Gesellschaftlicher Auftrag an die XIX. Parteikonferenz der KPSS, 5. und 12. Juni 1988

Zusammenfassung

Der "Gesellschaftliche Auftrag", den unabhängige Organisationen Moskaus zusammenstellten und als Forderungskatalog an die XIX. Parteikonferenz richteten, wurde zum ersten Dokument der politisch weit ausdifferenzierten Oppositionsgruppen in den Zeiten der Perestrojka, die sich seit 1988 verstärkt in der sowjetischen Öffentlichkeit – auf Massenkundgebungen und Meetings – zu Wort meldeten und bald zum Faktor der "großen Politik" wurden. In ihrem Papier forderten sie nicht nur politische Amnestie und Bürgerrechte, sondern auch Maßnahmen zur Transformation der KPSS in eine Parlamentspartei, die Aufhebung des Artikel 6 der Sowjetischen Verfassung, der die Führungsrolle der KPSS in der UdSSR festlegte, die Aufteilung des KGB in mehrere Behörden, aber auch – den Sozialisten unter seinen Verfassern folgend – Kollektiveigentum an Produktionsmitteln und die Selbstverwaltung der Wirtschaftsstrukturen. Als ideologische Plattform der breit gefächerten informellen Bewegung versuchte der "Gesellschaftliche Auftrag" ihre Zielsetzungen unter die sowjetische Bevölkerung zu bringen, die Aktivitäten ihrer einzelnen Gruppen im Rahmen einer "Volksfront" zu bündeln, und nicht zuletzt – als drittes – im Sinne der gemeinsamen Zielsetzungen politischen Druck auf die XIX. Parteikonferenz auszuüben. Zwar ging diese Rechnung der Autoren des "Auftrags" nicht auf. Doch für diejenigen, die an seiner Ausarbeitung mitwirkten, handelte es sich dabei um eine der ersten politischen Erfahrung in Demokratie, von der sie später bei der Bildung des Wahlblocks "Demokratisches Rußland" und der Aufstellung weiterer Programme der demokratischen Bewegung der 1990er Jahre Gebrauch machten.