Kurt Georg Kiesinger, Regierungserklärung der Großen Koalition, 13. Dezember 1966

Einleitung

Die Große Koalition 1966 kam – anders als die zweite 2005 – als Notgemeinschaft zur Überwindung einer Wirtschafts- und Regierungskrise zustande, die zum Sturz der christlich-liberalen Koalition unter Ludwig Erhard geführt hatte. Tiefere Ursache von Erhards Scheitern waren die andauernden innerparteilichen Konflikte, die seit dem Beginn der Nachfolgediskussionen um Adenauer in den späten 1950er Jahren die CDU/CSU nicht zur Ruhe hatten kommen lassen. Auf die personelle und inhaltliche Erschöpfung der CDU/CSU spielte Kiesinger in seiner Regierungserklärung an, als er von der „lange schwelenden Krise" sprach, die der Regierungsbildung der Großen Koalition vorausgegangen sei. Indes war der CDU/CSU dank Großer Koalition der Sprung ans rettende Ufer fortdauernder Regierungsverantwortung geglückt, ohne die man den Bundestagswahlkampf 1969 nicht glaubte erfolgreich bestehen zu können.

Die zeitgenössische Bedeutung von Kiesingers erster Regierungserklärung lag in ihrem verbindlichen Charakter als Regierungsprogramm. Wie die unmittelbare Vorgängerin und auch das nachfolgende SPD/FDP-Kabinett unter Brandt und Scheel, jedoch im scharfen Kontrast zur Großen Koalition von 2005 wie auch aller anderen Bundesregierungen nach 1980, verzichtete die erste Große Koalition auf einen förmlichen Koalitionsvertrag. Auch wurde Kiesingers Rede nur vom Kabinett – nicht von den Fraktionen und Parteien – förmlich genehmigt. Andererseits ging Kiesingers Rede vor allem in ihren wirtschaftspolitischen Aspekten auf ein sogenanntes Acht-Punkte-Papier der SPD zurück, das die Basis der Koalitionsverhandlungen gebildet hatte und das Kiesingers Rede auch in der Außen- und Deutschlandpolitik inhaltlich vorprägte. In Stil und Wortwahl indes trägt die Rede klar die Handschrift des Kanzlers.

Kiesingers Regierungserklärung – die kürzeste aller "großen Regierungserklärungen" der Bundesrepublik – stellte einleitend die begrenzte Dauer der Koalition nur bis "zum Ende der Legislaturperiode" heraus. Kiesinger begründete das "Elefantenbündnis" der beiden großen Blöcke mit übergreifenden ordnungspolitischen Aufgaben, vor allem jedoch mit der Sorge um die Stabilisierung des Bundeshaushalts. Daher stand die Rede auch ganz im Zeichen der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Dieser waren etwa zwei Drittel der Rede gewidmet, das dritte Drittel ging auf die Außenpolitik ein. Bei einer Reihe von "neuralgischen Punkten" beließ es Kiesinger bei Andeutungen, z.B. bei der Problematik einer Wahlrechtsreform oder der Frage nach einer deutschen Unterschrift unter den Nichtverbreitungsvertrag für Kernwaffen. Die 1967/68 als politischer Stein des Anstoßes für die außerparlamentarische Opposition eine so zentrale Rolle spielenden Notstandsgesetze blieben in der Regierungserklärung unerwähnt.

Die wirtschafts- und finanzpolitischen Passagen, so Hans Günter Hockerts, waren doppelgesichtig. Kiesinger nahm einerseits die Austeritätsappelle seines Vorgängers Erhard auf, mahnte Politik und Gesellschaft, den Gürtel enger zu schnallen: "Niemand, am wenigsten den scheinbar Begünstigten, würde eine wirklichkeitsfremde Politik nützen, der die Finanzgrundlage fehlt oder die nur zu Lasten anderer für unser Volk lebenswichtiger Zukunftsaufgaben finanziert werden könnte." Doch dann wechselte er die Gangart, schaltete auf kühn vorausschauende Modernisierungspolitik um: "Wir können nicht einfach mit der Holzaxt das Gestrüpp der für die Zukunft angelegten öffentlichen Aufgaben planlos zu lichten versuchen. Im Gegenteil, diese Bereinigung soll uns instand setzen, künftige Haushalte als Instrumente einer klaren, vorausschauenden Gesamtpolitik zu benützen, die Wichtigstes von Wichtigem und Wichtiges von nur Wünschenswertem unterscheidet. Ein Haushalt darf nicht nur ein Flickenteppich von Interessen- und Ressortkompromissen sein, er muß vielmehr das Spiegelbild eines politischen Gesamtprogramms darstellen."

Der Begriff des "Gesamtprogramms" – mit dem Kiesinger an entsprechende Visionen seiner Zeit als Ministerpräsident von Baden-Württemberg anknüpfen konnte – griff den liberalen Reformkonsens auf, welcher die politische Sprache des Westens in den 1960er Jahren wahrhaft imprägnierte. Es war die Zeit der "großen Designs" von Kennedy und Johnson, als sich selbst konservative Politiker dem Planungsgedanken nicht mehr entzogen. Wirtschaft und Gesellschaft wurden für global steuerbar gehalten. Nicht nur die SPD sah sich als Partei der liberalen "Reform von oben" (nachdem sie in Godesberg ihre marxistische Vergangenheit endgültig abgestreift hatte), auch in der CDU/CSU drängten liberale Reformer nach vorn. In diesem Sinne markiert die Große Koalition den Höhepunkt des liberalen Konsenses in der Bundesrepublik, bevor dieser mit den Erschütterungen um "1968" und den weltwirtschaftlichen Krisen der 1970er Jahre erodierte.

Außenpolitisch brach Kiesingers Regierungserklärung mit der Tradition, weil sie nicht mit den Verbündeten und der NATO begann, auch nicht mit der "deutschen Frage", d.h. der staatlichen Teilung Deutschlands, sondern eine europäische Friedensordnung als Grundlage deutscher Außenpolitik skizzierte: "Darum ist der Wille zum Frieden und zur Verständigung der Völker das erste Wort und das Grundanliegen der Außenpolitik dieser Regierung." Gegenüber der Sowjetunion kündigte Kiesinger eine Politik der Kooperation an. Er erneuerte Erhards Angebot eines Gewaltverzichts und sprach erstmals indirekt auch die DDR-Regierung an, indem er "das ungelöste Problem der deutschen Teilung in dieses Angebot einzubeziehen" in Aussicht stellte. Auch eine Verständigung mit Polen und der Tschechoslowakei schrieb sich Kiesinger auf die Fahnen. Deutlich wird Kiesinger Bemühen, den das Unionslager spaltenden Streit zwischen Atlantikern und Gaullisten zu beenden, indem er diesen Konflikt zur Scheinoption erklärte. ("Wir weigern uns, uns eine falsche und gefährliche Alternative der Wahl aufreden zu lassen.")

Obwohl die erste Große Koalition aus der Not geboren wurde, ging sie als eine Regierung der großen und nachhaltigen Strukturreformen in die Geschichte ein. Die schwarz-rote Regierung Kiesinger/Brandt griff tief in das konstitutionelle Gefüge der Bundesrepublik ein. Die Notstandsgesetze unterwarfen den bis dahin noch in die Kompetenz der ehemaligen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges fallenden Ausnahmezustand der demokratischen Kontrolle. Die Reform der Finanzverfassung verschob massiv die Bund-Länder-Koordinaten, brachten aber auch Verfassung und Verfassungswirklichkeit wieder stärker in Einklang, hatten sich doch im deutschen Föderalismus seit den 1950er Jahren zunehmend unitarische Tendenzen durchgesetzt. Die Einfügung der Gemeinschaftsaufgaben ins Grundgesetz, was insbesondere den Hochschulbau erleichterte, vertiefte die Gewaltenverschränkung von Bund und Ländern und wurde von der zweiten Großen Koalition seit 2005 mit der Föderalismusreform wieder zurückgebaut.

Gemessen an der Zahl der verwirklichten Vorsätze und Versprechen gilt die erste Große Koalition als die erfolgreichste Regierung der alten Bundesrepublik. Ein Drittel aller Grundgesetzänderungen zwischen 1945 und 1990 gehen auf ihr Konto. Mit der signifikanten Ausnahme der Wahlrechtsreform wurden alle von Kiesinger in seiner ersten Regierungserklärung skizzierten Projekte tatsächlich verwirklicht. Das Scheitern der Wahlrechtsreform indes hat dazu geführt, daß sich die westdeutsche politische Landschaft, die sich in den 1960er Jahren zum Zweiparteiensystem hin zu entwickeln schien, seither wieder deutlich aufgefächert hat. Trotz ihrer unbestrittenen Erfolge galt die erste Große Koalition lange Zeit als eine "vergessene Regierung", weil sich CDU/CSU und SPD nicht mehr gern an die gemeinsame Regierungsverantwortung erinnerten. Im Rückblick indes ist klar, daß der größte innenpolitische Reformschub in der Geschichte der alten Bundesrepublik in die Jahre zwischen 1966 und 1969 fällt.

Philipp Gassert