Deklaration der Regierung der RSFSR an das chinesische Volk und an die Regierungen Süd- und Nordchinas, 25. Juli 1919

Einführung

Selbstbestimmung der Völker, eine Absage an ein altes Vertragssystem mit ausländischen Privilegien für Aufenthalt, Handel und Missionäre, Rückgabe der russischen Konzessionen auf chinesischem Territorium - diese Versprechungen der Deklaration zielten auf die chinesische Öffentlichkeit, die sich seit der Entscheidung der führenden Westmächte auf der GlossarFriedenskonferenz von Versailles im Jahre 1919, die japanische Präsenz in der Provinz Shandong zu verlängern, gekränkt und betrogen fühlte. Als Folge der GlossarVersailler Beschlüsse entflammte in China die sogenannte Glossar"Protestbewegung des 4. Mai" gegen Japan und die imperialistischen Mächte, die bei den GlossarBolschewiki die Hoffnung auf eine baldige "Weltrevolution" schürte. Die Bolschewiki waren zu diesem Zeitpunkt bereits über die Entstehung eines eigenen Stützpunktes revolutionärer Kräfte in Südchina um GlossarSun Yat-sen informiert, weshalb die Deklaration gleichzeitig an die Regierungen Süd- und Nordchinas gerichtet wurde.

Die Deklaration hat allerdings nicht nur die erwartete Wirkung verfehlt, sondern ist auch für längere Zeit zu einer Belastung für die sowjetisch-chinesischen Beziehungen geworden. Den Anlaß dazu gab ein Absatz, der den Vorschlag der sowjetischen Regierung über die kostenfreie Übergabe der GlossarOstchinesischen Eisenbahn an China enthielt. Er ist in mehreren der insgesamt 12 Varianten dieser Deklaration (8 davon in russischer Sprache) vorhanden.

Der Vorschlag über die kostenfreie Übergabe fehlte jedoch in der Variante der Deklaration, die in der Zeitung Glossar"Izvestija" vom 26. August 1919 erschien und von der sowjetischen Diplomatie als die einzige offizielle Fassung dieses Dokuments bezeichnet wurde.

Die Frage der Übergabe bzw. der gemeinsamen Verwaltung der Ostchinesischen Eisenbahn blieb bis zum Einmarsch Japans in Nordchina im Jahre 1931 eine zentrale Frage der sowjetisch-chinesischen Beziehungen. So ist auch der GlossarMilitärkonflikt im sowjetischen Fernen Osten 1929, der die Aufmerksamkeit Moskaus auf seine fernöstliche Flanke lenkte und von der sogenannten Glossar"Besonderen Fernöstlichen Armee" unter Führung von GlossarVasilij Bljucher ausgefochten wurde, auf die Besitzfrage der Ostchinesischen Eisenbahn zurückzuführen. Sowohl die Weigerung der sowjetischen Regierung, über die kostenfreie Übergabe ernsthaft zu diskutieren, als auch ihr heftiger Widerstand gegen die Unterstellung, einen Vorschlag hinsichtlich der kostenfreien Rückgabe an China je gemacht zu haben, wurden von der chinesischen Seite und von der Weltgemeinschaft mit der Demagogie- und Propagandabeladenheit der sowjetischen Außenpolitik in Verbindung gebracht.

Erst mit der Erweiterung des Zugangs zu russischen Archiven in den 1990er Jahren wurde möglich, die Quellengrundlage für die "Erste Deklaration Karachans" zu sichern und die Geheimnisse um ihre Entstehung und politische Folgewirkung zumindest teilweise zu lüften.

Die Position der sowjetischen Regierung zur Ostchinesischen Eisenbahn wurde zum ersten mal in einem Gespräch formuliert, das die Vertreter des GlossarVolkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten (NKID) GlossarA. Voznesenskij und GlossarE. Polivanov mit dem Sekretär der chinesischen Botschaft in Petrograd GlossarLiu Shizhong im Februar 1918 führten. Die chinesische Seite wurde über das Einverständnis der sowjetischen Regierung informiert, Peking die Möglichkeit zu geben, die Ostchinesische Eisenbahn früher, als es der GlossarVertrag von 1896 vorsah, zurückzukaufen. Für den Fall, daß finanzielle Schwierigkeiten Chinas der Umsetzung dieser Entscheidung im Wege ständen, wurde als Option eine gemeinsame russisch-chinesische Verwaltung in Erwägung gezogen.

Am 4. Juli 1918 bekräftigte der Volkskommissar GlossarGeorgij Čičerin in seiner Rede auf dem 5. Allrussischen GlossarSowjetkongreß, daß Sowjetrußland bereit sei, von den Eroberungen der zaristischen Regierung in China Abstand zu nehmen und dem chinesischen Volk seine Rechte auf die Ostchinesische Eisenbahn früher als vertraglich vorgesehen, zurückzugeben. Nach Čičerin könnte die Rückgabe dann stattfinden, wenn China "einen Teil der für den Bau vom russischen Volk aufgewendeten Mittel zurückerstatte"1.

Die von Studenten ins Leben gerufene "4. Mai Bewegung" in China weckte bei den Bolschewiki in Moskau die Hoffnung auf einen "revolutionären Bund" mit China, der es erlauben würde, "die moderne kapitalistische Gesellschaft im Fernen Osten nach sozialistischen Prinzipien umzugestalten"2. Um dieses hochgesteckte Ziel zu erreichen, waren die Bolschewiki mehr denn je bereit, China bei der Ostchinesischen Eisenbahn Zugeständnisse zu machen. So entstand die genannte "erweiterte" Variante der Deklaration, die den Vorschlag zur kostenfreien Rückgabe enthielt. Sie wurde auch GlossarV.I. Lenin als dem Vorsitzenden des GlossarRates der Volkskommissare (SNK) vorgelegt, was neue Archivauswertungen ausdrücklich belegen. In der anschließend erfolgenden offiziellen Veröffentlichung des Textes in der Zeitung "Izvestija" wurde der Absatz mit dem Vorschlag über die kostenfreie Rückgabe jedoch wieder gestrichen.

Diese offizielle Publikation bekam im September 1919 der japanische Militärattache GlossarTanaka in London zu Gesicht, der als erster die chinesische Regierung über den Inhalt der Deklaration (angereichert durch eigene Kommentare) informierte. Wegen der Brisanz der Nachricht hielt Peking zuerst alles für eine Desinformation. Erst Anfang 1920 hatten die Bolschewiki eine Möglichkeit gefunden, die chinesische Regierung auf direktem Wege über die "Erste Deklaration Karachans" zu unterrichten.

Nachdem den Bolschewiki Anfang 1920 in Omsk, Irkutsk und Vladivostok die Beteiligung an der Macht gelungen war, beauftragte die sowjetische Regierung gleichzeitig drei ihre Bevollmächtigten - GlossarV.D. Vilenskij-Sibirjakov, GlossarJ.D. Janson (Bevollmächtigter für Sibirien und den Fernen Osten) und GlossarI. Kušnarev (Vorsitzender des Fernöstlichen Gebietskomitees der VKP (b)) - mit der Aufgabe, die chinesische Seite über den Inhalt der "Ersten Deklaration Karachans" zu informieren. Die Varianten der Deklaration, die die Bevollmächtigten bei sich hatten, waren inhaltlich identisch und enthielten den Absatz über die Übergabe der Ostchinesischen Einsenbahn. In Anbetracht der politischen und gesellschaftlichen Situation in Rußland zu Beginn der 1920er Jahre ist diese dreimalige Vergabe desselben politischen Auftrags nicht überraschend. Die ersten Schritte der sowjetischen Diplomatie im Fernen Osten sorgten stets für viel Verwirrung. Da es in der Praxis keine eindeutige Hierarchie in der außenpolitischen Exekutive gab, die Kommunikationsnetze in einem von dem GlossarBürgerkrieg und wirtschaftlichen Chaos zermürbten Land nur mit Mühe und Not funktionierten, und die Macht der Bolschewiki bzw. ihrer Sympathisanten nur auf einem eng begrenzten Gebiet zu spüren war, sorgte Moskau immer wieder für eine Redundanz im Mechanismus seiner Politik in Ostasien.

Letzen Endes hatte die chinesische Regierung in Peking die "erweiterte" Fassung der "Ersten Deklaration Karachans" aus vier verschiedenen Quellen erhalten. Am 2. März 1920 übergab Janson den Text der Deklaration dem chinesischen Konsul in Irkutsk GlossarWei Bo. Weil sich die Reise von Wei Bo nach China vertagte, übersetzte Janson den Text ins Französisch und schickte ihn an 26. März per Telegraph an das Außenministerium Chinas in Peking. Noch am selben Tag erhielt das Außenministerium den Text und übersetzte ihn ins Chinesische.

Kušnarev, der sich auf der Reise von Moskau nach Vladivostok befand, übergab während eines Zwischenaufenthaltes in Charbin ein Exemplar der Deklaration an den chinesischen General GlossarZhang Silin. Ende März, als das Telegramm von Janson in Peking schon bekannt war, erreichte Vilenskij-Sibirjakov Vladivostok, wo er sich mit dem Vertreter Chinas GlossarLi Jiao traf. Als Li Jiao ihn über das von dem Vertreter der sowjetischen Regierung an General Zhang Silin übergebene Dokument informierte, erwiderte Vilenskij-Sibirjakov heftig, daß außer ihm keine weiteren offiziellen Bevollmächtigten der bolschewistischen Regierung in Vladivostok anwesend seien. Danach überreichte Vilenskij-Sibirjakov den Text der Deklaration an den chinesischen Konsul GlossarShao Hengjün und veröffentlichte ihn in einer örtlichen Zeitung. Die vier "chinesischen" Varianten des Dokuments werden heute im Archiv des Außenministeriums der Chinesischen Republik in Taipeh (Taiwan) aufbewahrt.

Um die Folgen der diplomatischen Panne mit der "ersten Deklaration Karachans" zu mildern, übergab die sowjetische Regierung am 27. September 1920 dem chinesischen General Zhang Silin, der mit einer diplomatischen Mission in Moskau weilte, eine neue Note des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten, in der Sowjetrußland die Aussagen der offiziellen Version vom 25. Juli 1919 bekräftigte. Diese diplomatische Note bezeichnete man in der Diplomatiegeschichte als "zweite Deklaration Karachans".3

Während der späteren Verhandlungen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit China 1922-1924 haben die sowjetischen Emissäre GlossarAdol'f Joffe und GlossarLev Karachan die Existenz einer von der Veröffentlichung in der "Izvestija" abweichenden Textvariante der Deklaration offiziell bestritten.

Die internen Nachforschungen des sowjetischen Narkomindel Ende 1922 - bis Anfang 1923 hatten ergeben, daß sowohl im Archiv des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten als auch in dem nach Moskau gebrachten Archiv der GlossarFernöstlichen Republik kein authentisches Exemplar der Deklaration neben der Druckversion in der "Izvestija" auffindbar war. Auf eine Anfrage des Narkomindel teilte Janson vorsichtshalber mit, daß er sich nicht mehr erinnere, welche Variante der Deklaration er der chinesischen Seite übergeben hatte. Außerdem gaben sowjetische Diplomaten intern zu, daß die Unterschrift Karachans nur unter dem Text der Variante existent war, die von Vilenskij-Sibirjakov 1919 in der Broschüre "China und Sowjetrußland" veröffentlicht und von der chinesischen Seite ständig zitiert wurde. Deshalb drehten sich die Debatten in der Geschichtswissenschaft bis Ende der 90er Jahre hauptsächlich um die Frage, ob die "chinesische" Variante authentisch war.

Ende der 90er Jahre ist es dem russischen Sinologen M. Krjukov gelungen, die "erweiterte" Version der Deklaration in russischer Sprache zusammen mit anderen Schreiben von Vilenskij-Sibirjakov in den Aktenbeständen Lenins im Moskauer Archiv RGASPI zu finden. Dieser Fund bestätigt, daß den "chinesischen" Varianten tatsächlich ein Originaldokument in russischer Sprache zu Grunde lag. Die vorliegende Publikation des Dokuments stützt sich auf die offizielle Fassung des Narkomindel, die am 25. Juli 1919 in der Zeitung "Izvestija" veröffentlicht wurde. Sie wurde durch den Absatz über die Übergabe der Ostchinesischen Eisenbahn an China ergänzt, den die bisher unbekannte "erweiterte" Version enthält. Im Text der Publikation ist er Kursiv gesetzt.

Für die chinesische Diplomatie stand immer außer Zweifel, daß das Außenministerium in Peking nicht nur einen sowjetischen Vorschlag der kostenfreien Rückgabe der Ostchinesischen Eisenbahn tatsächlich erhalten hatte, sondern auch rechtzeitig eine positive Antwort nach Moskau gesandt hatte. Deshalb stand die Umsetzung dieses Angebotes Moskaus sowie die chinesische Forderung eines sowjetischen Truppenabzuges aus der GlossarÄußeren Mongolei bei den Gesprächen zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und der UdSSR 1922-1924 stets auf der Tagesordnung. Dabei betonten die sowjetischen Unterhändler Adol'f Joffe und Lev Karachan immer wieder, daß Sowjetrußland nie eine kostenfreie Rückgabe in Erwägung gezogen hatte. Die neuen Dokumente aus den russischen Archiven zeigen jedoch, daß darüber in internen Diskussionen der Kremlstrategen wiederholt und heftig diskutiert wurde. So war Ende 1922 eine Diskussion zwischen Adolf Joffe, dem sowjetischen Bevollmächtigten in Peking, und dem Politbüro in Moskau entbrannt. Joffe wandte sich gegen den Beschluß des Politbüros vom 16. November 1922, wonach die sowjetischen Zugeständnisse in der Frage der Ostchinesischen Eisenbahn lediglich die Beteiligung Chinas an der Verwaltung, die vorzeitigen Rückkaufsrechte und die Verengung der Streifen entlang der Eisenbahnlinie, in denen Rußland gemäß dem Vertrag von 1896 besondere Vorrechte genoß, beinhalteten. Joffe wies darauf hin, daß eine kostenfreie Rückgabe der Ostchinesischen Eisenbahn eine immense propagandistische Wirkung auf die Gestaltung der sowjetisch-chinesischen Beziehungen ausüben würde. Er fand für diese "verschwenderische" Idee jedoch keine hochrangigen Verbündeten in Moskau. Im Gegenteil, für diese Position mußte er heftige Kritik von seinem engen Freund, dem Politbüromitglied und Vorsitzenden des Revolutionären Militärrates, GlossarLev Trockij, einstecken. Einige Jahre später entwickelte sich die sowjetische China-Politik, und dabei auch die Eigentumsfrage der Ostchinesischen Eisenbahn, zum Zankapfel im innerparteilichen Kampf zwischen Stalin und der so genannten Glossar"linken Opposition" um Trockij. Im Gegensatz zum sowjetisch-chinesischen Vertrag vom 31.Mai 1924, der die Ostchinesische Eisenbahn bis zu einer endgültigen Entscheidung provisorisch unter eine gemeinsame Verwaltung stellte, forderte die "linke Opposition" 1926 in einem Brief an das Juli-Plenum des CK VKP (b), die Eisenbahn an China zurückzugeben. 1935 wurde die Ostchinesischen Eisenbahn von der Sowjetunion an Japan verkauft, das die Interessen des Marionettenstaates GlossarMandschukuo international vertrat.

Marina Fuchs

1 Čičerin, G., Stat'i, reči po voprosam meždunarodnoj politiki, Moskau, 1961, S. 59. [1]

2 Vilenskij, V., Kitaj i Sovetskaja Rossija, Moskau 1919, S. 15-16. [2]

3 Dokumenty vnešnej politiki SSSR, Bd. 3, Moskau 1959, S. 214. [3]