Die Staatshymne der UdSSR, 14. Dezember 1943

Einführung

Einer der ersten wichtigen symbolischen Akte der neuen bolschewistischen Regierung war die Installierung der Glossar"Internationale" als offizielle Hymne des Sowjetstaates mit dem Dritten GlossarAllrußländischen Sowjetkongreß am 10. (23.) Januar 1918. Der Text dieses traditionellen, in Europa weit verbreiteten Arbeitergesangs schien dem Selbstverständnis der bolschewistischen Revolutionäre in jeder Hinsicht zu entsprechen: Vom Aufstand "der Hungernden und Sklaven" war da die Rede, von der Bereitschaft zum "tödlichen Kampf", vom Bau einer "neuen Welt", vom "letzten, entscheidenden Gefecht", welches das Menschengeschlecht auszufechten habe, und davon, daß nur "der Arbeiterarmee der ganzen Welt" die "Herrschaft über diese Erde" gebühre[1]. Der seit Ende 1917 im Entstehen begriffene Sowjetstaat sollte – nach weit verbreitetem Konsens seiner Schöpfer – nur eine Art Übergangslösung sein, man glaubte, daß durch eine von Rußland ausgehende globale Revolution in der Tat eine "neue Welt" geschaffen würde, in der es bald keine unterschiedlichen Staaten, Nationen und Klassen mehr, sondern nur noch Werktätige in friedlichem und produktivem Zusammenleben geben würde. Die weltpolitischen Realitäten der zwanziger Jahre entlarvten derlei Vorstellungen als unerreichbares Wunschdenken und lenkten die Energien bolschewistischer Politiker auf ein anderes, angesichts der enormen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme dringend zu verfolgendes Ziel, den Glossar"Aufbau des Sozialismus in einem Lande". Unter dieser Losung versuchte die GlossarVKP(b), als deren entscheidende Führungspersönlichkeit sich nach GlossarLenins Tod GlossarIosif Stalin hatte etablieren können, das in desolatem Zustand befindliche Land zu konsolidieren und in einem als sozialistisch verstandenen Geist umzugestalten. Die Partei befahl gigantische wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen, setzte sie mit Gewalt durch und verkündete seit Anfang/Mitte der Dreißiger die erfolgreiche Etablierung des Sozialismus in der Sowjetunion. Zwar hielt man rhetorisch durchaus an den weltrevolutionären Zielen der Internationale noch fest (als Sprachrohr dieser Absichten diente insbesondere die Organisation der GlossarKommunistischen Internationale (Komintern)), tatsächlich aber betrieb man bereits in den dreißiger Jahren eine "nationale", auf die vermeintlichen Interessen des sowjetischen Staates ausgerichtete Politik.

Dies ist in knapper Zusammenfassung der historische Hintergrund jener Verlautbarung des Zentralorgans der Kommunistischen Partei, der Glossar"Pravda", über die Notwendigkeit eines neuen repräsentativen Symbols für die Sowjetunion: "Angesichts der Tatsache, daß die gegenwärtige Staatshymne [...], die Internationale, in ihrem Inhalt nicht die grundsätzlichen Veränderungen zum Ausdruck bringt, die in unserem Lande infolge des Sieges des Sozialismus vor sich gegangen sind [...], hat der GlossarRat der Volkskommissare der UdSSR beschlossen, den bisherigen Text der Staatshymne durch einen neuen Text zu ersetzen, der in seinem Inhalt dem Geist und Wesen der sowjetischen Ordnung entspricht."[2] In der Tat waren in der "sowjetischen Ordnung" in der kurzen Zeit seit ihrer Begründung bedeutsame Veränderungen eingetreten – in politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, kultureller und ideologischer Hinsicht. Der Text der neuen Hymne spiegelt – wenn auch in der euphemisierenden Verzerrung stalinistischer Propagandalyrik – in seinen Strophen jene Veränderungen wieder und kodifiziert zugleich das damit zusammenhängende, politisch gewollte neue Selbstverständnis.

"Es lebe die [...] mächtige Sowjetunion": Seit den chaotischen Tagen von Revolution und Bürgerkrieg hatte sich Russlands Charakter gewandelt. Die Verfolgung des Ziels eines "Aufbaus des Sozialismus in einem Lande", der damit einhergehende stillschweigende Verzicht auf weltrevolutionäre Bestrebungen und die Einsicht in die Notwendigkeit der Stärkung der eigenen Kräfte hatten nicht zuletzt zu einschneidenden Maßnahmen in Wirtschaft und Gesellschaft geführt. Landwirtschaftliche GlossarKollektivierung und forcierte GlossarIndustrialisierung sollten beide einem Ziel dienen, der Schaffung einer autarken Großmacht mit einer als "modern" und überlegen verstandenen sozialistischen Wirtschaftsweise. Während die Kollektivierung auf dem Land mehr Opfer als Nutzen brachte, machte das ehrgeizige Industrialisierungsprogramm trotz aller Dysfunktionalitäten aus dem russischen Agrarstaat eine industrielle Großmacht. Hinzu kamen gesellschaftliche Veränderungen ungeheuren Ausmaßes – das Land urbanisierte sich, die Bildung der "proletarischen" Bevölkerung wurde massiv vorangetrieben, neue Eliten entstanden in der sowjetischen Intelligencija und Technokratie. Mit der Verkündung, daß in der Sowjetunion der Sozialismus verwirklicht sei, ging auch eine demonstrative konstitutionelle Konsolidierung einher: Die neue Verfassung von 1936 war rechtliches und symbolisches Fundament der "einigen, mächtigen Sowjetunion".

"Eine unzerstörbare Union freier Republiken hat das Große Russland für immer geeint": Laut Verfassung waren die Unionsrepubliken in der Tat "frei", jedoch offenbart schon obiger Nachsatz, wie diese Freiheit aus Moskauer Sichtweise zu verstehen war. Nicht nur schränkte eine Vereinigung "für immer" die Freiheitsoptionen für die einzelnen Republiken erheblich ein, sondern das "Große Russland" gab auch in allen wichtigen Bereichen die Richtung vor. Zwar galt schon seit dem erfolgreichen Ende des Bürgerkrieges, daß Moskau den Kurs diktierte, unter Stalin aber intensivierte sich der zentralistische Zug im Sowjetstaat. Darüber hinaus legte man jegliche Scheu ab, sich zur Dominanz der russischen Nation im Vielvölkerstaat zu bekennen. Man legte die Attitüden bilderstürmerischer und egalitaristischer Revolutionsrhetorik ab und berief sich gezielt auf die (groß-)russischen historischen Traditionen. Statt die Vergangenheit im Zarenreich pauschal zu verteufeln, glorifizierte man zahlreiche Momente. In vielen Bereichen knüpfte man explizit an Früheres an: Nicht nur auf dem Gebiet von Kunst und Kultur, wo der Glossar"Sozialistische Realismus" an den russischen Realismus des 19. Jahrhunderts anknüpfen sollte, sondern auch auf politischen Ebenen entdeckte man die russische Tradition neu. So war man im Äußeren an den Wiederherstellung der räumlichen Ausdehnung des Zarenreiches interessiert und im Inneren wurde das Russische wieder zur unangefochtenen kulturellen Leitkategorie für alle sowjetischen Völkerschaften.

"Sei gepriesen, unser freies Vaterland": Die Konzentration der revolutionären Ambitionen auf das eigene Land und die Hinwendung zur (groß-) russischen Tradition ging einher mit der Rehabilitierung des ehedem als "bürgerlich" und "antisowjetisch" verteufelten Patriotismus. Dessen Referenzobjekt war zwar die Sowjetunion als sozialistischer Staat, seine historische Dimension war freilich eindeutig russisch definiert – eine Tendenz, die mit Beginn des Zweiten Weltkriegs, den man im sowjetischen Sprachgebrauch – unter Bezugnahme auf den Glossar"Vaterländischen Krieg" gegen GlossarNapoleon– gezielt als "Großen Vaterländischen Krieg" stilisierte, ins Extreme gesteigert wurde. Die sowjetischen Staatsbürger durften, ja mußten wieder stolz sein auf ihr Vaterland und dessen Geschichte. Große Persönlichkeiten der Vergangenheit wurden als Leitbilder der Gegenwart propagiert, waren es auf kulturellem Sektor GlossarČajkovskij, GlossarGlinka, GlossarPuškin oder GlossarTolstoj, so mußten für die Initiierung des neorussischen Kriegspatriotismus historische Feldherrengestalten wie GlossarAleksandr Nevskij, GlossarDmitrij Donskoj, GlossarAleksandr Suvorov oder GlossarMichail Kutuzov herhalten. Anstelle Visionen einer staatenlosen, weltübergreifenden proletarischen Zivilisation von umfassender Neuartigkeit nachzuhängen, galt es wieder, dem Vaterland zu dienen, es in Kriegszeiten zu verteidigen und im Frieden mit aller Leistungskraft zu stärken: Der revolutionäre Internationalismus war einem "Sowjetpatriotismus" unter explizit russischen Vorzeichen gewichen.

"Der große Lenin erleuchtete uns den Weg. Stalin [...] begeisterte uns [...] zu großen Taten": Bei aller Wertschätzung großer Persönlichkeiten der russischen Vergangenheit kamen jedoch auch die entscheidenden Gestalten der Gegenwart nicht zu kurz. In ideologischer Hinsicht etablierte man die orthodoxe Abfolge der großen Geister des Sozialismus: GlossarMarx-GlossarEngels-Lenin-Stalin. Dabei behielt Staatsgründer Lenin seine allumfassende theoretische Autorität, für die erfolgreiche Umsetzung seiner als objektiv gültig betrachteten Ansichten war in der offiziellen Sichtweise die Genialität Stalins verantwortlich. Seit Ende der zwanziger Jahre wurde in der Sowjetunion ein gigantischer Personenkult um den "weisen", "allwissenden" und "allmächtigen" Führer betrieben. Die konstitutionellen Leitlinien von Kollektivismus und Sowjetdemokratie wurden überwölbt von einer personalen Fixierung nie gekannten Ausmaßes. Stalin erschien als gottähnlicher Übervater, der mit unermüdlichem Einsatz persönlich für das Wohlergehen des Staates und seiner Bewohner sorgte.

"Wir haben unsere Armee in Schlachten gestählt, und werden die niederträchtigen Eindringlinge hinwegfegen!": Obwohl die historische Entwicklung gänzliche andere Interpretationen nahe legt, wurde Stalin auch das Verdienst für die erfolgreiche Wende im Krieg gegen den deutschen Aggressor zugeschrieben. Ende 1943, als der Text entstand, zeichnete sich bereits ab, daß er der Sowjetunion abermals (wie schon Rußland 1812) gelingen würde, die Eindringlinge zu schlagen. Man hatte bereits entscheidende Schlachten gewonnen, der Feind befand sich auf dem Rückzug, die sowjetischen Armeen am Beginn ihres unaufhaltsamen Marsches nach Berlin. Die Hoffnung, den Krieg erfolgreich zu beenden, war wiedergeboren, der patriotische Aufruf der neuen Hymne sollte seinen Teil zur Motivation der leidgeprüften Bevölkerung leisten.

Ein mächtiger Staat, die russische Tradition, ein neuer sowjetrussischer Patriotismus, der geniale Führer Stalin – unter den Leitkategorien der Hymne fehlt offensichtlich eine für die Sowjetunion zentrale Kategorie: die Kommunistische Partei. In der Tat findet sich – abgesehen von der Nennung zweier herausragender GlossarBolschewiki – im Text keinerlei Hinweis auf jene Organisation. Man mag dies dem Wunsch geschuldet sehen, in der Zeit höchster Anspannung im Krieg die Identifizierung der gesamten Bevölkerung mit der Sowjetunion zu erreichen, nicht nur der Anhänger der Partei. Eine derartige Interpretation würde sich in das entworfene Bild eines Vaterlandes in russischer Tradition durchaus einfügen. Der gesamtgesellschaftliche nationale Konsens sollte womöglich nicht durch die allzu deutliche Bezugnahme auf die Kommunistische Partei relativiert werden. Der Text ist jedoch stets nur ein Teil einer Staatshymne, genauso präsent ist immer auch die musikalische Dimension. Bezieht man jene in die Betrachtung mit ein, so wird klar, daß trotz fehlender verbaler Explizität die Partei auch in der neopatriotischen Hymne geradezu allgegenwärtig ist. Der Komponist GlossarAleksandr Aleksandrov, seit 1928 Gründungsdirektor des Glossar"Lied- und Tanzensembles der Sowjetischen Armee", benutzte für Gestaltung der Hymne – in geringfügiger Veränderung – Musik, die er bereits zuvor für eine andere Gelegenheit geschrieben hatte: sein "Lied über die Partei" aus dem Jahr 1938. Das musikalische Material, das Aleksandrov für die Parteihymne benutzt hatte, ist mit demjenigen der Staatshymne nahezu identisch und stelle somit den zwar unterschwelligen, aber für jedermann hörbaren Zusammenhang von Staat, Gesellschaft, Vergangenheit, Patriotismus und Partei her. Die musikalische Botschaft der Hymne war ebenso deutlich wie der textliche Inhalt: Das Fundament der Sowjetunion war die Partei.

Heute scheint diese letzte, akustische Konnotation verloren gegangen zu sein: Wie anders wäre es vorstellbar, daß jene Noten Aleksandrovs für die jetzige Nationalhymne der Russischen Föderation erkoren wurden. Die Verwendung als Musik zu der patriotischen sowjetischen Staatshymne über fast fünf Jahrzehnte hat offensichtlich zur Folge, daß die russische Bevölkerung die weit ausschwingende, triumphhaft voranschreitende Melodie heute längst nicht mehr mit der Kommunistischen Partei, sondern vielmehr mit dem verklärenden Rückblick auf die Größe einer schon zerfallenen Weltmacht assoziiert. Insofern hat – aus dem Nachhinein betrachtet – die 1943 entstandene Staatshymne der Sowjetunion durchaus das Ziel ihrer Initiatoren erreicht: Ein Bewußtsein für die Größe der sowjetischen Heimat und eine Affinität zu ihr zu schaffen.

Die sowjetische Staatshymne von 1943/44 manifestiert auf symbolischer Ebene den Wandel vom revolutionären Bolschewismus zum sowjetischen Staatspatriotismus, von den Leitbildern des proletarischen Internationalismus und der prinzipiellen Gleichheit der Völker zum russischen Nationalismus, von der Vorstellung einer letztlich staatsauflösenden, kommunistischen Sowjetdemokratie zu derjenigen einer starken, zentralistisch durchorganisierten, militärisch schlagfertigen Großmacht. Sie ist damit auch ein Schlüsseldokument des Stalinismus.

Matthias Stadelmann

[1] "Internacional", in: Bol'šaja Sovetskaja Ėnciklopedija, 51 Bde, Bd. 18, Moskau 1953, S. 283. [[1]]

[2] "O gosudarstvennom gimne Sovetskogo Sojuza", in: Pravda, Nr. 313, 22. Dezember 1943. [[2]]