Botschaft des Ersten Sekretärs des CK der KPSS Nikita Sergeevič Chruščev an den Präsidenten der Vereinigten Staaten John F. Kennedy, 28. Oktober 1962

Einführung

Am 13. September 1962 erfuhr die Weltöffentlichkeit, daß in der internationalen Politik ein Unwetter aufzog. An diesem Tag nämlich warnte GlossarKennedy GlossarChruščev sowie GlossarFidel Castro, den Ministerpräsidenten Kubas, öffentlich vor der Stationierung offensiver sowjetischer Waffensysteme: "Wenn zu irgendeinem Zeitpunkt die kommunistische Aufrüstung in Kuba unsere Sicherheit, einschließlich unseres Stützpunktes in Guantanamo [...] beeinträchtigen oder gefährden sollte", so stellte der amerikanische Präsident auf einer Pressekonferenz klar, "dann werden die Vereinigten Staaten alles Notwendige tun, um ihre eigene Sicherheit und die ihrer Alliierten zu schützen".

Schon im Frühjahr 1962 hatte der Kreml damit begonnen, Kuba massiv aufzurüsten, und zwar sowohl konventionell als auch nuklear. Seit Mitte September verdichteten sich Vermutungen zur Gewißheit, daß die sowjetische Seite auch Raketen sowie die atomaren Sprengköpfe in die Karibik schafft. Neben anderen Motiven, wie der Behauptung des sowjetischen Führungsanspruchs in der kommunistischen Welt, war dafür das Bestreben Moskaus verantwortlich, durch eine erfolgreiche Stationierung sowjetischer Mittelstreckensysteme vor der amerikanischen Haustür das krasse Ungleichgewicht im nuklearen, insbesondere im strategischen Bereich zu kaschieren und auszugleichen. Damals verfügten die USA über etwa vier Mal so viele Raketen und 17 Mal so viele Atomsprengköpfe wie die Sowjetunion.

Am 6. Oktober verlegten die Vereinigten Staaten Flugzeuge und Flugabwehrraketen nach Florida, und am 14. Oktober gelang es den Piloten zweier "U-2"-Aufklärungsflugzeuge, über Kuba Fotos zu schießen, welche die Stationierung der sowjetischen Raketen eindeutig belegten. Nach fieberhaften Beratungen verfügte Kennedy am 20. Oktober die Vorbereitung für eine Quarantäne Kubas und am 22. Oktober wandte er sich in einer Fernsehansprache erneut an die Weltöffentlichkeit. Darin gab er die Seeblockade der Insel bekannt, forderte den bedingungslosen Abzug der sowjetischen Raketen, kündigte unter anderem eine verstärkte Luftüberwachung Kubas an und schloß seine Rede mit den Worten: "Wir werden weder voreilig noch unnötigerweise die Folgen eines weltweiten Atomkrieges riskieren, bei dem selbst die Früchte des Sieges nur Asche auf unseren Lippen wären – aber wir werden auch niemals und zu keiner Zeit vor diesem Risiko zurückschrecken, wenn wir uns ihm stellen müssen". Am 22. Oktober wurden, zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte des Kalten Krieges, die strategischen Luftstreitkräfte der USA auf "Defence Condition 2" gesetzt; zwei Tage später trat die totale Blockade der Insel in Kraft; am 27. Oktober wurde ein Flugzeug des Typs "U2" bei einem Inspektionsflug über der Insel abgeschossen.

In dieser Situation richtete Chruščev seine Botschaft an Kennedy und trug damit entscheidend zur Entschärfung der schweren Krise bei, in deren Verlauf, wie Chruščev Ende 1962 im GlossarObersten Sowjet mitteilte, auch "die gesamte Armee der Sowjetunion in den Zustand voller Kampfbereitschaft" versetzt worden war. Zweifellos nahm der damals noch starke Mann der Sowjetunion mit dem Rückzug einen schweren Gesichtsverlust in der internationalen Politik in Kauf. Zwar hatte ihm Kennedy faktisch eine Zusage gegeben, seinerseits die "Jupiter"-Raketen abzuziehen, die zu dieser Zeit in der Türkei stationiert wurden und für die Sowjetunion eine ähnlich bedrohliche Qualität hätten haben können wie deren Raketen auf Kuba für die Vereinigten Staaten. Allerdings wußte die Weltöffentlichkeit damals nichts von dieser Zusage Kennedys.

Folglich hatte Chruščev keine Wahl, als mit seinem Schreiben seinerseits in die Offensive zu gehen und den Rückzug von Kuba mit einer Mischung aus Anklage und Angebot zu verbinden: Die Anklagen bezogen sich insbesondere auf die Invasionsbedrohung Kubas und auf die Verletzungen des sowjetischen Luftraums durch amerikanische Aufklärer. Tatsächlich hatte Chruščev, woran er in seinem Schreiben noch einmal erinnerte, Mitte Mai 1960 ein Gipfeltreffen mit seinen Kollegen aus den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich unter Verweis auf ein soeben über sowjetischem Territorium abgeschossenes "U-2"-Flugzeug platzen lassen; vor allem aber nahm der Kremlchef in seinem Schreiben ausdrücklich Bezug auf Kennedys Versicherung vom 27. Oktober, wonach es in Zukunft keine Bedrohung und keine "Invasion" Kubas mehr geben werde. Damit hatte der Präsident Aktionen, wie der gescheiterten "Schweinebucht"-Landung vom April 1961, für die Zukunft eine offene Absage erteilt.

Auf der anderen Seite stand der Appell an die gemeinsame Verantwortung, die Aufforderung, in Zukunft "gefährliche Situationen" schon im Keim zu ersticken und sich von Maßnahmen fernzuhalten, die nur zu Irritationen führen oder gar als Provokationen für einen verhängnisvollen Schritt dienen könnten. So gesehen, bildete die Kubakrise, bildete Chruščevs Entscheidung vom 28. Oktober 1962 zugleich den ersten Schritt hin zu jener auch nuklearen GlossarEntspannungspolitik, die mit dem GlossarAtomteststopabkommen (1963), dem GlossarNichtverbreitungsvertrag (1968) und einem ersten GlossarAbkommen über die Begrenzung der strategischen Atomwaffen (SALT I, 1972) innerhalb von zehn Jahren zu einer ganzen Reihe wichtiger Maßnahmen auf diesem Gebiet führen sollte. Die Kubakrise hatte allen Beteiligten gezeigt, wie rasch und wie gefährlich lokale Krisen eskalieren konnten.

Gregor Schöllgen