Beschluß des Rates der Volkskommissare der UdSSR Nr. 1798-800s zur Bestätigung des Erlasses über die Kriegsgefangenen, 1. Juli 1941

Einführung

Wie – bis zuletzt geheim gehaltene – sowjetische Statistiken zeigen, nahmen die Truppen der GlossarRoten bzw. Sowjetarmee während des Zweiten Weltkrieges rund 2,4 Millionen Deutsche, 513000 Ungarn, 187000 Rumänen und 640000 Soldaten des kaiserlichen Japans gefangen.

Die über vier Millionen Kriegsgefangenen aus weit über einem Dutzend Ländern spielten in der sowjetischen Wirtschaft der Kriegs- und Nachkriegsjahre eine wichtige Rolle: Internen Berechnungen zufolge schuf die Kriegsgefangenenarbeit bis 1949 Werte in Höhe von 50 Milliarden Rubel, die zwischen 4 und 7,5% des Volkseinkommens der Jahre 1945 bis 1949 ausmachten. In der Nachkriegszeit stellten Kriegsgefangene in einzelnen Fabriken bis zu 90% der Arbeiter. Dabei waren sie vorrangig in den wichtigsten Wirtschaftszweigen beschäftigt und regional vor allem der Ukraine sowie Rußland – hier insbesondere dem Ural und Sibirien – zugeteilt. Zwischen 1946 und 1949 machten die Kriegsgefangenen 27,9% der Belegschaft in der Schwerindustrie aus; besonders hoch war ihr Anteil in der Kohleindustrie. Indes blieb die Kriegsgefangenenarbeit bis zuletzt defizitär, die Zahlungen der Wirtschaftsunternehmen konnten die Kosten, die dem GlossarVolkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKVD) durch die Verwahrung der Kriegsgefangenen entstanden, zu keiner Zeit decken. Der massenhafte Einsatz von diesen unfreiwilligen Arbeitern bot jedoch der UdSSR, die durch den Krieg wirtschaftlich ausgeblutet war, die Chance, ihre Betriebe und Kolchosen mit den dringend benötigten, zum Teil gut ausgebildeten Arbeitskräften zu versorgen.

Hinzu kommt, daß über 73000 Kriegsgefangene – darunter 48000 Deutsche, 21100 Japaner, 4500 Ungarn, Rumänen, Österreicher und Italiener – in den sogenannten GlossarAntifaschistischen Schulen "umerzogen" und ausgebildet wurden. Wie der Unterricht in den Lagern selbst, so dienten diese Schulungen vor allem dem Zweck, ihren Teilnehmern die vermeintlichen Vorzüge des sowjetischen Staats- und Gesellschaftssystems vor Augen zu führen. In Vorträgen und Diskussionszirkeln, Seminaren, Lesungen sowie bei Film- und Theateraufführungen zeichneten sowjetische Lektoren sowie ihre Kollegen, die unter den Kriegsgefangenen angeworben wurden, ein Bild der Sowjetunion, das der erlebten Wirklichkeit vor Ort kaum entsprach. Gleichzeitig fand eine breit angelegte Agitation für die "Wiedergutmachungsarbeit" und den "Wiederaufbau Deutschlands" statt. Ein Teil der "Schüler" kämpfte später in Freiwilligenverbänden an der Seite der Roten Armee, andere wurden für die sowjetische Propagandaanstalten an der Front tätig. Im Zuge des Kalten Krieges wandelten sich die Schulungsinhalte kaum. Nur ihre Stoßrichtung wurde insofern geändert, daß man von nun an statt "Antifaschisten" bekennende "Antiimperialisten" erzog.

Die Versorgung der kommunistischen Parteien und Regierungen der "Bruderländer" mit "politisch bewußten" Kadern für den sozialistischen Aufbau und die neue Staatsverwaltung wurde allerdings nur unzureichend betrieben: Gerade unter den Heimkehrern nach Westeuropa oder Japan sind wirkliche Schulungserfolge kaum nachweisbar. Nach ihrer Repatriierung in die Heimat gelang es nur einzelnen Antifaschisten aus sowjetischen Schulungsanstalten, eine eindrucksvolle politische Karriere aufzubauen. Die politische und soziale Integration aller Heimkehrer aus der Sowjetunion vollzog sich an den Fronten der Nachkriegszeit. Dabei handelte es sich nicht nur um die Gräben, die der Kalte Krieg aufgerissen hatte. Wie das Beispiel Dänemark zeigt, demonstrierten die Länder, die sich kurz zuvor unter einer deutschen Besatzungsmacht befanden, einen Umgang mit der einheimischen Kollaboration, der sich unmittelbar und negativ auf den Empfang heimkehrender kriegsgefangener Freiwilliger auswirkte.

In der Nachkriegszeit wurden die Kriegsgefangenen zu einer schweren Belastung für die Außenpolitik der UdSSR, obwohl sie zumindest bis 1948 auf einen gegenüber den Alliierten konformen Kurs setzte. Die Repatriierungen verliefen zögerlich, womit die Sowjetunion zwar nicht gegen den Buchstaben des Völkerrechts, jedoch gegen seinen Geist verstieß. Sogar die Rückkehr von Kriegsgefangenen in die neu gegründeten Länder der Volksdemokratie zog sich bis 1948 hin. Heimatländer und Angehörige der Betroffenen – bei ihren Recherchen auf Suchdienste oder Angaben von Heimkehrern angewiesen – blieben oftmals ohne genaue Informationen über Zahl und Schicksal der Gefangenen, was die sowjetischen Verhältnisse zum westlichen Ausland zusätzlich beeinträchtigte. Erst Ende 1949 wurde ein Großteil der deutschen und japanischen Gefangenen entlassen. Nichtsdestotrotz behielt die UdSSR noch bis in die 1950er Jahre hinein mehrere Tausend Gefangene in ihrem Gewahrsam. Es handelte sich vor allem um Deutsche und Japaner, aber auch einige Hundert Österreicher, Rumänen, Ungarn und Dänen, die für sog. "Kriegsverbrechen" verurteilt wurden. Der offizielle sowjetische Terminus verdeckte die tatsächlichen Gründe, die bei der Entscheidung der Gerichte ins Gewicht fielen. Abgesehen von nachgewiesen Kriegsverbrechen wurden die Ermittlungen von NKVD bzw. MVD/MGB und die daraufhin folgende Verurteilung eines Kriegsgefangenen oft aufgrund eines Kriminalvergehens innerhalb der Lager oder eines übersteigerten Spionageverdachts für militärische, darunter westliche, Aufklärungsdienste veranlaßt; letzteres spiegelte v.a. die Furcht der sowjetischen Seite vor der Aufstellung neuer Militärverbände unter westalliierter Ägide. GlossarSchauprozesse, die in den Jahren 1943, 1945 bis 1947 und 1949 vor allem gegen deutsche und japanische Kriegsgefangene geführt wurden, stützten die sowjetische Interpretation der "Kriegsverbrechen". Wie die zahlreichen nichtöffentlichen Gerichtsverfahren hielten diese "öffentlichen Spektakel" keiner juristischen Prüfung stand und stellten den Anspruch der UdSSR, ein Rechtsstaat zu sein, in Frage. Insgesamt verurteilten sowjetische Militärgerichte um die 40000 Kriegsgefangene, davon allein 34000 Deutsche.

Erst nach dem Tode GlossarStalins wurden die Entlassungen der Verurteilten im großen Maßstab möglich. Sie zogen sich bis 1956/57 hin. Die letzten Repatriierungen der Kriegsgefangenen, die nach 1953 abgewickelt wurden, sind sowohl auf die allgemeine Wende in der sowjetischen Rechtspolitik, die in der Abkehr von der Repressionspraxis der Stalinzeit zum Ausdruck kam, als auch insbesondere auf den neuen außenpolitischen Kurs der UdSSR, der unter dem Zeichen der internationalen Entspannung stand, zurückzuführen. Anders als die letzten österreichischen Verurteilten, die bereits nach Abschluß des Staatsvertrags (1955) nach Hause zurückkehren dürften, erhielten Deutsche und Japaner dieses Recht erst nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen ihren Ländern und der Sowjetunion (jeweils 1955 und 1956). Seit Anfang der 90er Jahre überprüft die russische GlossarHauptmilitärstaatsanwaltschaft diese Prozesse in individuellen Rehabilitierungsverfahren.

Die Forschung tat sich von Anfang an mit dem Thema Kriegsgefangene schwer. Schon die Quellenlage wirkte abschreckend: Die geheimen bzw. streng geheimen Akten des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten und seiner GlossarVerwaltung für Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und Internierten blieben bis Anfang der 90er Jahre weitgehend unter Verschluß. Da westeuropäischen und amerikanischen Historikern Quellen fehlten, die über die Motive und Ziele der sowjetischen Politik gegenüber den Kriegsgefangenen Aufschluß geben konnten, blieben ihre Studien, die sich auf Erinnerungsberichte der Erlebnisgeneration, d.h. der Kriegsgefangenen selbst, stützten, auf die Alltagsgeschichte beschränkt. Während dessen bemühten sich ihre Kollegen aus osteuropäischen Ländern vor allem darum, nachzuweisen, daß die UdSSR den Kriegsgefangenen eine humane Behandlung zukommen ließ, die mit dem Völkerrecht übereinstimmte. Im Mittelpunkt der scharfen Polemiken zwischen den Historikern aus West und Ost stand dabei, durch die Umständen des Kalten Krieges bedingt, die politische Arbeit der sowjetischen Behörden unter den Kriegsgefangenen. Zugleich ist festzuhalten, daß in dieser Zeit im Westen Spekulationen über eine "geheime Politik" der UdSSR hinsichtlich der Kriegsgefangenen Konjunktur hatten, wofür es reichlich Nahrung gab, da die Sowjetunion weder das GlossarGenfer Kriegsgefangenenabkommen von 1929 noch die GlossarHaager Landkriegsordnung von 1907 explizit anerkannt hatte.

Seit Anfang der 1990er Jahre veränderten sich die politischen Gegebenheiten in der UdSSR bzw. Rußland grundlegend, woraus eine neue Archivsituation im Lande entstand. Als Folge wird der Trend sichtbar, umfangreiche und fundierte Quellensammlungen zu der Kriegsgefangenschaft und den Kriegsgefangenen herauszugeben. Zur gleichen Zeit wird die bisherige Forschung auf diesem Bereich durch neue sozial- und mentalitätsgeschichtliche Ansätze bereichert. Sie werden teils in regionalgeschichtlichen Studien teils in Arbeiten über das stalinistische Terrorsystem entwickelt und schärfen das Bewußtsein für die gesellschaftsgeschichtliche Relevanz des Themas. So gilt das Interesse der Forschung u. a. der Verwaltung für Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und Internierten beim NKVD der UdSSR, wobei an ihrem Beispiel den Strukturen und Funktionsweisen des stalinistischen Verwaltungsapparats nachgegangen wird. Der Schwerpunkt der aktuellen russischen Studien liegt außerdem, der alten sowjetischen Tradition entsprechend, auf den Institutionen der politischen Schulung, auf dem Einsatz der Kriegsgefangenen in der Wirtschaft sowie auf Verurteilungen und Repatriierungen. Dagegen steckt die Forschung über die Kriegsgefangenschaft von Frauen oder über die Haft von Kriegsgefangenen in Lagern des GlossarGULag noch in Ansätzen.

Die bisherigen Studien zeigen, daß trotz der Öffnung der Archive die Antwort auf die wichtigste Frage ausbleibt, nämlich: Wie hoch war die Zahl der Kriegsgefangenen in der Sowjetunion? Die amtlich angegebenen Zahlen lagen weit unter der tatsächlichen Anzahl von Offizieren und Soldaten, die gefangen genommen wurden. Alleine die Zahl der Deutschen, die in der Gefangenschaft verstorben waren und nie amtlich registriert wurden, belief sich, so die Schätzungen der Experten, auf 300000 Mann. Immense – durch den Krieg bedingte –Verzögerungen und Fehler im Meldeverfahren standen einer konsequenten Erfassung von Gefangenenzahlen im Wege und wurden trotz mehrmaliger Ansätze in dieser Hinsicht bis zuletzt nicht behoben. Insofern gilt es für die Forschung nach wie vor, durch einen Vergleich sowjetischer Quellen mit den militärischen, amtlichen oder suchdienstlichen Aufzeichnungen der Länder, aus denen die Kriegsgefangenen kamen, fundierte Schätzungen nach einzelnen Nationen zu erarbeiten. Dabei sind die sowjetischen Angaben zur Sterblichkeit unter den Gefangenen nur als untere Richtwerte zu betrachten. Demnach sind 580548 oder 14,1% der Kriegsgefangenen verstorben. Die höchste Sterblichkeitsrate verzeichnete das Ministerium für Innere Angelegenheiten für italienische (27683 oder 56,5%) und rumänische Gefangene (54602 oder 29,1%). Die Zahl der verstorbenen Deutschen gab diese Behörde mit 356687 (14,9%) an; wie erwähnt, gehen neue Arbeiten von einer nahezu doppelt so hohen Sterblichkeitsrate aus. Nichtsdestoweniger hatte die neuere Forschung gezeigt, daß die UdSSR mit ihrer Kriegsgefangenenpolitik – namentlich gegenüber den Deutschen – bewußt keine Vergeltung üben wollte.

Der vorliegende Erlaß über die Kriegsgefangenen, der durch einen Beschluß des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 1. Juli 1941 bestätigt wurde, gab den Handlungsraster für die zuständigen Behörden vor. Seine Urheber orientierten sich an den Normen des Genfer Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 27. Juli 1929, obwohl die UdSSR ihm fernblieb, aus Abneigung gegen internationale Kontrollen wie aus Mißtrauen gegen die Vertragspartner aus kapitalistischen Ländern. Bezeichnenderweise fehlten jedoch im Erlaß alle Regelungen zur Repatriierung von Kriegsgefangenen.

Dabei ist festzuhalten, daß unter den Umständen des Krieges die Umsetzung des Erlasses aus mehren Gründen gefährdet war. Das Fehlen eines klaren Handlungskonzepts bei den verantwortlichen Behörden, die antideutschen Ressentiments der Roten bzw. der Sowjetarmee, die durch die Propaganda geschürt wurden, die desolaten Lebens-, Transport- und Versorgungsbedingungen im ganzen Land, die individuell bedingte Fahrlässigkeit des Lagerpersonals wirkten sich auf die Lage der Kriegsgefangenen mitunter verheerend aus.

Die Mehrheit von ihnen litt an Unterernährung, an der mangelhaften medizinischen Versorgung und der geringer Ausstattung der Lager mit sanitären Anlagen, Seuchen und Tod waren die Folge. Das sowjetische Rechtssystem, das sich durch Kompromißlosigkeit und Härte auszeichnete, sowie die für das Land typische Arbeitsorganisation waren und blieben den meisten Gefangenen fremd. Die Erinnerungen der zurückgekehrten Offizieren und Soldaten drückten dem Bild der Sowjetunion in der westeuropäischen Gesellschaft ihren Stempel auf. Auch unter diesen Gesichtspunkten ist die Gefangenschaft in der UdSSR nicht nur für die sowjetische, sondern auch für die europäische Geschichte der Kriegs- und Nachkriegszeit von erheblicher Bedeutung.

Andreas Hilger