Der Vertrag von Locarno, 16. Oktober 1925
Einführung
Die Konferenz von Locarno (5. bis 16. Oktober 1925) ging zurück auf die vertrauliche deutsche Sicherheitsinitiative gegenüber Großbritannien (20. Januar 1925) und Frankreich (9. Februar 1925). Der deutsche Vorstoß fand in einer Situation statt, als die Sicherheitsfrage unter Umständen ohne Deutschland geregelt zu werden drohte und die innen- und außenpolitisch wichtige Räumung der ersten Besatzungszone am Rhein wegen ungeklärter Details der deutschen Entwaffnung nicht fristgemäß zum 10. Januar 1925 erfolgte. Die deutsche Initiative enthielt Vorschläge für die Befriedigung französischer und belgischer Forderungen nach Sicherheit vor Deutschland, und zwar auf der Basis des Status quo der deutschen Westgrenze und der Entmilitarisierung des Rheinlands gemäß Art. 42 und 43 des Versailler Vertrags und unter Garantie aller "am Rhein interessierten Staaten". Zusätzlich sollten Schiedsverträge mit allen Nachbarn abgeschlossen werden. Dieses Angebot reagierte auf die seit längerem von der französischen Regierung erhobene Forderung nach Sicherung vor deutschen Aggressionen auch nach Osten, also zugunsten Polens und der Tschechoslowakei, der Verbündeten Frankreichs. Nach langen, auch innenpolitisch schwierigen Verhandlungen kam es zur Konferenz von Locarno und zum erfolgreichen Abschluß der Vorarbeiten durch die Paraphierung der Verträge.
An der Konferenz, die durch kleine, eine intensive Arbeit erlaubende Delegationen beschickt war, nahmen teil: die in erster Linie betroffenen Staaten Frankreich, Belgien und das Deutsche Reich, dazu die Garanten und Mitunterzeichner des sogenannten Rheinpakts, Großbritannien und Italien, und außerdem für ihren Vertragsbereich, die Schiedsverträge mit Deutschland, dessen östliche Nachbarn Polen und die Tschechoslowakei.
Das Vertragswerk beginnt mit dem von allen Vertragspartnern unterzeichneten Schlußprotokoll, in dem Motive und Erwartungen, aber auch ergänzende Erklärungen und das weitere Procedere, die feierliche endgültige Unterzeichnung der Verträge am 1. Dezember 1925 in London, festgehalten sind. Alle weiteren Verträge und Erklärungen sind Anlagen dieses Protokolls (Anlagen A-F).
Anlage A, der Rheinpakt, bildet das Kernstück des Systems von Locarno: Er regelt die Unverletzlichkeit der deutschen Westgrenze, die Bestätigung und Präzisierung der Entmilitarisierung des Rheinlandes gemäß Art. 42 und 43 des Versailler Vertrags, die friedliche Streitschlichtung unter Einbeziehung des Völkerbundsrates, das Vorgehen gegen etwaige Vertragsbrecher und die wechselseitige Garantie dieser Bestimmungen durch die Unterzeichner: Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien. Der Rheinpakt sollte in Kraft treten, sobald Deutschland Mitglied des Völkerbunds geworden war. Das geschah nach einigen Schwierigkeiten auf der Völkerbundsversammlung vom Herbst 1926. Die deutschen Ostgrenzen wurden nicht in die Garantie einbezogen; schon innenpolitisch wäre das für die Reichsregierung wegen des deutschen Revisionsanspruchs unannehmbar gewesen, und auch die britische Regierung weigerte sich, so weitgehende und unübersehbare Verpflichtungen einzugehen.
Anlagen B und C sind die in Art. 3 des Rheinpakts nach Zuständigkeit und Verfahren kurz skizzierten ergänzenden Schiedsabkommen des Deutschen Reiches mit Belgien und Frankreich. Anlagen D und E enthalten die entsprechenden Schiedsverträge mit Polen und der Tschechoslowakei (Verträge, nicht Abkommen, deswegen, weil es sich um selbständige Verträge und nicht um Zusatzabkommen zum Rheinpakt handelt). Damit hatte sich das deutsche Schiedsvertragssystem durchgesetzt. Die Texte der Anlagen B bis E sind weithin gleich, bis auf die Präambeln und den in den Anlagen D und E zusätzlich eingefügten Art. 21, dessen Inhalt für die Anlagen B und C schon in Art. 6 des Rheinpakts berücksichtigt ist.
Bei der Anlage F handelte es sich schließlich um eine von der deutschen Delegation verlangte Klarstellung über den Umfang der aus Art. 16 der Völkerbundssatzung erwachsenden Verpflichtungen. Die Antwort lautete: Die Verpflichtung zur Teilnahme an Sanktionen auch militärischer Art gegen einen Staat – nach Art. 17 kann es sich dabei auch um einen außerhalb des Völkerbunds stehenden Staat handeln –, der ein Bundesmitglied angreife, gelte für jeden "in einem Maße, das mit seiner militärischen Lage verträglich ist und das seiner geographischen Lage Rechnung trägt". Mit dieser Erklärung erreichte die Reichsregierung unter Hinweis auf die deutsche Entwaffnung gemäß dem Versailler Vertrag sowie auf die aus Deutschlands zentraler Lage sich ergebenden Gefahren die von ihr angestrebte Notifizierung einer differenzierenden Auslegung des Art. 16. Dahinter stand vor allem die Sicherung deutscher Entscheidungsfreiheit, falls der Völkerbund beschloß, gegen die Sowjetunion vorzugehen, und die Rücksichtnahme auf das durch Locarno sich deutlich verschlechternde Verhältnis zur Sowjetunion.
Verglichen mit der für Deutschland, aber auch für das europäische Staatensystem katastrophalen Situation im Herbst 1923, nach dem Sieg Frankreichs in einem ruinösen deutsch-französischen Machtkampf, ausgelöst durch die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebiets seit Januar 1923, bedeutete Locarno auch für die Zeitgenossen einen frappierenden, unerhört tiefgreifenden und vielleicht deswegen so prekären Wandel sowohl in der europäischen Politik als auch im dafür maßgebenden deutsch-französischen Verhältnis. Die Wurzeln dieser bedeutenden Demonstration der politischen Fähigkeit, zu neuen Formen der politischen und ökonomischen Zusammenarbeit in Europa zu gelangen, waren weit verzweigt und vielfältig. Das zeigen etwa die strukturellen Notwendigkeiten und Anreize zur Kooperation sich immer enger verflechtender Industrienationen oder die konsequenten britischen Bemühungen nach dem Ersten Weltkrieg, Sicherheit, Interessenausgleich und offene Märkte in Europa zu fördern. Dabei wurde London von den wirtschaftlichen Stabilisierungsbemühungen des europäischen Hauptgläubigers, den USA, unterstützt. Die wichtigsten Ursprünge lagen indes im sich ändernden deutsch-französischen Verhältnis, das angesichts des Machtpotentials und des Einflusses beider Länder entscheidend war für den Zustand Europas.
Seit der Pariser Friedenskonferenz forderte die französische Regierung Sicherheit vor Deutschland vornehmlich am Rhein. Frankreich vermochte aber nur die Entmilitarisierung und zeitweise Besetzung der Rheinlande durchzusetzen, nicht jedoch deren Abtrennung. Zum Ausgleich schlossen die USA und Großbritannien am 28. Juni 1919 Garantieverträge mit Frankreich ab, die jedoch hinfällig wurden, als die amerikanische Regierung weder den Versailler Vertrag noch den Garantievertrag ratifizierte. Seitdem bemühte sich die französische Regierung primär um Garantien durch die britische Regierung. Außerdem rückte frühzeitig eine Besetzung des Ruhrgebietes, des Zentrums deutscher Industriemacht, zum Zwecke der Gewährleistung von Reparationen und Kohlenlieferungen und zur direkten Kontrolle Deutschlands in den Vordergrund der Erwägungen. Ministerpräsident Raymond Poincaré entschloß sich, die Entscheidung gegen deutsche Renitenz und Zahlungsunwilligkeit in einer rechtlich nicht ganz überzeugenden Aktion und in Verschärfung der Bedingungen des Versailler Vertrags – einer Art Revision nach der anderen Seite – zu suchen und das Ruhrgebiet zusammen mit den Rheinlanden unter französische Kontrolle zu bringen. Damit wollte er nicht nur "produktive Pfänder" für die Reparationen erhalten, sondern vor allem das französische Sicherheitsbedürfnis befriedigen sowie einen Ressourcen- und Machttransfer zugunsten Frankreichs erwirken, um ein dauerhaftes Übergewicht über das Reich zu schaffen.
Diese gewaltige Veränderung in den Machtverhältnissen rief in Deutschland einen enormen Proteststurm nicht nur in der Politik, sondern in der gesamten Bevölkerung hervor. Er gipfelte im passiven Widerstand, allen voran der Arbeiterbewegung, der sich rund achteinhalb Monate durchhalten ließ, ehe der äußere Druck und die innere Zerrüttung unerträglich wurden. Die Sorge vor den Folgen, insbesondere einer französischen Hegemonie und eines französisch-deutschen Wirtschaftsblocks in Kontinentaleuropa bewogen jedoch Großbritannien und die USA, in den Konflikt einzugreifen. Sie setzten Sachverständigen-Komitees zur Prüfung der Wirtschaftslage und Reparationsfähigkeit Deutschlands durch, wobei sie auf die Mechanismen der Reparationskommission und des Versailler Vertrags zurückgriffen und das französische Prestige schonten. Das wichtigste Sachverständigen-Gutachten war unter amerikanischer Ägide der Dawes-Plan vom 9. April 1924, der eine neue, stärker ökonomisch ausgerichtete Ära der Reparationen eröffnete. Der Dawes-Plan ermöglichte die Räumung des Ruhrgebiets und eine bewußt unter europäischen Gesichtspunkten eingeleitete wirtschaftliche Stabilisierung, indem er der politischen Instrumentalisierung der Reparationsfrage enge Grenzen setzte.
Im Mai 1924 wurde Poincaré durch eine Mitte-Links-Regierung abgelöst. In Deutschland war seit August 1923 der im deutschen Interesse auf engere politische und wirtschaftliche Verflechtung drängende Gustav Stresemann zum maßgebenden Politiker aufgestiegen, während in Großbritannien die erste Labour-Regierung Friedenssicherung und Verständigung im Rahmen des Völkerbundes zu stärken suchte. Der Dawes-Plan ermöglichte konjunkturfördernde, den europäischen Markt stimulierende Kredite aus den USA. Der entscheidende Punkt blieb jedoch die Verknüpfung von Reparationen, Wirtschaft und Sicherheit. Der Dawes-Plan hatte die eine Seite des Problemkreises vorläufig geregelt. Offen blieb die Sicherheit und die Frage, wie die Hauptkontrahenten Frankreich und Deutschland sich die weitere Gestaltung ihrer Beziehungen vorstellten: in Konfrontation oder Verständigung.
Der Ruhrkampf war der Höhepunkt der Konfrontation, eine Erfahrung, die auf beiden Seiten eine neue Politik einleitete. Die Anfänge lagen früher. Schon 1921/22 vollzog Aristide Briand als Ministerpräsident in Anerkennung der Frankreich nicht sehr hilfreichen weltpolitischen Lage (Washingtoner Konferenz 1921/22) die Wende zur Verständigung. Den ersten Anlauf zur Kooperation initiierte Premierminister David Lloyd George in Absprache mit Briand und der deutschen Reichsregierung, die den Alliierten mit ihrer "Erfüllungspolitik" entgegenkam. Dieser letztlich gescheiterte Vorstoß zielte auf eine auch Sowjetrußland einbeziehende europäische Wirtschaftskonferenz. Briand wurde gestürzt, und die Genua-Konferenz (10. April bis 19. Mai 1922) mißlang – nicht zuletzt dank des Rapallo-Vertrags (16. April 1922). Erst während des Ruhrkampfes wurde im Auswärtigen Amt im April 1923 eine umfassende Konzeption entwickelt, die schon die Grundzüge der Locarno-Vereinbarungen enthielt, aber erst unter Stresemann zum Zuge kam, als nach dem Dawes-Abkommen vom August 1924 die Sicherheitsfrage wieder ins Zentrum der Politik rückte.
Einmal abgesehen von Mythen und Verklärungen, die schon der schöne Klang des Namens Locarno auslöst, stellt das Vertragswerk einen epochalen Einschnitt dar: Das galt schon für die Atmosphäre und die Arbeitsweise der Konferenz sowie das daraus resultierende persönliche Beziehungsgeflecht auf der höchsten Ebene europäischer Politik, wodurch Ansätze für einen gewissen Corpsgeist unter den europäischen Mächten entstanden. Dies bewirkte einen, wenn auch nur kurzlebigen, Wandel der internationalen Politik, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer kooperativen, Verflechtung fördernden Methoden als auch von ihrer systemischen Qualität her betrachtet, die Europa als ein bei allen Interessengegensätzen gemeinsam und als Ganzes in den Blick zu nehmendes Politikfeld behandelte. Locarno schuf die Möglichkeit für eine neue Ebene systemischer europäischer Politik durch ein erneuertes kooperatives Staatensystem und Europäisches Konzert auf der Basis des Rechts (explizit bezogen sich die Abkommen auf den Völkerbund sowie auf den Versailler Vertrag und den Dawes-Plan). Locarno wirkte somit zugleich als Instrument der Friedenssicherung (der deutsche Kriegsverzicht wurde durch verbindliche diplomatische Erklärung klargestellt) und der einvernehmlichen Behandlung europäischer Probleme, zu denen auch deutsche Forderungen nach bestimmten Revisionen des Versailler Vertrags zählten. Eine solche, dem Europäischen Konzert des 19. Jahrhunderts entsprechende Handhabung und Methodik europäischer Politik wurde erleichtert durch die regelmäßigen Begegnungen und Beratungen der Vertreter der führenden europäischen Mächte (bald die Locarno-Mächte genannt) im Rahmen der vierteljährlich stattfindenden Sitzungen des Völkerbundsrates.
Es kam nun darauf an, was man aus diesen Voraussetzungen machte. Sie wurden für einige Jahre genutzt und bestimmten die europäische Politik bis in den Sommer 1930 hinein. Dann zeichnete sich das Scheitern des, Locarno vertiefenden, Briandschen Europa-Plans vom 17. Mai 1930 ab. Neue innen- und außenpolitische Spannungen, vor allem in Deutschland, sowie die Weltwirtschaftskrise begannen die internationale Politik zu prägen.
Peter Krüger