Interview des Ministerialdirektors, Professor Dr. Wilhelm G. Grewe mit dem Chefredakteur des Nordwestdeutschen Rundfunk, Hans Wendt ["Hallstein-Doktrin"], 11. Dezember 1955

Einführung

Seit ihrer Gründung 1949 leitete die Bundesrepublik Deutschland aus der Präambel des GlossarGrundgesetzes das Ziel der Wiederherstellung der deutschen Einheit ab. Aus dem Gedanken der Verantwortung für die in der sowjetischen Besatzungszone und in deutschen Ostgebieten lebenden Menschen, eben "auch für jene Deutschen gehandelt" zu haben, "denen mitzuwirken versagt" geblieben war, erhob die Bundesregierung den Anspruch, "bis zur Erreichung der deutschen Einheit insgesamt die alleinige legitimierte staatliche Organisation des deutschen Volkes" (GlossarAdenauer am 21. Oktober 1949 vor dem Deutschen Bundestag) und damit eigentlicher Kernstaat des wiedervereinigten Deutschlands und Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches zu sein. Zugleich fühlte sie sich beauftragt, dafür zu sorgen, daß "das gesamte deutsche Volk, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands" vollendet. Angesichts ihrer mangelnden demokratischen Legitimität sprach die Bundesregierung, die selbst aus freien Wahlen hervorgegangen war, der DDR das Recht ab, verbindlich für das deutsche Volk Stellung zu nehmen. Dieser Alleinvertretungsanspruch und das Bestreben, die DDR international zu isolieren, waren grundlegende Pfeiler der Deutschlandpolitik der Bundesregierung bis zum Inkrafttreten der GlossarPariser Verträge im Mai 1955.

Schon im Laufe des Jahres 1954, lange bevor die sowjetische Führung Bundeskanzler Adenauer am 7. Juni 1955 zu Gesprächen nach Moskau einlud, stellte das Auswärtige Amt Überlegungen an, wie man bei Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion die Präsenz von Botschaften der DDR und der Bundesrepublik Deutschland in Moskau international rechtfertigen solle. Bestrebungen sowohl westlicher Staaten wie auch blockfreier Staaten, handelspolitische oder diplomatische Beziehungen mit der DDR aufzunehmen, implizierten aus Sicht der Bundesregierung die Gefahr einer sukzessiven weltweiten völkerrechtlichen Anerkennung der DDR und damit die Verfestigung der Teilung Deutschlands.

Die von Bundeskanzler Adenauer bei seinem Besuch in Moskau vom 9. bis 14. September 1955 mit der Sowjetunion vereinbarte Aufnahme diplomatischer Beziehungen machte eine Stellungnahme der Bundesregierung erforderlich. Sie mußte erklären, warum sie in Moskau einen zweiten deutschen Botschafter akzeptieren würde, anderen Staaten aber das Recht, gleichzeitig diplomatische Beziehungen zu beiden deutschen Staaten zu unterhalten, unter Androhung von Sanktionen praktisch verbieten wollte. Dadurch hoffte sie, die DDR weiterhin international isolieren und die Vertiefung der Spaltung Deutschlands verhindern zu können.

In seiner Regierungserklärung am 22. September 1955 über die Ergebnisse der Moskau-Reise betonte Bundeskanzler Adenauer daher: "Auch dritten Staaten gegenüber halten wir unseren bisherigen Standpunkt bezüglich der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik aufrecht. Ich muß unzweideutig feststellen, daß die Bundesregierung auch künftig die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR durch dritte Staaten, mit denen sie offizielle Beziehungen unterhält, als einen unfreundlichen Akt ansehen würde."

Dieser Grundsatz bedurfte der weiteren Ausführung, als die von den Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen im Juli 1955 in Genf einberufene Außenministerkonferenz, die im November 1955 ebenfalls in Genf zusammentrat, keine greifbaren Ergebnisse zur Lösung der deutschen Frage erbrachte. Auf der Botschafterkonferenz am 8. Dezember 1955 in Bonn wurde die Glossar"Hallstein-Doktrin" diskutiert. Anschließend erläuterte Ministerialdirektor GlossarGrewe am 11. Dezember 1955 die Grundsätze in einem Interview mit dem Nordwestdeutschen Rundfunk. Er wies darauf hin, daß die Bundesregierung eine Intensivierung der Beziehungen dritter Staaten zur DDR als "unfreundliche Handlung" empfinden werde, auf die man mit gestuften Maßnahmen bis hin zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen reagieren könne. Eine Doppelvertretung Deutschlands bei dritten Staaten werde voraussichtlich den Abbruch der Beziehungen zur Folge haben. Damit ließ die Bundesregierung bewußt Mittel und Umfang ihrer Reaktion offen. Eine Ausnahme bildeten die beiden deutschen Botschaften in Moskau. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion als ehemalige Besatzungsmacht und eine der Vier Mächte rechtfertigte die Bundesregierung mit dem Argument, diese könnten ein Mittel zur Überwindung der Spaltung und zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands sein.

Anwendung fand die "Hallstein-Doktrin", als das kommunistisch orientierte, aber blockfreie Jugoslawien 1957 und Kuba unter Führung GlossarFidel Castros 1963 diplomatische Beziehungen zur DDR aufnahmen. Die Bundesrepublik Deutschland brach danach jeweils die diplomatischen Beziehungen zu diesen Staaten ab. Eine umgekehrte Reaktion erfuhr die Bundesregierung im Jahre 1965, nachdem sie diplomatische Beziehungen mit Israel aufgenommen hatte und daraufhin eine Reihe arabischer Staaten den Abbruch ihrer Beziehungen zur Bundesrepublik verkündeten, jedoch nicht alle anschließend die DDR völkerrechtlich anerkannten. Infolge der allmählichen Anbahnung von Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten in den 1960er Jahren stellte die Bundesregierung die Anwendung der "Hallstein-Doktrin" zusehends selbst in Frage. Mit der De-facto-Anerkennung der DDR durch Bundeskanzler GlossarBrandt im Oktober 1969 und der Aufnahme direkter Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zur vertraglichen Regelung der Beziehungen, die 1972 zum GlossarGrundlagenvertrag führten, wurde die "Hallstein-Doktrin" praktisch aufgegeben.

Hanns Jürgen Küsters