu langjährigen Lagerstrafen verurteilt wurden. Trotz der dürrebedingten Ernteausfälle im Jahr 1946 senkte der Staat die Abgabenlast nicht und beschwor so eine Hungersnot herauf, die genau wie die Hungerkatastrophe der frühen dreißiger Jahre totgeschwiegen wurde. Viele Bauern, die inzwischen aller Vorräte beraubt und nicht an das Rationierungssystem angeschlossen waren, konnten sich und ihre Familie oft nur durch kleine Diebstähle von Kolchozeigentum (Getreide, Brot) retten. Infolgedessen stieg die Zahl solcher Eigentumsdelikte deutlich an. Vor diesem Hintergrund und unmittelbar vor Beginn der Ernte 1947 erließ das Präsidium des Obersten Sowjets dann am 4. Juni 1947 zwei Dekrete, die ihrem Gehalt nach (abgesehen von der im Mai 1947 abgeschafften Todesstrafe) das berüchtigte Ährengesetz von 1932 noch übertrafen. Dieses sollte laut Beschluss des Obersten Gerichtshofs der UdSSR vom 22. August 1947 ebenso wie die Gesetze gegen Diebstahl im Betrieb von August 1940, die eine Höchststrafe von einem Jahr Freiheitsentzug vorgesehen hatten, außer Kraft gesetzt wurden. Alle Diebstahlsangelegenheiten waren fortan ausschließlich nach den neuen Dekreten von 1947 zu ahnden. Für Diebstahl am Arbeitsplatz bedeutete das eine Erhöhung des Strafmaßes auf sieben bis zehn Jahre. Bis 1953 wurden nach bislang zugänglichen Angaben ca. 1.3 Mio. Menschen auf der Basis der Dekrete vom 4. Juni 1947 verurteilt, drei Viertel von diesen zu mehr als fünf Jahren Haft. Im Jahr 1951 betrug ihr Anteil an den nicht wegen politischer Delikte verurteilten GULag-Insassen 53 %. Auffallend an diesem Kontingent war die große Zahl von Frauen (darunter viele Kriegswitwen und Alleinerziehende mit Kindern) und Jugendlichen (Kriegswaisen), die nun der Zusammensetzung der Lagerbevölkerung in der Nachkriegszeit ihr besonderes Gepräge verliehen. Von ordentlichen Gerichten als ‚Kriminelle’ verfolgt und verurteilt, mussten sie für aus Not geborene Verhaltensweisen langjährige Haftstrafen in Arbeitslagern verbüßen. Der große Zustrom neuer, aber wenig produktiver Häftlinge führte zur Überfüllung der Lager und war mit verantwortlich für deren sinkende Produktivität, so dass einige Zehntausend Frauen und Kleinkinder dank verschiedener Teilamnestien die Lager seit 1949 wieder verlassen konnten. Die repressiven Diebstahls-Dekrete blieben jedoch in Kraft und sorgten für die weitere Kriminalisierung großer Bevölkerungsteile.

Eigentlich war geplant, das Strafrecht nach dem Krieg neu zu kodifizieren, doch Stalin lehnte alle Entwürfe ab, setzte aber einzelne strafverschärfende Maßnahmen durch. Besondere Bedeutung kam in diesem Zusammenhang den Dekreten vom 4. Juni 1947 zu, die in der Forschung Stalins persönlichem Eingreifen zugeschrieben werden. Angefangen hatte alles mit Vorschlägen von Seiten der Justiz, das Strafmaß für Eigentumsdelikte angesichts der nach Kriegsende deutlich angestiegenen Diebstahlsquote zu erhöhen. Allerdings verwarf Stalin im Mai 1947 entsprechende Vorschläge und verfasste stattdessen eigenhändig zwei Dekrete für die Ahndung von Diebstahl staatlichen und privaten Eigentums. Wie in der Forschungsliteratur vermerkt, soll Stalin unmittelbar vor Inkraftsetzung dieser Bestimmungen das darin vorgesehene nicht geringe Strafmaß noch einmal auf mindestens fünf Jahre Lagerhaft erhöht und zugleich den richterlichen Spielraum für die unterschiedliche Bestrafung schwerer und unbedeutender Diebstahlsdelikte drastisch eingeschränkt haben.

Zwar versuchten einige Richter und Staatsanwälte, die neuen Bestimmungen zu ignorieren oder ihre repressive Härte zu mildern und kleine Leute, vor allem Mütter mit Kindern und Jugendliche, die mittels Mundraub um ihr Überleben kämpften, zu schonen, indem sie den vorgesehenen Strafrahmen nicht ausschöpften oder schwere Fälle als leichtere einstuften, um drakonische Strafen zu verhindern. Doch dies gelang vor allem in der ersten Zeit, als auf Weisung der politischen Führung verlangt wurde, das neue Strafrecht mit aller Härte anzuwenden, kaum. Einige für ihre Nachsicht bekannte Juristen wurden entlassen, andere versuchten ihre politische Loyalität durch besonders hartes Durchgreifen unter Beweis zu stellen. Die daraus resultierende Inkonsistenz, ja Willkür bei der Ahndung von Eigentumsdelikten unterhöhlte das ohnehin geringe Vertrauen der Bevölkerung in die sowjetische Rechtsordnung noch weiter und förderte die Erkenntnis, dass es in einem System der Rechtlosigkeit keine Legalitätsgarantien geben konnte. Nach einem Höhepunkt der Anti-Diebstahlskampagne im Jahr 1947 ging die Zahl der Verfolgungen jedoch schon 1948 auf ein Niveau zurück, das unter dem des Jahres 1946 lag. Dies war zum einen die Folge der nun spürbaren Zurückhaltung der Justizorgane und der mangelnden Kooperation lokaler Netzwerke beim Einleiten von Strafverfahren gegen kleine Diebe, zum anderen ließ die Entspannung im Bereich der Lebensmittelversorgung die Zahl der Mundraubdelikte sinken. Auf Druck der Komsomolführung und mit Unterstützung des Justizministers der UdSSR wurden im Februar 1948 außerdem Durchführungsbestimmungen erlassen, die die Anwendung der Anti-Diebstahls-Dekrete vom 4. Juni 1947 auf Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren untersagten. Im März 1948 wurde auch der Begriff des "Bandendiebstahls" präzisiert und eingeschränkt.

Gleichwohl war die Zahl der auf Basis der Anti-Diebstahls-Dekrete vom 4. Juni 1947 Verfolgten und Verurteilten erschreckend hoch. Mehr als 1,5 Mio. Menschen wurden allein in den ersten zweieinhalb Jahren nach Erlass der verschärften Strafrechtsbestimmungen wegen Diebstahls staatlichen oder privaten Eigentums verfolgt. Am 31. Dezember 1950 befanden sich 637.055 Häftlinge, die wegen Diebstahls staatlichen Eigentums und weitere 394.421, die wegen Aneignung fremden Privateigentums verurteilt worden waren – also mehr als eine Million Menschen – in den sowjetischen ‚Besserungs-Arbeitslagern’. Sowohl der Generalstaatsanwalt und viele Mitarbeiter des Justizapparats der UdSSR als auch die sowjetische Bevölkerung empfanden die massenhaft verhängten unangemessen hohen Strafen für geringe, meist aus Not geborene, Delikte als ungerecht. Vertreter der Justizorgane legten Beschwerde ein, Tausende von Eingaben aus der Bevölkerung richteten sich an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets und andere hohe Funktionäre, doch an der Härte der Strafgesetze für Eigentumsdelikte änderte sich zu Lebzeiten Stalins nichts. Erst im Jahr 1955, zwei Jahre nach seinem Tod, kam es zu Erleichterungen und einer erheblichen Senkung des Strafmaßes. Doch 1961 wurde sogar die Todesstrafe für besonders schlimme Diebstahlsvergehen wieder eingeführt.

Beate Fieseler