Die Pariser Verträge, 23. Oktober 1954
Einführung
Die Verträge traten am 5. Mai 1955 in Kraft und markierten die erste große Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zehn Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht und der Übernahme der obersten Gewalt in Deutschland durch die vier alliierten Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkriegs war die Bundesrepublik Deutschland nunmehr anerkannter, gleichberechtigter Partner der westlichen Demokratien und in weiten Teilen der internationalen Staatengemeinschaft. Ihre politische und militärische Westbindung stellt seitdem die Grundlage der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland dar.
Zustande gekommen waren die Verträge, nachdem die französische Nationalversammlung am 30. August 1954 mehrheitlich gegen die Aufnahme der Ratifizierungsdebatte des Vertrags über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die als Rahmen für den deutschen Verteidigungsbeitrag dienen sollte, gestimmt hatte. Damit war zugleich der Deutschland-Vertrag vom 26. Mai 1952 praktisch hinfällig geworden, da die Regelung der Beziehungen der Bundesrepublik zu den drei Westmächten Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika sowie der deutsche Verteidigungsbeitrag innerhalb der EVG ein Eckpfeiler der Politik der Bindung der Bundesrepublik an den Westen darstellten.
Auf den Viermächte- und Neunmächte-Konferenzen vom 28. September bis 3. Oktober 1954 in London und vom 20. bis 23. Oktober 1954 in Paris suchten die Außenminister einen Ausweg aus der Krise. Bundeskanzler Adenauer lehnte das Angebot der Drei Mächte ab, den Deutschland-Vertrag von 1952, der weitgehende Beschränkungen der Souveränität enthielt, in Kraft zu setzen. Ein halbes Jahr zuvor hatte nämlich die Sowjetunion in einer einseitigen Erklärung vom 25. März 1954 mit der DDR "gleiche Beziehungen wie mit anderen souveränen Staaten" aufgenommen und ihr formal bescheinigt, "nach eigenem Ermessen über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten einschließlich der Fragen der Beziehungen zu Westdeutschland zu entscheiden".
Der Bundeskanzler rang den drei Westmächten das Zugeständnis ab, den Deutschland-Vertrag zu modifizieren und das Besatzungsstatut aufzuheben. Die Bundesrepublik Deutschland besaß demnach "die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten". Im Gegenzug zur Verzichtserklärung der Bundesregierung, die Einheit Deutschlands gewaltsam wiederherzustellen, verpflichteten sich die Drei Mächte vertraglich, die Bundesrepublik bei der friedlichen Erreichung dieses Ziel zu unterstützen. Zunächst blieben die alliierten Notstandsrechte bestehen, bis die Bundesrepublik eine deutsche Notstandsgesetzgebung verabschiedete. Diese kam allerdings erst 1968 zustande.
Voraussetzung für den deutschen Verteidigungsbeitrag war die Aufnahme der Bundesrepublik als volles gleichberechtigtes Mitglied in die nordatlantische Allianz. Fortan stand die Bundesrepublik unter dem kollektiven Sicherheitsschutz der NATO. Sämtliche aufzustellende deutsche Streitkräfte im Umfang von zwölf Divisionen wurden dem NATO-Oberkommando assigniert. Im Gegenzug zu Adenauers erneuter Verzichtserklärung auf die Herstellung von ABC-Waffen sagten die Bündnismächte zu, die Stationierung ausländischer Truppen in der Bundesrepublik nach dem NATO-Truppenstatut zu regeln. Damit wurde das Stationierungsrecht ausländischer Streitkräfte auf bundesdeutschem Gebiet den alliierten Vorbehaltsrechten entzogen und auf eine Vertragsgrundlage gestellt. Doch bis zur Ablösung des Truppenvertrags durch das NATO-Truppenstatut im Jahre 1963 behielten die Alliierten Rechte und Privilegien.
Die Kontrolle der deutschen Aufrüstung übernahm die Westeuropäische Union (WEU). Die neue Organisation, der künftig die Bundesrepublik und Italien angehörten, entstand durch Umwandlung des am 17. März 1948 unterzeichneten Vertrags über Zusammenarbeit in wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Angelegenheiten und zur kollektiven Selbstverteidigung (Brüsseler Pakt), der ursprünglich gegen eine erneute Aggression Deutschlands geschlossen worden war. Den Weg zur Vertragsunterzeichnung am 23. Oktober 1954 in Paris ebneten außerdem drei deutsch-französische Vereinbarungen: In dem Abkommen über das Saarstatut einigten sich die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich über die Abhaltung einer Volksabstimmung im Saarland. Darüber hinaus wurden zwei Abkommen über Wirtschafts- und Rüstungskooperation geschlossen.
In der Folgezeit behauptete jede Bundesregierung gleich welcher parteipolitischen Couleur, die Bundesrepublik Deutschland sei aufgrund der Pariser Verträge souverän. Damit war aber allenfalls ihre politische Souveränität gemeint. Denn ihre Souveränität unterlag unüberwindbaren Beschränkungen, solange Deutschland geteilt war und keine Friedensregelung mit allen Vier Mächten existierte. Jede Bundesregierung befand sich in dem Dilemma, einerseits ihren Grundgesetzauftrag zu erfüllen, die Einheit des deutschen Volkes herbeizuführen, aber deutschlandpolitische Rechtspositionen der Vier Mächte nicht in Frage stellen zu dürfen. Ansonsten wäre der Viermächte-Verantwortung sowie den Forderungen Bonns nach Gewährung des Selbstbestimmungsrechts für alle Deutschen nach Abschluß einer friedensvertraglichen Regelung die Grundlage entzogen worden.
Die alliierten Vorbehaltsrechte bildeten bis zur Wiedervereinigung 1990 eine wichtige völkerrechtliche Klammer für den Fortbestand Deutschlands als Ganzes. Washington, London und Paris waren sich stillschweigend darüber einig. Sie respektierten die Bundesrepublik trotz dieser Einschränkungen de facto als politisch gleichberechtigte Macht im westlichen Bündnis. De jure aber war die Bundesrepublik Deutschland zwischen 1955 und dem formellen Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrages am 15. März 1991 ein Staat mit beschränkter Souveränität.
Hanns Jürgen Küsters