Dokumente zur künftigen politischen Entwicklung Deutschlands ["Frankfurter Dokumente"], 1. Juli 1948

Einführung

In dem von den vier Hauptsiegermächten besetzten "Potsdam-Deutschland" zeichnete sich bereits seit dem Frühjahr 1946 ab, daß die Siegerkoalition auseinanderbrechen würde. Nach dem Scheitern einer Einigung über die Deutschlandpolitik mit der UdSSR auf der Pariser Außenministerkonferenz im Juni/Juli 1946 kündigten die USA und Großbritannien einen wirtschaftlichen Zusammenschluß ihrer Zonen zur "Bizone" zum 1. Januar 1947 an. US-Außenminister GlossarJames F. Byrnes erläuterte am 6. September 1946 in Stuttgart deutschen Repräsentanten die Kursänderung: Sie sah zwar keine Abtrennung des Rhein-Ruhrgebiets, aber eine Saar-Lösung im französischen Sinne sowie die Revisionsmöglichkeit für die Oder-Neiße-Linie vor.

Zum Durchbruch gelangte die neue Deutschlandpolitik der USA im Zeichen der "Containment"-Konzeption im ersten Halbjahr 1947. Sie bedeutete einen Verzicht auf weitere Kompromiß-Bemühungen mit der UdSSR unter Hinnahme der vorläufigen Spaltung Deutschlands, die sich nach der ergebnislos verlaufenen Moskauer Außenministerkonferenz vom März/April 1947 verstärkte. Das von der amerikanischen Regierung am 5. Juni 1947 verkündete Westeuropäische Wiederaufbauprogramm, das auch Deutschland zugute kommen sollte, wurde von der Sowjetunion für den gesamten Ostblock abgelehnt. Den damit erfolgten Bruch bestätigte die Londoner Außenministerkonferenz der vier Hauptsiegermächte vom November/Dezember 1947. Die amerikanischen und britischen Militärgouverneure erweiterten Zug um Zug die Befugnisse der Zweizonen-Wirtschaftsverwaltung in Frankfurt am Main. Sie fungierte schließlich wie die Regierung eines westdeutschen Kernstaats, deren Wirkungskreis allerdings auf die Wirtschaftspolitik beschränkt blieb.

Mit dem kommunistischen Umsturz in der Tschechoslowakei am 25. Februar 1948 erreichte der Kalte Krieg seinen vorläufigen Höhepunkt. Im Westen wuchs die Bereitschaft zur Abwehr. Am 17. März schlossen sich Frankreich, Großbritannien und die Benelux-Staaten in Brüssel zu einer Militärallianz ("Westunion") zusammen, die im April des folgenden Jahres in die Gründung der GlossarNATO mündete. Im April 1948 bildeten 16 europäische Staaten die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), um ihre Kredit- und Wirtschaftspolitik im Rahmen des "Marshall-Plans" zu koordinieren. Die drei Westzonen, vertreten durch ihre Militärgouverneure, wurden Mitglied der OEEC.

Damit waren die internationalen Rahmenbedingungen geschaffen, um Westdeutschland auch staatlich verselbständigen zu können. Der nächste Schritt in diese Richtung erwies sich jedoch - trotz der fortgeschrittenen globalen Polarisierung - als schwierig. Darum mühten sich ab Ende Februar in London Regierungsvertreter der drei Westmächte und, in der letzen Sitzungsperiode, der Benelux-Staaten. Dabei akzeptierte die britische Regierung eine Mitkontrolle Frankreichs an der Ruhrindustrie im Rahmen einer internationalen Kontrollbehörde. Das neue Staatsgebilde sollte auch weiterhin einer, allerdings gemilderten, Besatzungsherrschaft unterworfen bleiben und seine künftige Verfassung bestimmte Vorgaben der Westmächte enthalten.

Während der Londoner Konferenz war eine weitere Entscheidung gefallen, die eine staatliche Organisation der Westzonen dringlich machte, andererseits aber auch erleichterte. Der sowjetische Militärgouverneur, GlossarVasilij Sokolovskij, hatte die Gründung des Brüsseler Paktes und die Weigerung der Westmächte, Moskau über alle Beschlüsse der Sechsmächte-Konferenz zu informieren, zum Anlaß genommen, am 20. März 1948 aus dem Alliierten Kontrollrat in Berlin auszuziehen und damit die Viermächte-Verwaltung des "Potsdam-Deutschlands" symbolisch beendet.

Das Ergebnis der Sechsmächte-Konferenz fand seinen Niederschlag in den "Londoner Empfehlungen" vom 7. Juni 1948. Sie enthielten das Angebot zur Errichtung eines westdeutschen Bundesstaats und Grundsätze für dessen Verfassung. Die entsprechenden Dokumente übergaben die drei Militärgouverneure GlossarLucius D. Clay (USA), GlossarPierre Koenig (Frankreich) und GlossarBrian H. Robertson (Großbritannien) am 1. Juli 1948 in Frankfurt, im Hauptquartier des amerikanischen Vertreters, den Ministerpräsidenten der elf Länder der drei Westzonen (eingeschlossen der Erste Bürgermeister von Hamburg und der Senatspräsident von Bremen).

In den "Frankfurter Dokumenten" wurden die Regierungschefs (Dokument I) ermächtigt, bis zum 1. September eine aufgrund von Wahlen der elf Landtage zustande gekommene Verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Sie sollte eine demokratische Verfassung mit Grundrechten und einer "angemessenen Zentralgewalt" ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine "Regierungsform des föderalistischen Typs" schaffe und am besten geeignet sei, "die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wiederherzustellen". Das Angebot war mit der Aufforderung verbunden (Dokument II), Vorschläge für eine etwaige Änderung der Ländergrenzen innerhalb der Westzonen vorzulegen, und enthielt schließlich (Dokument 3) Grundzüge eines künftigen Besatzungsstatuts. Die "Frankfurter Dokumente" bildeten die Geburtsurkunden der Bundesrepublik Deutschland.

Ihre Übergabe erfolgte wenige Tage, nachdem eine seit langem erwartete GlossarWährungsreform am 20./21. Juni 1948 in den drei Westzonen die Voraussetzungen für die wirtschaftliche Konsolidierung und einen sinnvollen Einsatz der Mittel aus dem Europäischen Wiederaufbauprogramm geschaffen hatte. Zeitgleich mit der Währungsreform schuf der Direktor der Frankfurter Wirtschaftsverwaltung, GlossarLudwig Erhard, in der Bizone durch Aufhebung bzw. Lockerung der Zwangsbewirtschaftung eine weitere Voraussetzung für eine wirtschaftspolitische Gesundung. Die rasch sichtbaren Erfolge der Sozialen Marktwirtschaft kamen der Koalition von GlossarCDU, GlossarCSU, GlossarFDP und GlossarDP zugute, die sie im Frankfurter Parlament (Wirtschaftsrat) und in dessen Exekutivspitze (Verwaltungsrat) vertrat, kontrolliert von einer Ländervertretung (Länderrat).

Die Sowjetunion beantwortete die Währungsreform in den Westzonen am 23. Juni 1948 mit einer eigenen Währungsreform in ihrer Zone sowie in Berlin, das sie damit als Teil "ihrer" Zone in Anspruch nahm. Daraufhin bezogen die Westmächte auch die von ihnen kontrollierten Westsektoren Berlins in die Währungsreform ein, so daß in der Stadt bis März 1949 beide Währungen nebeneinander galten.

Die zweite Antwort Moskaus bestand in einer Blockade der Zugangswege zu den Westsektoren. Auf diese Provokation reagierten die USA und Großbritannien mit einer riskanten militärischen Aktion. Mit Hilfe einer Luftbrücke gelang ihnen die Versorgung ihrer (und der französischen) dort stationierten Truppen sowie die der 2,2 Millionen West-Berliner, selbst im Winter 1948/49. Durch diesen Erfolg wuchsen Prestige und Selbstvertrauen der USA, aber auch die Zustimmung der Deutschen zu einer Westorientierung. Daß die Blockade Berlins nicht zu einer militärischen Konfrontation führte, verhinderte das amerikanische Kernwaffenmonopol.

Damit aber standen die Beratungen der westdeutschen Ministerpräsidenten über das Angebot einer Teilstaatsgründung, die noch am 1. Juli 1948 begannen, im Schatten der sowjetischen Bedrohung Berlins, gleichzeitig aber auch unter dem Druck einer nationalen Propagandaoffensive der SED im Zuge einer "Volkskongreß-Bewegung" für eine (gesamt)deutsche Republik. Die elf Regierungschefs, von denen fünf der GlossarSPD, vier der CDU und je einer der CSU und der FDP angehörten, trugen somit auch Mitverantwortung für das Schicksal der ehemaligen Reichshauptstadt. Sie kannten die historisch-politische Tragweite des ihnen abverlangten Votums, das auf die Mitwirkung an einer Vertiefung der deutschen Teilung hinauslief.

Infolgedessen gelang ihnen erst nach dreiwöchigen nahezu pausenlosen Verhandlungen untereinander – auf dem Rittersturz bei Koblenz, in Niederwald bei Rüdesheim und in Frankfurt – und mit den drei Militärgouverneuren am 26. Juli 1948 in Frankfurt eine Verständigung über die "Organisation der drei Zonen auf der Basis des Londoner Übereinkommens" (so das Kommuniqué). Die Ministerpräsidenten erreichten dabei wesentliche Zugeständnisse der Militärgouverneure. So gelang es ihnen, Delegierte für einen Glossar"Parlamentarischen Rat" – und nicht für die vorgesehene "Verfassunggebende Versammlung" – wählen lassen zu können. Dieser Rat sollte dann – ein weiteres Symbol, um das Provisorium zu unterstreichen – auch keine "Verfassung", sondern ein Glossar"Grundgesetz" (umschrieben als "vorläufige Konstitution") eines föderativ gegliederten Staates ausarbeiten. Und schließlich sollte dieses "Grundgesetz" nicht – wie die Alliierten zunächst ebenfalls gefordert hatten – durch ein Plebiszit, sondern durch eine Mehrheit der elf Landtage bestätigt werden. Eine Volksabstimmung galt angesichts befürchteter kommunistischer "Einheitspropaganda" und eines dadurch emotional aufgeladenen Wahlkampfs als politisch bedenklich.

Die Regierungschefs, die sich mit den Führungsspitzen ihrer jeweiligen Parteien abstimmten, waren in ihrer Entscheidung zugunsten einer Kooperation mit den Westmächten am 21. Juli 1948 in Niederwald vom Berliner Oberbürgermeister GlossarErnst Reuter (SPD) nachdrücklich bestärkt worden. Danach hätte eine Ablehnung des Angebots, die sich zunächst abzuzeichnen schien, einen demokratischen "Kernstaat" (mit Provisoriumsvorbehalt) errichten zu können, den Fortbestand der Besatzungsherrschaft ("Kolonialregime") und möglicherweise eine Preisgabe Berlins zur Folge gehabt, und das, ohne dadurch die Aussicht zu verbessern, von den Sowjets die Zustimmung zu einem liberal-demokratischen, also nicht "volksdemokratisch" bestimmten Deutschland zu erreichen.

Nach einer Umfrage der amerikanisch kontrollierten "Neuen Zeitung" (München) vom 21. August 1948 zogen 95 Prozent der "Eingeborenen von Trizonesien" – wie sie in einem zeitgenössischen Karnevalsschlager hießen – einen westlichen Teilstaat einem kommunistisch beherrschten Gesamtdeutschland vor. Ein mit Westeuropa verbundener, freiheitlich ausgestalteter und wirtschaftlich prosperierender Teilstaat, in dem mehr als drei Viertel aller Deutschen lebten, galt, im Sinne des Provisoriumsvorbehalts, als alternativlose Übergangslösung. Dabei wurde es als selbstverständlich erwartet, daß sich ihm die Bevölkerung der Sowjetzone anschließen werde ("Magnetwirkung"), sobald sie von deren Besatzungsmacht die Möglichkeit erhielt, ihr politisches Selbstbestimmungsrecht auszuüben.

Im Auftrag der Ministerpräsidenten erarbeitete vom 10. bis 23 August 1948 ein Ausschuß von Sachverständigen ("Verfassungskonvent") auf Herrenchiemsee einen Verfassungsentwurf, der bereits wesentliche Züge des späteren Grundgesetzes enthielt. Der von den elf Landtagen gewählte Parlamentarische Rat aus 65 Mitgliedern begann seine Arbeit am 1. September 1948 in Bonn, das von einer Mehrheit der Regierungschefs als Tagungsort bestimmt worden war. Die Beratungen vollzogen sich im Schatten der sowjetischen Blockade der Westsektoren Berlins, die erst am 12. Mai 1949 endete. Sie führten am 23. Mai 1949 zur Annahme des Grundgesetzes für die neugeschaffene Bundesrepublik Deutschland.

Rudolf Morsey