Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs [Haager Landkriegsordnung], 18. Oktober 1907

Einleitung

Schon von der Antike bis ins späte 18. Jahrhundert hatte es namhafte Versuche gegeben, einheitliche Regeln für das Verhalten im Krieg zu formulieren. Namhafte Publizisten wie Franciscus de Victoria, Alberico Gentili, Hugo Grotius, Samuel Pufendorf, Emeric de Vattel, Cornelis van Bynkershoeck oder Jean-Jacques Rousseau hatten sich mit der Problematik beschäftigt und zum Teil umfangreiche Werke vorgelegt, in welchen sie ihre Vorschläge auf den Tisch legten, wie solche Regeln ausgestaltet sein sollten. Es existierten auch Einzelregelungen von Fürsten oder Staaten sowie zwischenstaatliche Abkommen, in welchen einzelne Aspekte des Umgangs im Krieg geregelt wurden. Konkreter wurde die Sache im Rahmen der einsetzenden Verrechtlichung der innerstaatlichen Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Akteuren. Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde in diesem Zusammenhang nämlich auch eine allgemeine Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen zum Thema. Einerseits ging es dabei um die Frage, wie der Friede zwischen den Staaten mit rechtlichen Mitteln, eventuell auch durch einen Bund der Staaten, gesichert werden könne, andererseits aber auch darum, inwiefern eine Begrenzung der Schrecken des Krieges durch das Mittel des Rechts möglich sei. Die beteiligten Personen konnten sich zwar nicht auf ein einheitliches Regelwerk einigen. Dennoch ist es wohl richtig, in diesem Zusammenhang mit Geoffrey Best von einem Konsens der späten Aufklärer zu sprechen.

Die Kriege der Französischen Revolution und Napoleons stellten diesen Konsens auf eine harte Probe und veränderten auch einige wesentliche Grundkonstanten des Krieges. Im Zeichen der Wehrpflicht kam es zu einer Mobilisierung von Teilen der Gesellschaft, die sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht zuletzt aufgrund ihres (fehlenden) Bildungshintergrundes noch nie mit der Problematik der Kriegführung geschweige denn von dessen rechtlicher Beschränkung auseinandergesetzt hatten. Nach dem Wiener Kongress wurde Kriegführung wieder zum alleinigen Privileg der regierenden Monarchen, so dass es vielleicht zutreffend ist, im Hinblick auf das Recht im Krieg davon zu sprechen, dass der oben erwähnte Konsens der Aufklärer in dieser Zeit von einem unausgesprochenen Konsens der Monarchen abgelöst wurde, der sich bis nach der Revolution von 1848zu halten vermochte. Der von Krimkrieg 1853-56 sowie der Italienisch-Österreichische Krieg von 1859 brachten die Frage des Rechts im Krieg spätestens wieder aufs Tapet. Die Schrift Un Souvenir de Solférino von Henry Dunant sowie der Abschluss der Genfer Konvention von 1864 bildeten den Übergang in eine Zeit, in welcher eine positiv-rechtliche Regelung des gegenseitigen Umgangs im Krieg zum zentralen Gegenstand der völkerrechtlichen Fachdiskussionen wurde. Eine zentrale Rolle spielten in diesem Zusammenhang der langjährige Präsident des IKRK, Gustave Moynier, der schweizerisch-badische Rechtsprofessor Johann-Caspar Bluntschli, der belgische Rechtsanwalt Gustave Rolin-Jaequemyns, der britische Völkerrechtler John Westlake sowie der russische Diplomat und Völkerrechtler Fjodor Fjodorowitsch Martens. Sie legten mit ihren Publikationen und ihren Beschlüssen im Rahmen des Institut de Droit International die Grundlage für den Inhalt der Haager Landkriegsordnung, wie sie schliesslich 1899 festgelegt und seit 1907 in leicht modifizierter Form bis heute ihre Gültigkeit hat.

Ein erster Anlauf zur Kodifizierung des Rechts im Krieg wurde schon 1874 an der Konferenz von Brüssel unternommen. Völkerrechtsexperten wurden dabei mit wenigen Ausnahmen (Bluntschli) nicht an den Arbeiten beteiligt und die Ratifizierung der aus der Konferenz hervorgegangenen Deklaration von Brüssel scheiterte schliesslich am Widerstand Grossbritanniens. Als der russische Aussenminister Murawjew im August 1898 seine Einladungen für eine internationale Friedenskonferenz aussprach, stand die Frage einer Kodifizierung des Ius in Bello vorerst nicht im Vordergrund. Nicht zuletzt da im russischen Aussenministerium ein Scheitern der Konferenz befürchtet wurde, überliessen der Minister und sein Stellvertreter die Organisation weitgehend Fjodor Fjodorowitsch Martens, der nicht zuletzt um die Erfolgschancen der Konferenz zu steigern, eine Wiederaufnahme der in Brüssel gescheiterten Kodifizierungsbemühungen vorschlug. An der 1899 schliesslich in Den Haag einberufenen Konferenz nahmen namhafte Juristen wie Heinrich Lammasch, Karl von Stengel, Louis Renault, Édouard Rolin-Jaequemyns, Philipp Zorn oder Tobias Asser die Ideen von 1874 unter Leitung von Martens wieder auf. Im Zentrum der Diskussion stand die Frage, in welchem Ausmass Zivilisten im Fall einer Invasion zu den Waffen greifen und sich gegen eine Besatzungsmacht wehren dürften. Dabei kam es zu grossen Diskussionen zwischen den Vertretern der grossen Staaten, welche eine möglichst restriktive Lösung wünschten und denjenigen der kleinen Staaten wie Belgien, der Schweiz oder Siam, die mit Blick auf ihre Militärorganisation eine Lösung anstrebten, die ihnen möglichst viel Freiraum bot. Der Umgang mit Kriegsgefangenen, die Rechte einer Besatzungsmacht sowie die Problematik der Internierung von Soldaten und Offizieren in neutralen Staaten waren weitere wichtige Aspekte, die schliesslich geregelt werden konnten. Letzterer Teil wurde in der Konvention von 1907 weggelassen, da die betreffenden Bestimmungen in die Haager Konvention über die Rechte und Pflichten neutraler Mächte übernommen wurde. Wo keine explizite Regel gefunden werden konnte, sollten Kombattante wie Zivilisten nicht einfach der Willkür der Kriegführenden ausgesetzt sein, sondern gemäss Martens'scher-Klausel "unter dem Schutz und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts [verbleiben], wie sie sich aus den festgelegten Gebräuchen, aus den Grundsätzen der Menschlichkeit und den Forderungen des öffentlichen Gewissens ergeben."1

Konkret bestimmt die in drei Teile gegliederte Haager Landkriegsordnung im ersten Abschnitt, wer genau als Kombattant anerkannt werden soll und wie diese behandelt werden sollen, falls sie in Kriegsgefangenschaft geraten oder verwundet werden. Als entscheidende Kriterien für den Kombattantenstatus wurde dabei 1899 festgelegt, dass eine klare Führung bestehen sollte, in welcher ein Vorgesetzter für Untergebene verantwortlich sei. Die Kämpfer sollten zudem ein aus der Distanz erkennbares Zeichen tragen, sie sollten ihre Waffen offen und sichtbar tragen und ihre Operationen gemäss den Regeln der bestehenden völkerrechtlichen Bestimmungen führen. Greife eine Bevölkerung spontan zu den Waffen, um ihr Land gegen eine Invasion zu verteidigen, so solle dieser ebenfalls der Kombattantenstatus gewährt werden, falls die bestehenden Regeln des Völkerrechts eingehalten würden. Die Bestimmung war bewusst relativ offen formuliert, um eine Zustimmung sowohl der Grossmächte wie der Kleinstaaten zu erreichen. Diese interpretierten die Bestimmungen je unterschiedlich. Während die Grossmächte primär auf die klare Erkennbarkeit von Kombattanten durch Uniformen Wert legten, sahen die kleinen Staaten damit ihr Recht bewahrt, dass alle Teile der Bevölkerung im Fall eines Angriffs zu den Waffen greifen dürften. Dies sollte 1914 sowohl in Belgien und Nordfrankreich als auch in Serbien fatale Folgen haben. Zivilisten wurden dort das Opfer von Militärs, die aufgrund von Fehleinschätzungen hinsichtlich der Wirkung von Distanzwaffen und aufgrund der fehlenden Sichtbarkeit des Feindes davon ausgingen, dass die Zivilbevölkerung in illegitimer Weise zu den Waffen gegriffen habe und dafür mit Gewalt bestraft werden müsse. Ebenfalls relativ allgemein gehalten waren die Bestimmungen betreffend der Kriegsgefangenen. Diese sollten menschlich behandelt werden und ihre Arbeitskraft durfte genutzt werden, dies allerdings nicht für Tätigkeiten, die im Zusammenhang mit militärischen Operationen standen. Die Ernährung sollte derjenigen der Truppen des Gewahrsamsstaates entsprechen und private Besitztümer durften den Soldaten und Offizieren nicht weggenommen werden. Im Unterschied zur Fassung von 1899 sah diejenige von 1907 dabei vor, dass Offiziere nicht für Arbeitseinsätze herangezogen werden dürften. Bezüglich der Behandlung von Verwundeten wurde einzig auf die Genfer Konvention verwiesen, in welcher die entsprechenden Verpflichtungen geregelt seien.

Der zweite Abschnitt regelt Fragen der konkreten Kampfführung. Dabei wurde einerseits der Grundsatz festgehalten, dass die kriegführenden Mächte nicht das Recht hätten, ihre Mittel unbegrenzt einzusetzen. Insbesondere der Einsatz von Gift oder vergifteten Waffen, das hinterhältige Töten von Kombattanten wie Nicht-Kombattanten, das Töten von sich ergebenden Personen, die Verweigerung der Unterbringung von Soldaten und Offizieren, der Einsatz von Waffen, die unnötiges Leid verursachen, die unnötige Zerstörung oder Beschlagnahme von zivilem Eigentum sowie das Zwingen von Personen zum Kampf gegen das eigene Land wurden explizit verboten. Gleiches galt für die Erstürmung oder Bombardierung von unverteidigten Orten - egal mit welchen Mitteln, so die Ergänzung von 1907 - sowie unter allen Umständen für das Plündern. Bei Belagerungen sollten zudem alle Massnahmen ergriffen werden, um religiöse Einrichtungen, Kulturgüter und Spitäler so weit als möglich vor Zerstörungen oder Beeinträchtigungen zu bewahren. Geregelt wurde auch konkret, wer als Spion zu betrachten sei, dass solche nicht ohne Gerichtsverfahren bestraft werden dürften und dass Parlamentäre unbedingt geschützt werden sollten, ausser sie würden ihre Position ausnutzen, um Verrat zu begehen. Konkret geregelt wurden auch das Vorgehen bei Kapitulationen und Waffenstillständen.

Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit dem Recht einer Besatzungsmacht und stellt zuerst einmal fest, dass sich eine Besatzung immer nur über dasjenige Territorium erstrecke, welches sich wirklich unter der Kontrolle der betreffenden Macht befinde und in welchem diese Kontrolle auch effektiv ausgeübt werde. Die Besatzungsmacht dürfe alle Massnahmen treffen, um die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten, die davon nicht betroffenen rechtlichen Bestimmungen des Landes müssten aber so weit als damit vereinbar in Kraft belassen werden. Die Beschlagnahme privaten Eigentums wurde ebenso verboten wie das Plündern oder der Versuch, die Einwohner zu einem Treueid auf die Besatzungsmacht zu verpflichten. Staatliches Eigentum dürfe mit Ausnahme von solchem, welches kulturellen oder religiösen Zwecken sowie der Wohltätigkeit diene, insoweit von der Besatzungsmacht genutzt werden wie dies die Behörden des besetzten Staates auch würden tun können. Abgaben, Zölle und Gebühren sollten möglichst nach Massgabe der im besetzten Land geltenden Bestimmungen erhoben werden und primär dazu dienen, die Verwaltung der Gebiete im gleichen Umfang sicherzustellen wie dies vor der Besetzung der Fall gewesen sei. Weitere Abgaben dürften nur erhoben werden, falls solche zur Deckung der Bedürfnisse des Heeres notwendig seien.

Die Konvention betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, welcher die eigentliche Haager Landkriegsordnung als Anhang beigefügt war, wurde am 29. Juli 1899 von 24 Staaten unterzeichnet und auch ratifiziert. 21 Staaten traten ihr bis zum Abschluss der revidierten Konvention bei. Diese wurde am 18. Oktober 1907 von 41 Staaten unterzeichnet, von 15 davon allerdings nie ratifiziert. 6 Staaten erklärten in den Jahren bis 1935 nachträglich ihren Beitritt zur Konvention, was insofern von Bedeutung war, als dass in Artikel 2 der Konvention festgehalten war, dass den Bestimmungen nur zwischen Vertragsstaaten Rechtskraft erwachse und dies auch nur dann, wenn in einem Krieg alle beteiligten Staaten Vertragsparteien dieser Haager Konvention seien. Dies führte während der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, aber auch in anderen Konflikten zu grossen Diskussionen über die Anwendbarkeit der Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung. Während unter Juristen meist deren Gültigkeit - und sei es nur als Ausdruck völkergewohnheitlichen Rechts - anerkannt wurde, äusserten sich die Vertreter von Politik und Militär in diesem Fall weniger eindeutig. Das Internationale Militärtribunal in Nürnberg bestätigte schliesslich in seinem Urteil von 1946 die Auffassung, wonach die Haager Landkriegsordnung Ausdruck des Völkergewohnheitsrechts sei und damit nicht einzig zwischen Vertragsparteien Gültigkeit habe. Dieser Auffassung schloss sich im gleichen Jahr die UN-Generalversammlung an und ebenso tat dies das Abkommen über den Internationalen Strafgerichtshof von 1998. Ein konkreter Bezug auf die Haager Landkriegsordnung ist darin allerdings nicht zu finden, dies nicht zuletzt weil wesentliche Teile davon durch die Genfer Konventionen betreffend der Kriegsgefangenen sowie über den Schutz der Zivilpersonen in Kriegszeiten unterdessen ergänzt wurden.

In der Forschung wurde die Haager Landkriegsordnung primär aus zwei Perspektiven betrachtet. Einerseits gibt es eine Vielzahl von juristischen Studien, die wie Handbücher des Völkerrechts vielfach normativen Charakter haben und die Haager Landkriegsordnung als Teil eines Prozesses der (gescheiterten) Verrechtlichung von Krieg verstehen. Historische Studien, die sich mit ihrem Umfeld beschäftigen, gibt es nur wenige. Unübertroffen sind in diesem Zusammenhang immer noch die älteren Studien von Jost Dülffer und Geoffrey Best, die heute durch diejenigen von Martti Koskeniemi und Vladimir Pustogarow ergänzt werden. Zur zweiten Friedenskonferenz und ihren Ergebnissen das zum hundertsten Jahrestag der Vertragsunterzeichnung im Jahre 2007 von Jost Dülffer herausgegebene Sonderheft der Zeitschrift Die Friedens-Warte von erheblicher Bedeutung.

Daniel Marc Segesser

1 Hans-Peter Gasser, Humanitäres Völkerrecht. Eine Einführung, Baden-Baden 2007, S. 38. [1 ]