Das Grundgesetz (Verfassung) der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, 31. Januar 1924

Einführung

Die erste Verfassung der UdSSR bestand aus zwei Teilen: aus der GlossarDeklaration über die Gründung der UdSSR und aus dem GlossarGründungsvertrag der UdSSR (in revidierter und erweiterter Fassung). Beide Dokumente waren zu diesem Zeitpunkt bereits in Kraft getreten.

Die Notwendigkeit, diesen Vertrag zu unterzeichnen, ergab sich daraus, daß in den Jahren 1917-1921 auf einem Teil des ehemaligen Russischen Reiches ein recht eigenartiges zwischenstaatliches Bündnis bestand, welches einen konföderativen Charakter trug. In der Ukraine, Weißrußland, Armenien, Aserbaidschan und Georgien – Sowjetrepubliken, deren Staatsaufbau mit dem der RSFSR vergleichbar war – galten eigene Verfassungen und bestanden eigene Machtorgane und kommunistische Parteien, die die Politik in diesen Regionen bestimmten. Diese Republiken hatten jedoch eine gemeinsame Armee und ein gemeinsames Budget. Gleichzeitig nahmen die obersten Organe der RSFSR die Funktionen der gesamtföderativen Organe für alle Sowjetrepubliken wahr.

Im August 1922 wurde auf Initiative des GlossarPolitbüros des CK der RKPV(b) eine Kommission gegründet, die damit beauftragt wurde, den Entwurf für einen Vertrag zwischen den Sowjetrepubliken vorzubereiten. Die Resolution über den Beitritt der Sowjetrepubliken zur RSFSR, die von GlossarStalin vorbereitet und von der Kommission verabschiedet worden war, stellte GlossarLenin nicht zufrieden. Stattdessen schlug er vor, einen multinationalen Bundesstaat auf der Grundlage des Gleichberechtigungsprinzips seiner einzelnen Bestandteile zu gründen. Das Plenum des GlossarCK der RKP(b) unterstützte diese Idee. Im Dezember 1922 diskutierten die Sowjetkongresse der Ukraine, Weißrußlands und der RSFSR die Frage, ob der Abschluß eines Unionsvertrages zweckmäßig sei, und erklärten ihre Zustimmung. Am 30. Dezember 1922 unterzeichneten die Vertreter der RSFSR, der Ukraine, Weißrußlands und der GlossarTranskaukasischen Föderation, die sich zum GlossarI. Sowjetkongreß der UdSSR versammelt hatten, den Unionsvertrag und verabschiedeten die Deklaration über die Gründung der UdSSR. Ihre letztgültige Bestätigung fanden die beiden Staatsakte auf dem II. Sowjetkongreß der UdSSR im Juli 1923.

Teil II der Verfassung, der den Gründungsvertrag der UdSSR aufnahm, war folgendermaßen strukturell gegliedert:

Kapitel 1: Über die Obliegenheiten der obersten Machtorgane der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

Kapitel 2: Über die souveränen Rechte der Unionsrepubliken und über die Unionsstaatsbürgerschaft.

Kapitel 3: Über den Sowjetkongreß der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

Kapitel 4: Über das GlossarZentrale Exekutivkomitee der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

Kapitel 5: Über das GlossarPräsidium des Zentralen Exekutivkomitees der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

Kapitel 6: Über den GlossarRat der Volkskommissare der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

Kapitel 7: Über den GlossarObersten Gerichtshof der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

Kapitel 8: Über die GlossarVolkskommissariate der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

Kapitel 9: Über die GlossarVereinigte Staatliche Politische Verwaltung (OGPU).

Kapitel 10: Über die GlossarUnionsrepubliken.

Kapitel 11: Über das Wappen, die Flagge und die Hauptstadt der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

Die Föderation, die im Dezember 1922 gegründet und durch die Verfassung von 1923 bestätigt wurde, besaß einen vertraglich geregelten Charakter: Ihr traten Staaten bei, die aus dem Zerfall des Russischen Imperiums in den Jahren 1917-1918 hervorgegangen waren und zu diesem Zeitpunkt über eine rechtliche Souveränität verfügten. Die Förderation war nach dem nationalen Prinzip aufgebaut. Der Unionsvertrag schrieb eine "symmetrische" Struktur der Föderation fest: Jedes Föderationsmitglied verfügte – zumindest de jure – über die gleichen Rechte. Im Grunde genommen wurde eine Föderation neuen Typus geschaffen – ein Unionsstaat, für den es keine historischen Vorbilder gab: Jede Republik erhielt das Austrittsrecht aus der Union. Und obwohl die Verfassungswirklichkeit eher dafür sprach, daß mit der UdSSR ein zentralistischer Staat errichtet wurde, wurde das Recht auf den freiwiligen Austritt aus der UdSSR, das auch in der darauffolgenden Verfassungen von 1936 und 1977 verankert war, erst 1991 von einzelnen Unionsrepubliken wahrgenommen und in die Praxis umgesetzt.

Das föderative Prinzip des territorial-staatlichen Aufbaus der UdSSR fand ferner im Zweikammernaufbau der zentralen Macht seinen Niederschlag. In der Zeit nach dem I. Sowjetkongreß wurden am Text des Unionsvertrages Änderungen vorgenommen, die die Einrichtung eines besonderen Repräsentationsorgans für die Nationalitäten betrafen. In der Endredaktion bestand das CIK aus einem GlossarUnionssowjet und einem GlossarNationalitätensowjet. Der Letztgenannte setzte sich aus Vertretern der Unionsrepubliken, der GlossarAutonomen Republiken (je 5 Vertreter pro Autonome Republik) und der GlossarAutonomen Gebiete der RSFSR (je 1 Vertreter pro autonomes Gebiet) zusammen.

Da die sowjetische Staatsrechtsdoktrin das Prinzip der Gewalteinteilung verwarf und als ein "bourgeoises Überbleibsel" brandmarkte, kamen in der Verfassung zwei Exekutivorgane vor, wobei das eine von ihnen zugleich auch ein Legislativorgan war. Das Präsidium des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR wurde zum "obersten gesetzgebenden, exekutiven und administrativen Organ der UdSSR" für die Zeit zwischen den Sitzungsperioden des CIK der UdSSR erklärt, der Rat der Volkskommissare zum "exekutiven und administrativen Organ". Obwohl der Oberste Gerichtshof ein selbstständiges Staatsorgan bildete, wurde er ebenfalls "beim CIK" eingerichtet. Dabei konnte von "einer unabhängigen judikativen Gewalt nicht gesprochen werden", denn laut Artikel 46 der Verfassung konnte gegen die Entscheidungen des Gerichts beim Zentralen Exekutivkomitee der UdSSR "Protest" eingelegt werden.[1]

Die Wahlen zu den zentralen Machtorganen trugen Klassencharakter; sie waren weder gleich (den Einwohnern der Städte wurden Vorteile eingeräumt) noch direkt (die Deputierten wurden auf den Kongressen der Unionsrepubliken gewählt) und die Abstimmung war öffentlich.

Zur Bekämpfung von "politischer und wirtschaftlicher Konterrevolution, der Spionage und des Banditentums" verfügte die Verfassung die Gründung eines speziellen Organs – der Vereinigten Staatlichen Politischen Verwaltung (OGPU).

Die Verfassung ging hauptsächlich auf den Staatsaufbau der UdSSR und die Struktur der obersten Organe der Staatsmacht ein. Sie enthielt keinen Artikel, in dem Menschen- und Bürgerrechte definiert worden wären.

In der Verfassung von 1923 fanden viele wichtige Verfassungsfragen keine Berücksichtigung. Sie wurden im Folgenden durch Akte der Unionsgesetzgebung und die Verfassungen der Unionsrepubliken geregelt, die während der 1920er Jahre verabschiedet wurden.

Natal'ja Kukuškina

(Übersetzung aus dem Russ. von L. Antipow)

[1] Mögelin, C., Die sozialistische Staats- und Rechtsordnung vor dem Hintergrund des Westeuropäisch-atlantischen Rechtsstaatsbegriffs am Beispiel Russlands (=F.I.T. Discussion Paper, 4/99), S. 16. [[1]]