Weisung Nr. 21 "Fall Barbarossa", 18. Dezember 1940

Einführung

Wie kam es 1940/41 zur verhängnisvollen Wendung der deutschen Kriegsmaschinerie nach Osten? Alle Forschungskontroversen über die komplexen Entscheidungsprozesse und polykratischen Strukturen des NS-Regimes oder gar über die Frage, ob GlossarAdolf Hitler nun ein "starker" oder "schwacher" Diktator gewesen sei, konnten bisher nicht an der Erkenntnis rütteln, daß der "Faktor Hitler" aus der deutschen Expansions- und Kriegspolitik nach 1933 nicht wegzudenken ist. Der charismatische Diktator selbst war der Motor eines hochgradig aggressiven und verbrecherischen Kurses, der zu Weltkrieg und Massenmord führte. Das wird nirgends deutlicher als bei der Vorbereitung des Feldzugs gegen die Sowjetunion, der mit Fug und Recht als "Hitlers eigentlicher Krieg" (Förster) und als "rassenideologischer Vernichtungskrieg" (Hillgruber) bezeichnet wird. Diese Begriffe deuten bereits an, daß die Entscheidung zum Ostkrieg nicht allein einer rationalen Erörterung der strategischen Gesamtlage entsprang, sondern das Kernstück eines seit langem bestehenden ideologischen Programms war.

Den Anlaß bot zweifellos die komplizierte militärstrategische Situation in der zweiten Jahreshälfte 1940, als Großbritannien trotz des überwältigenden deutschen Sieges in Frankreich an seinem hartnäckigen Widerstand festhielt. Doch das machtpolitische Kalkül, in einem "Blitzkrieg" gegen die Sowjetunion einen potentiellen "Festlanddegen" Londons auszuschalten, eine neue ökonomische Basis zu gewinnen und die kontinentale Vormacht zu sichern, um dann solchermaßen gestärkt entweder England zum Frieden zu zwingen oder den Kampf gegen die englisch-amerikanische Kombination zu bestehen, verband sich wie von selbst mit Hitlers zentralem Dogma, den "jüdischen Bolschewismus" zu vernichten und der deutschen "Herrenrasse" neuen "Lebensraum im Osten" zu erobern. Dieser alte Wunschtraum des Diktators – der Plan eines "Großgermanischen Reichs" bis zum Ural als Antwort auf die deprimierende Erfahrung des Ersten Weltkriegs, daß die deutschen Ressourcen nicht ausreichten, den Anspruch auf eine "Weltgeltung" durchzusetzen – war in den letzten Jahren aus taktischen Gründen zunächst zurückgestellt worden (GlossarHitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939), aber dennoch virulent geblieben. Jetzt schien die Kriegslage im Westen eine vorzeitige Wiederaufnahme und Umsetzung dieses Programms zu rechtfertigen, ja zu erfordern – und gab dem "Führer" außerdem rationale Argumente gegenüber den konservativen Eliten in Armee und Bürokratie in die Hand, auf deren Mitwirkung er immer noch angewiesen war.

Am 31. Juli 1940 eröffnete Hitler der militärischen Führung auf dem Obersalzberg seinen "bestimmten Entschluß, Rußland zu erledigen". Als möglichen Angriffstermin nannte er den Mai 1941 und gab den Planungen eine grobe Richtung, indem er die Notwendigkeit einer schnellen Operation "in einem Zug" betonte. Zu diesem Zeitpunkt hatte das GlossarOberkommando des Heeres (OKH) bereits eigenständige Überlegungen zu einem Offensivschlag gegen die Sowjetunion angestellt, der allerdings für GlossarBrauchitsch und GlossarHalder anders als für Hitler nur eine von mehreren Optionen zur Weiterführung des Krieges war. Immerhin zeichnete sich dadurch schon frühzeitig ab, daß die Heeresleitung sich ohne Widerspruch auf einen großen Krieg im Osten festlegen lassen würde. Der Feldzug gegen den – in der Perspektive der Zeit – alten bolschewistischen Feind von 1918/19 war in weiten Teilen der Wehrmachtselite durchaus populär.

Nach der Besprechung auf dem Obersalzberg kam Hitler freilich monatelang nicht näher auf sein ehrgeiziges Projekt zu sprechen, so daß die genaue Durchführung und der geplante Beginn des Angriffs lange in der Schwebe blieben. Auch die militärischen Stellen sahen sich zunächst nicht genötigt, die Vorbereitungen zu forcieren. Erst der ergebnislose Besuch des sowjetischen Außenministers GlossarMolotov in Berlin am 12./13. November 1940 brachte die "Lösung der Ostfrage" wieder in Bewegung. Hitler bemühte sich von da an verstärkt, seinen "bestimmten Entschluß", dem bisher kaum Taten gefolgt waren, in die Praxis umzusetzen. Die akute Sorge vor einem sowjetischen Überraschungsangriff schon im Jahr 1941, für den es bis heute keinerlei Beweise gibt, spielte dabei keine Rolle, so daß von einem Präventivkrieg nicht ernsthaft die Rede sein kann. Am 5. Dezember 1940 erkundigte sich Hitler bei der Heeresleitung nach dem Stand der operativen Planungen und befahl, die Vorbereitungen "voll in Gang [zu] setzen" – erneut mit dem Argument: "Die Entscheidung über die europäische Hegemonie fällt im Kampf gegen Rußland." Zwei Wochen später konnten dann die militärischen Vorüberlegungen in der Weisung Nr. 21 "Fall Barbarossa" gebündelt werden. Damit trat die Vorgeschichte des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion in ihre konkrete Phase.

An der Weisung Nr. 21 sind vor allem zwei Dinge bemerkenswert. Zum einen spiegelt sich in ihr die katastrophale und fahrlässige Fehleinschätzung der eigenen und mehr noch der sowjetischen Möglichkeiten, zum anderen ließ sie die letzte Entscheidung über das Unternehmen und seinen zeitlichen Beginn immer noch offen. Der zweite Punkt erwies sich letztlich als Schein, hatte aber immerhin die Folge, daß GlossarStalin, der von seinem Geheimdienst noch im Dezember 1940 über den Wortlaut der Weisung informiert wurde, sich von ihm täuschen ließ und weiterhin lediglich an ein Ablenkungsmanöver, eine Drohgebärde oder eine Planung für den Eventualfall glauben wollte.

Noch folgenreicher war freilich der erste Punkt. Das OKH um Generalstabschef Franz Halder verantwortete mehr noch als Hitler, der den Vorschlägen der Militärs weitgehend folgte, daß völlig einseitig auf die Karte eines siegreichen Blitzfeldzugs von einigen Wochen gesetzt wurde. Nach der Einkesselung und Vernichtung der Masse der Roten Armee an der sowjetischen Westgrenze sollte die Wehrmacht möglichst schnell Leningrad, die südlichen Industriegebiete und vor allem Moskau erobern, um dann das riesige Besatzungsgebiet an der Linie Wolga-Archangelsk zu sichern und von dort aus die Industrie am Ural durch Luftangriffe auszuschalten. Die deutsche politische und militärische Führung war so sehr von den Erfolgsaussichten dieses größenwahnsinnigen Operationsplans überzeugt, daß zur selben Zeit die Umstellung der Rüstung auf den See- und Luftkrieg gegen England und eventuell Amerika in die Wege geleitet wurde.

Die Ursachen für die leichtfertige Annahme, die Sowjetunion würde bei einem konzentrierten Militärschlag schnell zusammenbrechen, lagen in der traditionellen Unterschätzung der russischen bzw. sowjetischen Militärmacht, die durch die Niederlagen der Roten Armee gegen Finnland 1939/40 neue Nahrung erhalten hatte, sowie in der deutschen Selbstüberschätzung nach dem schnellen Sieg über Frankreich. Selbst der bis dahin eher zurückhaltende Generalstab verstieg sich jetzt zu "kühnen" Operationsplänen, ohne die materiellen Voraussetzungen nüchtern zu prüfen, und verzichtete in verantwortungsloser Weise auf die Ausarbeitung eines Alternativplans, falls der Widerstand der sowjetischen Truppen doch stärker sein sollte als erwartet. Außerdem versäumte das OKH die Frage zu klären, ob der Schwerpunkt – nach den Vorstellungen Hitlers – zunächst auf den Flügeln (Leningrad, Ukraine) liegen sollte oder von vornherein in der Mitte (Moskau), wie es Halder vorschwebte. Auch dieser Gegensatz, der schließlich nach den – wider Erwarten nicht feldzugsentscheidenden – Grenzschlachten voll zum Ausbruch kommen sollte, fand bereits in der Weisung Nr. 21 seinen Niederschlag.

Nicht zum Ausdruck kamen in diesem Dokument dagegen die verbrecherischen politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Ziele, die Hitler und seine willigen Helfer aus Wehrmacht, Bürokratie, Polizei und Wirtschaft im "Ostraum" verfolgten. Die konkreten Pläne zur Vernichtung des "jüdischen Bolschewismus" und seiner militärischen und zivilen Organe, zur Unterdrückung und Dezimierung der slawischen Bevölkerung sowie zur räuberischen Ausbeutung der besetzten sowjetischen Gebiete erstens für das Ostheer, zweitens für das Deutsche Reich und drittens für den gesamten deutsch beherrschten Kontinent wurden erst nach der Weisung Nr. 21 ausgearbeitet und in Befehle umgesetzt. Unter ihnen haben besonders der Glossar"Kriegsgerichtsbarkeitserlaß" und der Glossar"Kommissarbefehl" als "verbrecherische Befehle" traurige Berühmtheit erlangt. Wie bei der operativen Planung leisteten die Wehrmachts- und Heeresführung auch bei der Vorbereitung des "rassenideologischen Vernichtungskriegs" allzu bereitwillige Handlangerdienste. Dadurch und durch das entsprechende Verhalten auf dem Kriegsschauplatz nach dem Angriffstag am 22. Juni 1941 wurde die moralische Integrität der deutschen Armee endgültig verspielt.

Der operative Blitzkrieg, der in Hitlers Weisung Nr. 21 formuliert wurde, scheiterte bereits im Juli/August 1941, doch der totale Krieg der Ideologien wütete noch vier quälend lange Jahre, besiegelte das Schicksal der europäischen Juden und schlug schließlich mit aller Gewalt auf Deutschland zurück. Auch das war eine Konsequenz von Hitlers Entschluß zum völkerrechtswidrigen Angriff auf den Vertragspartner Sowjetunion und der Bereitschaft der traditionellen Eliten, dem Diktator auf diesem Weg zu folgen.

Johannes Hürter