Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR "Über den Übergang zum achtstündigen Arbeitstag und zur siebenstündigen Arbeitswoche sowie über das Verbot eines eigenmächtigen Ausscheidens von Arbeitern und Angestellten aus Unternehmen und Behörden", 26. Juni 1940

Einleitung

Seit dem Beginn der forcierten Industrialisierung und dem Übergang zur Planperiode hatte die sowjetische Wirtschaft mit einem Arbeitskräftemangel, Bummelei und einer hohen Fluktuation der Arbeitskräfte zu kämpfen. Die Fluktuation verursachte nicht nur Ausfälle von eingearbeiteten Arbeitskräften, sondern störte auch massiv die staatliche Lenkung der Wirtschaft und die Planungen für eine forcierte Industrialisierung. Darüber hinaus befand sich die Wirtschaft, nach einer Stabilisierung Mitte der 1930er Jahre, am Ende des Jahrzehnts in einer schwierigen Lage. Der Aufbau der Armee, der angesichts der politischen Lage in Europa massiv vonstatten ging, zog wichtige Arbeitskräfte aus den Fabriken ab: 1937 existierten 1,4 Millionen und 1940 bereits 4,2 Millionen Armeeangehörige; darüber hinaus waren von den 8,5 Millionen Industriearbeitern drei Millionen in der Rüstungsindustrie beschäftigt, was den Arbeitskräftebedarf in der Zivilindustrie zusätzlich verstärkte. Für eine Dezimierung der Arbeitskräfte hatte auch der Großen Terror 1937/38 gesorgt, der viele Wirtschaftsfachleute in den Betrieben getroffen und zusätzlich für eine Atmosphäre der Denunziation und fehlenden Disziplin der Arbeiter gegenüber dem Management gesorgt hatte.

Die Ursachen für die häufigen Arbeitsplatzwechsel waren vielfältig: der durch die Kollektivierung und die schlechten Lebensverhältnisse erzwungene Übergang von Menschen aus der Landwirtschaft in die Industrie, der ein zurück aufs Land nicht zuließ und so nur das Ausweichen von einem Arbeitsplatz zum nächsten erlaubte, die allgemeine Unrast der entwurzelten Arbeiter, die schlechten Arbeitsbedingungen, die vielfach einen Wechsel hin zu besseren Arbeitsstellen provozierte, der permanente Arbeitskräftemangel, der Betriebsleitungen untereinander zu Abwerbungen veranlaßte sowie zahlreiche Fehlplanungen bei der Projektierung neuer industrieller Anlagen. Mit der Fluktuation ging auch eine vergleichsweise niedrige Produktivität einher. Arbeiter, die häufig wechselten, mußten immer wieder neu eingearbeitet werden. Die fehlende Bindung an den Betrieb sorgte für einen eher sorglosen Umgang mit Maschinen und Material. Die weit verbreitete Bummelei und Trunkenheit förderte ebenfalls nicht die Produktivität. Die Verspätungen und das zeitweise Fernbleiben vom Arbeitsplatz ergaben sich nicht nur aus der schwierigen Koordination des Arbeitslebens in einer Mangelgesellschaft; sie wurden, wie die Trunkenheit, auch durch das Festhalten vieler vom Dorfe kommender Arbeiter an ihren dörflichen Lebensgewohnheiten, insbesondere ihrer nicht-offiziellen Fest- und Feiertagetage, und die anfänglich häufige Heimkehr ins Dorf zur Saat- und Erntezeit verursacht. Ein weiteres Problem für die Sowjetführung war das eher halbherzige Vorgehen der Betriebsleitungen, die das Verhalten der Arbeiterschaft tolerierten. In Zeiten des Arbeitskräftemangels versuchten diese, "ihre" Arbeiter zu halten bzw. neue zu gewinnen, um so die Anforderungen des Plans zu erfüllen.

Die Härte des Erlasses vom 26. Juni 1940 und seiner Umsetzung erklären sich nicht nur aus der besonderen Situation am Vorabend des Krieges, sondern auch aus den vielen gescheiterten Maßnahmen des Staates, die Arbeiter zu disziplinieren und die Produktivität zu steigern. Der Erlaß vom 26. Juni 1940 bildete nur den Höhepunkt einer ganzen Reihe von Gesetzen, die zwischen 1929-1933 und 1938-1940 erlassen wurden.

Zuerst versuchten die sowjetischen Behörden über das Arbeitsvertragsrecht insbesondere den saisonalen Wechsel der ehemaligen Bauern einzudämmen und die Arbeiter intensiver an die Betriebe zu binden. In der Rechtsauffassung der NEP-Zeit schloß der Arbeiter einen freien Arbeitsvertrag, der vom Betrieb und vom Arbeiter entsprechend der vertraglichen und arbeitsgesetzlichen Vorschriften auf bestimmte Zeit oder unbefristet, bei relativ kurzen Kündigungsfristen, geschlossen und von beiden Seiten gekündigt werden konnte. Zuerst wurde die Laufzeit der befristeten Arbeitsverträge von maximal einem Jahr (Art. 24 Arbeitsgesetzbuch von 1922) per Verordnung vom 15. Dezember 1930 auf drei Jahre verlängert. Der unbefristete Arbeitsvertrag, der nach der Rechtsauffassung der NEP-Zeit jederzeit kündbar war, wurde nun als vom Arbeiter unkündbar betrachtet und entsprechende Handlungen zum Beispiel als Bruch der Arbeitsdisziplin (Verordnung vom 23. September 1930) bestraft.

Diese Vereinseitigung des Kündigungsrechts schlug sich auch bei den Arbeitsvertragsstrafen nieder, die eine relativ einfache Entlassungsstrafe durch den Betrieb ermöglichte. Der rigide Erlaß vom 15. November 1932 sah zum Beispiel automatisch die fristlose Entlassung bei einem Tag unentschuldigten Fehlens, den Einzug von Lebensmittelkarten und den Verlust der Werkswohnung vor. Zusätzlich erfolgte erstmals die direkte Verpflichtung des Managements, die Verfehlungen auch zu ahnden. Nachdem sich 1938 die wirtschaftliche Situation nach einer Verbesserung Mitte der 1930er Jahre wieder verschlechtert hatte, setzen auch wieder Maßnahmen gegen Bummelei und Arbeitsplatzwechsel ein. Der Erlaß vom 28. Dezember 1938, der in seiner Präambel das Vorliegen massiver Bummelei und provozierter Entlassungen eingestand, sowie begleitende Verordnungen verschärften die Disziplinarmaßnahmen. Die Betriebsleitungen mußten unter der Androhung strafrechtlicher Verfolgung dreimaliges zwanzigminütiges Fehlen in einem Monat bzw. viermaliges Fehlen in zwei aufeinanderfolgenden Monaten mit sofortiger Entlassung und dem Verlust der Betriebswohnung bestrafen.

Allerdings waren solche Maßnahmen wenig geeignet und kontraproduktiv. Arbeiter versuchten, durch Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin, Entlassungen zu provozieren, um den Arbeitsplatz wechseln zu können und Betriebsleitungen wandten die Gesetze häufig gar nicht oder nur sporadisch an. Die Entlassungsstrafe war in Zeiten des Arbeitskräftemangels ein beim Management ungeliebtes Schwert und wirkte gegenüber den Arbeitern wenig abschreckend.

Neben der Verschärfung der Arbeitsvertragsstrafrecht sollte die Kontrolle des Arbeitsvertragsschlusses helfen, die Fluktuation und die fehlende Arbeitsdisziplin zu bekämpfen: so etwa durch die Einführung der Zwanges zur Vorlage von Entlassungs- und Zeugnispapieren bei Neueinstellung (Verordnung vom 27. Dezember 1931), des Inlandspasses (Verordnung vom 27. Dezember 1932) und schließlich des Arbeitsbuches (Verordnung vom 20. Dezember 1938).

Da die Versuche, über das Arbeitsvertragsrecht die Arbeiter an die Betriebe zu binden und zu disziplinieren scheiterten, griff der Staat schließlich zu administrativen Maßnahmen wie hier im vorliegenden Erlaß vom 26. Juni 1940. Rechtlich konnte der Staat aufgrund der Verfassung von 1936 eingreifen. Mit Artikel 12 Absatz 1, der die Grundpflicht jedes Sowjetbürgers zur Arbeit definierte, und Artikel 118 hatte der Gesetzgeber die Rechtsgrundlage, den freien Arbeitsplatzwechsel auszuschließen und Verstöße über das Strafrecht zu ahnden. Die Pflicht zur Arbeit konstituierte sich also nicht erst privatrechtlich durch einen Arbeitsvertrag, sondern war eine öffentliche Pflicht, die bereits vor dem eigentlichen Arbeitsvertrag bestand; der Arbeitsvertrag begründet nicht ein Arbeitsverhältnis, sondern regelte es nur. Artikel 130, der den Sowjetbürger verpflichtete, die Arbeitsdisziplin zu wahren, ermächtigte den Gesetzgeber, Strafgesetze bezüglich der Arbeitsdisziplin zu erlassen.

Das Neue am Erlaß vom 26. Juni 1940 war die Anwendung des Strafrechts auf Angelegenheiten der Arbeitsdisziplin und dessen harte Umsetzung. Die untaugliche Entlassungsstrafe wurde fallengelassen. Statt dessen wurde eigenmächtiges Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis mit zwei bis vier Monaten Gefängnis, und einmalige Abwesenheit bzw. eine Verspätung von mehr als zwanzig Minuten mit ein- bis sechsmonatiger Zwangsarbeit im bisherigen Betrieb bei 25%er Lohnkürzung geahndet. Das Management wurde unter Androhung der Strafverfolgung zur Anzeige der Delikte verpflichtet. Der Arbeiter wurde so zum Objekt, mit dem die Erfüllung des Plans ohne Rücksichtnahme möglich wurde.

Einen Tag nach der Verabschiedung des offiziell auf Initiative des Gewerkschaftsverbandes initiierten Erlasses durch das Präsidium des Obersten Sowjets erließen der Generalstaatsanwalt, Michail Pankrat’ev, und der Volkskommissars für Justiz, Nikolaj Ryžkov, eine Umsetzungsanordnung. Nach dieser hatten die Staatsanwaltschaften entsprechende Anzeigen der Fabrikleitungen innerhalb von drei Tagen zu bearbeiten und den Gerichten die Anlageschrift zuzuleiten. Diese mußten anschließend innerhalb von fünf Tagen die Verhandlung abhalten. Wo es möglich war, sollten Schauprozesse in Anwesenheit der Staatsanwälte in den Fabriken durchgeführt werden.

Allerdings gab es anfänglich massive Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Gesetzes. Die Gerichte und Staatsanwaltschaften waren mit der vorgeschriebenen Vorgehensweise völlig überfordert. Die Urteile fielen, da z.B. vielfach Entschuldigungsgründe für Verspätungen beim Erscheinen auf der Arbeit akzeptiert wurden, häufig eher milde aus, soweit es überhaupt zu solchen kam. Die Werksleitungen, die zur Anzeige der im Gesetz genannten Straftaten verpflichtet waren, ignorierten das Gesetz, bis sie nach und nach selbst von den Staatsanwaltschaften verfolgt wurden. Kam es zu Verfahren gegen die Arbeiter, milderten die Betriebsleitungen mit Hinweisen auf vorliegende Verdienste der entsprechen Arbeiter die Verfehlungen oder schickten Vertreter zu den Gerichtsverfahren, um den Angeklagten bei der Verteidigung zu helfen. Auch die Gewerkschaftsorganisationen setzten sich für die Arbeiter ein und halfen ihnen mit Bestätigungen von entsprechenden Entschuldigungsgründen. Die Arbeiter, bei denen das Gesetz äußerst unbeliebt war, zeigten in den Schauprozessen demonstrativ ihre Sympathie für die angeklagten Kollegen. Insbesondere die Schauprozesse führten, entgegen ihrer Intention, die Umsetzung des Gesetzes zu unterstützen, zu einer feindlichen Einstellung der Arbeiterschaft gegenüber dem Gesetz. Das Verbot des Arbeitsplatzwechsels wurde durch provozierte Entlassung umgangen, indem man geringwertiges Betriebseigentum stahl oder sich in den Betriebsräumen "rowdyhaft" aufführte und sich anschließend selbst anzeigte.

Trotz des Widerstandes kam es im ersten Monat zu über 100.000 Anzeigen bei den Staatsanwaltschaften. Bis Ende des Monats hatten die Gerichte in 51.000 Fällen die Verfahren eingeleitet bzw. abgeschlossen. Ein merklicher Rückgang der Bummelei und der Arbeitskräftefluktuation sowie eine Steigerung der Produktivität traten jedoch nicht ein.

Stalin ließ die schleppende Umsetzung des Gesetzes auf der Sitzung des Zentralkomitees am 29. Juli 1940 thematisieren, mit der die zweite Umsetzungsphase des Gesetzes begann. Die Gerichtserfahren wurden nun noch weiter gekürzt und die Einhaltung des Gesetzes schärfer verfolgt. Außerdem lief eine große Öffentlichkeitskampagne an.

Am 29. Juli 1940 wurde die Durchführung von Schauprozessen sowie von Gerichtsverfahren während der Arbeitszeit verboten. Um von Arbeitern durch Bagatelldelikte provozierte Entlassungen und damit die Umgehung des Verbots des Arbeitsplatzwechsel zu verhindern, beschloß das Plenum, bei Bagatelldiebstähle in den Fabriken und "Hooliganismus" den Strafrahmen empfindlich, mindestens ein Jahr Haft, zu erhöhen; das entsprechende Gesetz folgte dann am 10. August 1940.

Das "rechtstaatliche" Verfahren wurde weitgehend abgeschafft. Die Betriebsleitungen hatten nun direkt und innerhalb von 24 Stunden nach Entdeckung eines Verstoßes den Gerichten entsprechende Verstöße anzuzeigen und das Belastungsmaterial zu übersenden. Die Staatsanwaltschaften waren nicht mehr mit dem Ermittlungsverfahren beauftragt, sondern hatten nun die Aufgabe, die Nicht-Anzeige von Verstößen aufzuspüren und zu verfolgen. Aber nicht nur gegen Betriebsleitungen und örtliche Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, die Arbeiter in den Gerichtsverfahren zu entlasten suchten, wurde rigoros vorgegangen, sondern auch gegen die Justiz selbst. Die Gerichte, die in Schnellverfahren ohne Zeugen und Beisitzer "verhandelten", hatten nun Urteile stets im oberen Strafrahmen zu fällen. Gegen Justizbeamte, die zu langsam arbeiteten und zu milde urteilten, setzte eine regelrechte Hexenjagd ein.

Die Kampagne, die bis Ende September/Anfang Oktober 1940 lief, verfehlte ihre Wirkung nicht. Waren im Juli 1940 in 38 % der Fälle auf Strafarbeit im Rahmen von drei Monaten und mehr erkannt worden, stiegen die Zahlen im August bereits auf 64 % und in der ersten Oktoberhälfte auf 78 % an.

Die dritte Phase, die mit Presseberichten über Exzesse bei den Verurteilungen, mit der Aufhebung von Urteilen durch das Oberste Gericht der UdSSR und mit entsprechenden Kommentaren in der juristischen Fachpresse eingeleitet wurde, bedeutete nicht das Ende der Anwendung des Erlasses vom 26. Juni 1940, sondern nur einen nicht ganz so exzessiven Gebrauch desselben. Die Verurteilungszahlen blieben weiterhin hoch. Von 1943 bis 1945 gab es jedes Jahr mehr als eine Millionen Verurteilungen wegen Arbeitsbummelei und unerlaubten Arbeitsplatzwechsels und über die Hälfte (51,1 %) aller Verurteilungen in Strafsachen ergingen 1945 aufgrund des Erlasses vom 26. Juni 1940. Die weiterhin hohen Verurteilungszahlen erklären sich aus dem Kriegszustand, in dem sich die Sowjetunion bis 1945 befand und der dem Vorgehen eine verstärkte Legitimation verlieh und dem beständigen Druck auf die Betriebsleitungen insbesondere in großen und kriegswichtigen Betrieben. In den Nachkriegsjahren wurde das Gesetz bezüglich Bummelei und Arbeitsplatzwechsel von Branche zu Branche und Gebiet zu Gebiet höchst unterschiedlich angewandt.

Mit dem nicht veröffentlichten Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 14. Juli 1951 erfolgte schließlich eine Einschränkung bei der Anwendung des Gesetzes, die die Verurteilungszahlen massiv zurückgehen ließ. Strafrechtlich sollten nur noch die Fälle verfolgt werden, in denen ein Arbeiter länger als ein Tag dem Arbeitsplatz fernblieb oder im Wiederholungsfalle. Alle anderen Verstöße sollten nunmehr disziplinarrechtlich in den Betrieben bestraft und wo möglich vor Kameradschaftsgerichten verhandelt werden. Diese Neudefinition wurde jedoch nicht ins Strafgesetzbuch übernommen, sondern nur im Rahmen der allgemeine Reglung der Arbeitsordnung den Fabriken und Gewerkschaften zur Kenntnis gebracht. Ein allzu öffentlicher Hinweis auf die gemilderte Verfolgung von Arbeitsbummelei hätte der Arbeitsdisziplin wohl zu stark geschadet. Endgültig abgeschafft wurde die Regelung über die Bummelei und den eigenmächtigen Arbeitsplatzwechsel erst am 25. April 1956.

Der Erlaß vom 26. Juni 1940, bezüglich eigenmächtigen Arbeitsplatzwechsels und Bummelei, war partiell erfolgreich. Die Zahl der Verurteilungen blieb auch nach der Umsetzungskampagne im Krieg sehr hoch, ebenso in der Nachkriegszeit, wenn auch auf geringerem Niveau. Das Phänomen der Bummelei und des unerlaubten Arbeitsplatzwechsels verschwand trotzdem nicht aus dem sowjetischen Wirtschaftsleben. Insgesamt wurden aufgrund des Erlasses vom 26. Juni 1940 zwischen 1940 bis 1952 wegen unerlaubten Arbeitsplatzwechsels 2,77 Millionen Menschen und wegen Arbeitsbummelei 10,9 Millionen Menschen verurteilt.

Der Erlaß vom 26. Juni 1940 enthielt nicht nur Maßnahmen gegen den freien Arbeitsplatzwechsel und die Bummelei. Er weitet auch, zusammen mit anderen im Sommer 1940 erlassenen Vorschriften, die gesetzlichen Arbeitszeiten aus, um die Arbeitskraft der Bevölkerung besser auszunutzen.

Die seit Oktober 1927 nominell geltende Fünftagearbeitswoche wurde durch die Sechsarbeitstagewoche und der Siebenstundenarbeitstag durch den Achtstundenarbeitstag ersetzt. Dies geschah faktisch ohne Lohnausgleich, da der wöchentliche Effektivlohn aufgrund der ebenfalls am 26. Juni 1940 veranlaßten Senkung der Stundenlöhne gleich blieb. Was zuvor (meist bezahlte) Überstundenarbeit war, wurde nun unbezahlte reguläre Arbeit. Zusätzlich nahm die Anzahl der Arbeitstage im Jahr durch einen am darauffolgenden Tag (27. Juni 1940) verabschiedeten Erlaß, der die Senkung der unionsweiten Feiertage auf sieben Tage bekanntgab, zu. Mit dem Erlaß vom 26. Juni 1940 wurden auch Ausnahmen in der Arbeitszeitgesetzgebung teilweise aufgegeben, so daß sich die Gesamtarbeitszeit der Bevölkerung ebenfalls erhöhte: Unter anderem mußten Büroarbeiter statt sechs nun acht Stunden arbeiten, ebenso wie die Jugendlichen ab dem 16. Lebensjahr, die ab dem 12. Juli 1940 auch verpflichtet waren, bei Bedarf Nacht- und Überstundenarbeit zu leisten.

Der Erlaß vom 26. Juni 1940 erhöhte aber mit dem Übergang zur Sechsarbeitstagewoche nicht nur die Arbeitszeit, sondern führte auch den Sonntag wieder als einheitlichen Ruhetag ein. Damit beendetet die sowjetische Führung geräuschlos die Kalenderexperimente der 1930er Jahre (nepreryvka und čestidnevka).

Die nepreryvka, die "ununterbrochenen Produktionswoche", war am 26. August 1929 für fast alle Industriezweige eingeführt worden. Mit ihr wurde die Siebentagewoche durch einen Fünftagezyklus ersetzt, wobei jeder der fünf Wochentage für ein Fünftel der Bevölkerung jeweils ein Ruhetag war. Mit dieser Neuerung sollte die Produktion ununterbrochen laufen. Außerdem hatte die Aktion eine antireligiöse Stoßrichtung, da sie die reguläre Woche und mit ihr den Sonntag als christlich überkommenden Ruhetag abschaffte. Die nepreryvka sorgte mit ihren Auswirkungen auf das Familienleben (viele Familien hatten keinen gemeinsamen Ruhetag mehr) für viel Unmut in der Bevölkerung. Sie verkomplizierte auch den Betriebsablauf, da durch das ständige Fehlen eines Teils der Arbeiterschaft der geregelte Informationsfluß in den Betrieben stark gestört wurde. Die gewünschte Effizienzsteigerung trat nicht ein. Am 1. Dezember 1931 wurde die nepreryvka für die meisten Industriezweige wieder abgeschafft und an ihrer statt die Sechstagewoche, die čestidnevka, eingeführt, die einen unionsweiten Ruhetag aller sechs Tage vorsah. Damit war zwar ein einheitlicher Ruhetag (jeweils der 6., 12., 18., usw. des Monats) wiederhergestellt worden, aber nicht der Sonntag und mit ihm die herkömmliche Woche. Aber auch dieses entschärfte Kalenderexperiment führt nicht zu der gewünschten Produktionssteigerung und zur Ignorierung des christlichen Sonntags. Im Gegenteil, wie bei der nepreryvka wurde insbesondere auf dem Land der Sonntag neben dem offiziellen Ruhetag weiterhin gefeiert, wodurch sich immer stärker zwei voneinander getrennte Gesellschaften in Stadt und Land herausbildeten. Der Erlaß vom 26. Juni 1940 beendete dieses Experiment und führte die reguläre Woche mit dem Sonntag als Ruhetag wieder ein. Neben den drakonischen Maßnahmen im Erlaß vom 26. Juni 1940 nahm sich diese Entscheidung für die Bevölkerung wie das "Zuckerbrot" neben der "Peitsche" aus. Ein Zuckerbrot, das auch nach Rücknahme der anderen Maßnahmen des Erlasses in den 1950er Jahren bestehen blieb.

Jörn Petrick