Willi Rickmer Rickmers, Alai! Alai! Arbeiten und Erlebnisse der Deutsch-Russischen Alai-Pamir-Expedition, Leipzig 1930

Einleitung

Die Jahre zwischen 1880 und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges waren die große Zeit der Expeditionen. Während der Weimarer Republik schuf vor allem die Gründung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft die finanzielle Basis für einen wahren Expeditionsboom. Verwiesen sei hier nur kurz auf den Weltreisenden Colin Ross, der mit dem Kurbelkasten um die Erde fuhr, aber auch auf Forscher wie Alfred Wegener. Wegener hatte, unterstützt von der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Expeditionen nach Grönland unternommen und dabei seine Theorie der Kontinentalverschiebung ausgearbeitet.

Wissenschaftler erschlossen aber nicht nur außereuropäische Räume, ihre Reiseberichte prägten darüber hinaus Weltbilder. Aus dieser Perspektive bilden Expeditionen einen wesentlichen Zugang zur Kulturgeschichte des Kolonialismus: Populär gehaltene Reiseberichte eigneten fremde Räume über Erzählungen, Metaphern und Mythen an, ohne daß das bereiste Land territorialer Bestandteil des eigenen Machtbereichs sein mußte. Insofern geben Reiseberichte und auch Reisefilme Auskunft über koloniale Ideologien. Klassische Abenteuergeschichten, die abstrakte Großmachtphantasien in Identifikationsfiguren und konkrete Handlungsmuster umsetzten, schrieben auf diese Weise Ideale von Männlichkeit und Nation fest.

Der hier vorgestellte Reisebericht "Alai! Alai! Arbeiten und Erlebnisse der Deutsch-Russischen Alai-Pamir-Expedition" und die gleichnamige Alai-(Pamir-)Expedition (1928), von der er erzählt, fügen sich nahtlos in den Expeditionsboom der Zwischenkriegszeit. Der Leiter des deutschen Teils der Expeditionsmannschaft, Willi Rickmer Rickmers, hatte eine für den damaligen Forschungsreisenden typische Karriere. Seit seiner Jugend war der Sohn des gleichnamigen, sehr wohlhabenden Reedereibesitzers aus Bremen auf Forschungsreise. Seine eigentliche Heimat waren die Berge Mittelasiens, um deren Erforschung er sich bis in die 1920er Jahre verdient und sich damit einen Expertennamen gemacht hatte.

Die Alai-Pamir-Expedition wurde bereits auf der Zweihundertjahrfeier der Leningrader Akademie der Wissenschaften geplant. Das sowjetische Interesse an einer gemeinsamen Unternehmung kam auch den deutschen Wissenschaftsfunktionären wie dem Präsidenten der Notgemeinschaft, Friedrich Schmidt-Ott sehr entgegen, war doch das Deutsche Reich infolge des Krieges noch aus den internationalen Forschungsvereinigungen ausgeschlossen. Das deutsch-sowjetische Kooperationsunternehmen organisierten die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, die Sowjetische Akademie der Wissenschaften und der Deutsche und Österreichische Alpenverein. Diese Forschungsreise stellte die Fortsetzung einer um vieles kleiner angelegten deutsch-österreichischen Vorkriegsexpedition, der Turkestanfahrt des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins von 1913, dar. Obwohl unter russischer Herrschaft stehend, hatte insbesondere West-Turkestan bereits im Kaiserreich eine Vielzahl deutscher Expeditionen fasziniert. Neben archäologischen Ausgrabungen im chinesischen Teil Ostturkestans, spezieller in der Oase Turfan, stand vor allem die Gebirgswelt des russischen Landesteils im Zentrum des Interesses. Der 1928 zu vermessende Trans-Alai und Seltau schloß an die bereits 1913 kartierte "Kette Peters des Großen" an. Als Hauptaufgaben der Nachkriegsexpedition wurde festgelegt, die Gebirge des heutigen Tadschikistan und Kirgistan so genau und umfassend als möglich topographisch und geologisch zu erforschen. Neben der Kartographie waren die Geologie, Meteorologie, Botanik, Zoologie, Ethnologie und Sprachwissenschaft sowie der Bergsteigertrupp des Alpenvereins und ein Filmteam der sowjetischen Meschrapom an der Expedition beteiligt. Die Gesamtleitung hatte der Staatsminister und Direktor des Rates der Volkskommissare inne, Nicolai Petrowitsch Gorbunow.

Die deutschen Teilnehmer schifften sich am 11. Mai 1928 von Stettin aus auf dem Dampfer "Preußen" über die Ostsee nach Leningrad ein. Nach offiziellen Empfängen in Leningrad und Moskau brach die Expeditionsmannschaft mit der Eisenbahn zum Karawanenort Osch in der Kirgisischen Sowjetrepublik auf, dem Ausgangspunkt der Expedition. Zwischen Juni und November 1928 sollte die Expedition die Natur des Pamirs bis an Afghanistans und Chinas Grenzen vermessen und den Raum letztendlich in das Koordinatensystem der europäischen Wissenschaft integrieren.

Wie fast jede Forschungsreise war auch diese ein öffentliches Ereignis – besonders deshalb, da sie ihre wissenschaftlichen Aufgaben vollständig erfüllen konnte. Neben dem Reisebericht "Alai! Alai!" erschien eine Vielzahl von Presseartikeln, und der Film "Pamir. Auf dem Dach der Welt" war ein Erfolg. Doch aus dieser Erfolgsgeschichte heraus ging diese Expedition neue Wege: Die Bedeutung der Alai-Pamir-Expedition liegt darin, daß sie als das erste internationale Großforschungsprojekt im Expeditionsbereich auf einer selbstreflexiven Ebene neue Umgangsformen mit der außereuropäischen Welt auslotete. Trotz der militaristischen Sprache, die noch an den Feldzugscharakter von Expeditionen erinnert, thematisierte Willi Rickmer Rickmers in seiner "Expeditionstheorie" eine fast postkolonial zu nennende Neuausrichtung von Forschungsreisen. Diese Einschätzung trifft aber nur für die deutsche Seite der Expeditionsmannschaft zu. Die sowjetischen Interessen zielten dagegen vielmehr auf die kartographische und ethnologische Erfassung eines Herrschaftsraums.

Vor dem Hintergrund der beginnenden Globalisierung dekonstruierte Rickmers drei langlebige Mythen und Handlungsmuster von Forschungsreisen: die einseitige und hegemoniale Erfassung des Forschungsraums und seiner Gegenstände durch die west- und mitteleuropäische Wissenschaft, die Illusion des first contact sowie die Erzählung des großen Abenteuers. Als Gegenentwurf zu früheren Forschungsreisen präsentierte Rickmers’ Reisephilosophie das Konzept einer ‚rationalisierten’ Expedition als sanftere Form von Deutungshoheit. Hegemoniale Muster der Weltaneignung beschrieb Rickmers plakativ als europäische Zwangshandlung gegenüber dem Forschungsraum, die auf einseitigen Annahmen von kultureller Überlegenheit gegenüber einem als unzivilisiert verstandenen Land beruhten. Ausgehend vom wissenschaftlichen Bekanntheitsgrad und einer Vernetzung des Erdballs durch Verkehrsmittel, die Weltwirtschaft und weltweite Kommunikation verabschiedete Rickmers heroische Abenteuererzählungen als nicht mehr zeitgemäße Repräsentation von Reiseerfahrungen.

Diese neue Ära der Forschungsreise brachte alternative Leitbilder mit sich. An die Stelle offensichtlicher Überlegenheitsdemonstration rückte die subtilere Form einer Eroberung der Erde durch die (Natur-)Wissenschaft und Statistik. Da Forschungsreisen nach den Gesetzen der wissenschaftlichen Betriebsführung ausgerichtet werden sollten, wurde die Rationalisierung zu einem Schlagwort der Expeditionsorganisation. Alleine die interdisziplinäre Ausrichtung bedingte die Verteilung der Aufgaben eines Wissenschaftlers auf mehrere Spezialisten. Innerhalb dieser Funktionalisierung von Wissenschaft stieg die Bedeutung der Logistik, deren Organisation den Aufgabenbereich des Expeditionsleiters definierte.

Rickmers führte nach diesen Gesetzmäßigkeiten seine Forschungsreise durch. Das Ergebnis war eine Expedition, die im Forschungsraum neue Formen der Naturaneignung praktizierte. Dabei präsentierte sie alternative Leitbilder postkolonialer Führung, wie Experten und Vaterfiguren. Sie paßten zudem zu Frühformen der Entwicklungshilfe, die weltweit unter deutscher Ägide präsent wurden und langfristig ihren Weg in die Entwicklungspolitik der 1950er Jahre fanden. Exemplarisch sei hier nur auf Albert Schweizer und seine Rezeption in den 1950er Jahren verwiesen, auf die deutsche Hungerhilfe in Rußland sowie auf frühe "Entwicklungshilfeexperten" in Afghanistan in den 1920er Jahren. Diese Ideen und Handlungsmuster patriarchalischer Führung waren jedoch auch eine sanftere Form kolonialer Ideologie.

Franziska Torma