Gustav Stresemann, Rede zum deutschen Beitritt zum Völkerbund, 10. September 1926

Einleitung

Die Vorgeschichte des deutschen Beitritts zum Völkerbund reicht bis zum Kriegsende 1918 zurück: Der 14. Punkt von Woodrow Wilsons Programm für den künftigen Friedensschluß forderte die Gründung eines Völkerbunds "zu dem Zweck, großen und kleinen Staaten in gleicher Weise gegenseitige Garantien für die politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität zu gewähren". Bei Kriegsende hegte man in Deutschland die Hoffnung, daß ein solcher Völkerbund den Kriegsverlierer vor der Rache der Sieger schützen werde. Tatsächlich aber schloß der Versailler Vertrag, der in seinen einleitenden 26 Artikeln die Völkerbundssatzung enthielt, Deutschland und die anderen Verlierer des Weltkriegs vom zu gründenden Bund vorläufig aus. Da außerdem nicht nur Rußland, sondern – wegen der Nichtratifizierung der Pariser Vorortverträge durch den Kongreß in Washington – auch die USA schließlich keine Mitglieder des 1920 zusammentretenden Völkerbunds wurden, erlebte man in Deutschland diesen Genfer Bund (mit seinen Organen Rat, Versammlung und Generalsekretariat) mehr und mehr als Instrument der Siegermächte und insbesondere Frankreichs. Diese Haltung verstärkte sich noch, als der Völkerbund mit seinen anfangs 42 Mitgliedstaaten wiederholt Positionen der Siegermächte in Fragen der Ausführung des Versailler Vertrags bestätigte, etwa 1921 im deutsch-polnischen Konflikt um Oberschlesien. 1923 schließlich wartete man in Berlin vergeblich auf ein Einschreiten des Völkerbunds gegen die französisch-belgische Ruhrbesetzung. Der Völkerbund war damit in deutschen Augen als Instrument Frankreichs gründlich diskreditiert.

Erst zwei Entwicklungen des Jahres 1924 führten zu einer Neuorientierung: In Großbritannien setzte die neue Labour-Regierung in ungleich höherem Maß als ihre Vorgänger auf die Stärkung des Völkerbunds, um ihn als universales Instrument des Ausgleichs nutzen zu können; sie ließ erkennen, daß sie einen Beitritt Deutschlands wünsche. In Deutschland gewann unter Gustav Stresemann, nach seiner kurzlebigen Kanzlerschaft im Jahr 1923 bis zu seinem Tod 1929 deutscher Außenminister, die Erkenntnis an Boden, daß die Befriedigung des französischen Sicherheitsbedürfnisses Voraussetzung für jede Revision des Versailler Vertrags sein würde.

Im Herbst 1924 nannte die Reichsregierung den Mitgliedern des Völkerbundsrats vier Bedingungen für einen deutschen Beitritt: 1. Deutschland müsse ein ständiger Ratssitz zugestanden werden; 2. Deutschland könne wegen seiner Entwaffnung nicht an einer Bundesexekution gemäß Art. 16 der Bundessatzung teilnehmen; 3. es könne auch bei einem Beitritt weiterhin die im Versailler Vertrag niedergeschriebene deutsche Kriegsschuld nicht anerkennen; 4. es erwarte, am Mandatssystem des Völkerbunds für die Kolonien beteiligt zu werden.

Die Reaktion der angeschriebenen Mächte war verhalten. Vor allem der deutsche Vorbehalt bezüglich Art. 16 wurde abgelehnt. Bei den Vorverhandlungen zu den Locarno-Verträgen und schließlich noch in Locarno selbst war dies der entscheidende Punkt: Deutschland bestand – neben der als selbstverständlich erachteten Zusicherung eines ständigen Ratssitzes – auf einer Zusage im Hinblick auf Art. 16, weil aus seiner Sicht andernfalls eine Belastung seiner seit dem Vertrag von Rapallo besonderen Beziehung zu Rußland drohte; die westlichen Verhandlungspartner verweigerten unter Hinweis auf die Pflichten eines jeden Völkerbundsmitglieds lange ein Eingehen auf die deutsche Forderung. Als jedoch in Locarno die Vertragsverhandlungen so gut wie abgeschlossen waren, einigte man sich auf eine informelle Lösung in Form einer Anlage zum Vertragswerk; sie beruhte auf einer Interpretation des Art. 16, wonach jeder Staat nur "in einem Maße" zur Mitwirkung an Sanktionen verpflichtet sei, "das mit seiner militärischen Lage verträglich ist und das seiner geographischen Lage Rechnung trägt". Faktisch bedeutete dies ein Dispens für Deutschland.

Die Verträge von Locarno sollten erst mit dem deutschen Völkerbundsbeitritt in Kraft treten. Er war für März 1926 geplant, verzögerte sich aufgrund der Ansprüche anderer Staaten – Polen, Brasilien, Spanien – auf einen ständigen Ratssitz aber um ein halbes Jahr. Am 10. September 1926 war es endlich soweit: Um 10.30 Uhr wurde im Genfer Reformationssaal der deutsche Beitritt vollzogen; Momčilo Ninčić, als jugoslawischer Außenminister 1926/27 Präsident der Versammlung, hieß die deutsche Delegation willkommen, begrüßte ihre Anwesenheit "als ein neues Pfand für den Erfolg friedlichen Zusammenarbeitens der Völker" und erteilte schließlich Gustav Stresemann das Wort.

Die Rede, die Stresemann nun hielt, war ganz auf die Situation und die Zuhörer zugeschnitten. Sie warf einen kurzen, eher streifenden Blick auf die lange Entwicklung hin zum Beitritt Deutschlands, formulierte Stresemanns Hoffnung auf eine bessere Zukunft und wiederholte dabei seine außenpolitische Programmatik: die Notwendigkeit einer freien Weltwirtschaft als Voraussetzung für die wirtschaftliche Erholung; die Beibehaltung nationaler Souveränität bei gleichzeitiger gegenseitiger Achtung der Völker; die Locarno-Verträge als Beispiel für den Aufbau einer künftigen internationalen Rechtsordnung. Frühere deutsche Forderungen wurden stark abgeschwächt: Während sich in Entwürfen zur Rede noch Passagen finden, die aus der eigenen, durch den Versailler Vertrag erzwungenen Abrüstung ein "Recht" Deutschlands auf die Abrüstung der anderen herleiteten, äußerte Stresemann in seiner Rede nur noch den Wunsch, daß die allgemeine Abrüstung vorankommen möge; und die Feststellung des Memorandums vom Herbst 1924, daß Deutschlands Beitritt zum Völkerbund keine Anerkennung der Kriegsschuld bedeute, ist in der betreffenden Passage der Rede, in der sich Stresemann auf die Gewinner und Verlierer des Krieges bezieht, kaum noch erkennbar. Vielmehr setzte er der Unterteilung in Sieger und Verlierer das gegenseitige Vertrauen entgegen, das in Zukunft herrschen müsse. Stresemann gab der Hoffnung Ausdruck, künftig "alle Weltmächte" (also auch die USA und Sowjetunion) im Völkerbund vereinigt zu sehen sowie Spanien und Brasilien, die wegen der Verweigerung eines ständigen Ratssitzes ihren Austritt angekündigt hatten, im Bund zu halten. Er versicherte die feste deutsche Bereitschaft, auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Freiheit, Friede und Einigkeit an den Zielen des Völkerbundes mitzuwirken, die er – ohne den Dichter namentlich zu nennen – mit den Worten Goethes wiedergab, wonach "wir Menschen uns zu dem Geschlecht bekennen, das aus dem Dunkel ins Helle strebt": die friedliche internationale Zusammenarbeit souveräner Staaten als die helle Zukunft, die aus dem Dunkel von Krieg und Nachkriegszeit erstehen müsse.

Die Rede war für Stresemann, einen begabten Rhetor, keine seiner ganz großen Reden. Aber sie schaffte es, souverän den Bogen zu schlagen zwischen der Außenseiterposition, die Deutschland noch zwei Jahre zuvor gegenüber dem Völkerbund eingenommen hatte, und der nun als geradezu selbstverständlich erachteten Tatsache, daß Deutschland ab jetzt ein vollwertiges Mitglied sein würde – ohne Schuldzuweisungen, Selbstrechtfertigungen oder allzu ausufernde Erklärungen. Zudem spiegelte sie exakt Stresemanns Programm für die Verständigungspolitik, die in Locarno eine erste Krönung gefunden hatte: Es ging nicht um die Aufgabe staatlicher Souveränität, es ging auf deutscher Seite auch nicht um den Verzicht auf Revision des Versailler Vertrags. Aber es ging um eine friedliche, nicht gewaltsame Revision, die letztlich nur durch Zusammenarbeit und Verhandlungen – einen echten Abgleich der Interessen – zu erreichen war.

Wenn die Rede im Reformationssaal mit großem Applaus aufgenommen wurde, war dies also vermutlich weniger dem Text selbst geschuldet als vielmehr der Bedeutung des Augenblicks: Deutschland hatte nun – für alle sichtbar – die Zulassungskarte in den Kreis der gleichberechtigten Staaten der Welt erworben.

Wahre Begeisterungsstürme löste dagegen die unmittelbar folgende Rede Aristide Briands aus, des französischen Außenministers, der mit großen pathetischen Worten das Ende der langen Reihe deutsch-französischer Kriege beschwor und die allgemeine Abrüstung und den allgemeinen Frieden am Horizont aufziehen sah (beide Redner nahmen drei Monate später in Oslo gemeinsam den Friedensnobelpreis entgegen).

Mit dem Beitritt Deutschlands war aber nicht nur dessen Wiedereintritt in die Völkergemeinschaft praktisch und symbolisch vollzogen worden. Er leitete auch eine Phase engster Zusammenarbeit zwischen Stresemann auf der einen und Briand auf der anderen Seite ein – wozu sich immer wieder auch Austen Chamberlain, der britische Außenminister, hinzufand. Zwar erwies sich ein fast konspiratives Treffen Stresemanns und Briands im kleinen Ort Thoiry, das genau eine Woche nach dem glänzenden Tag von Genf stattfand und bei dem eine Gesamtbereinigung aller deutsch-französischen Streitpunkte erörtert wurde, schnell als Fehlschlag. Zu große Widerstände in der französischen Politik, aber auch in Großbritannien und den USA, verhinderten einen allgemeinen Ausgleich und zeigten damit auch bereits die Grenzen der beiderseitigen Verständigung auf. Dennoch bildeten die folgenden Jahre den Höhepunkt nicht nur der Tätigkeit des Völkerbunds, sondern auch der deutsch-französischen Zusammenarbeit.

Daß die Kooperation der drei Außenminister Stresemann, Briand und Chamberlain, meist im Rahmen oder am Rande von Völkerbundssitzungen, mehr an das Wirken des Europäischen Konzerts des 19. Jahrhunderts und weniger an die ursprünglichen Ideen von Woodrow Wilson erinnerten, war dazu kein Widerspruch: Der Völkerbund konnte unter den gegebenen Umständen nur funktionieren, wenn die europäischen Großmächte, die zur Aufgabe ihres Status nicht bereit waren, einigermaßen vertrauensvoll zusammenarbeiteten. Selbst wenn Stresemann in den Folgejahren die Völkerbundstribüne gelegentlich für Angriffe auf die Minderheitenpolitik der ostmitteleuropäischen Staaten und insbesondere Polens nutzte, wurde ihm dies von seinen Partnern als im Hinblick auf innenpolitische Bedürfnisse notwendige Nutzung des internationalen Forums zugestanden.

Auch wenn greifbare Erfolge selten blieben: schon das gleichberechtigte Verhandeln, der auf friedlichen Ausgleich zielende und vertrauensbildende Umgang miteinander sollte sich bald – nach seinem Verlust – als Wert an sich erweisen. Denn mit dem Tod Stresemanns 1929 und mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929/30 änderte sich all dies recht abrupt. Der Völkerbund blieb zwar noch für kurze Zeit das internationale Forum schlechthin, aber er konnte weder Briands Initiative von 1930 für eine engere Zusammenarbeit der europäischen Staaten fruchtbar werden lassen, noch sah er sich in der Lage, dem flagranten Völkerrechtsbruch Japans mit dem Übergriff auf die Mandschurei vom Herbst 1931 wirkungsvoll entgegenzutreten. Vielmehr fielen die Staaten wieder ganz überwiegend in nationalen Egoismus zurück, nicht nur im Bereich der Wirtschaft, wo sehr bald Autarkie zum erneuten Leitbild wurde, sondern auch im außenpolitischen Kalkül. Von Seiten der nachfolgenden deutschen Regierungen wurde eine nun viel aggressivere revisionistische Politik betrieben, die sich im Wechselspiel mit den nationalsozialistischen Wahlerfolgen aufschaukelte. Zusammen mit der französischen Reaktion, gegenüber einem solchen Deutschland höchst vorsichtig zu sein, führte dies dazu, daß das große Projekt des Völkerbunds, die im Februar 1932 eröffnete Abrüstungskonferenz, sehr bald steckenblieb.

Daß die erste große außenpolitische Aktion Hitlers nach der "Machtergreifung" im Oktober 1933 der plebiszitär-propagandistisch aufbereitete Austritt aus der Abrüstungskonferenz und aus dem gesamten Völkerbund war, zeigte in ihrer Negation immerhin noch, welche Bedeutung die Idee des Völkerbunds an sich hatte: Die bilaterale "Revisionspolitik" Hitlers, die von allem Anfang an auf viel mehr als lediglich die Revision des Versailler Vertrags hinzielte, war mit der Mitgliedschaft in einem noch so schwachen Genfer Völkerbund nicht zu vereinbaren. Die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935 und die Wiederbesetzung des Rheinlands 1936, also die offene Aufkündigung des Versailler Vertrags und der Locarno-Verträge, schlossen diesen Prozeß ab: Durch den Versailler Vertrag war der Völkerbund entstanden; in den Locarno-Verträgen war Deutschlands Beitritt verankert worden. Nun, 1936, trat der Völkerbund in ein Schattendasein über, das in Agonie zwar noch bis 1946 dauerte; tatsächlich hatte er aber jede praktische Bedeutung verloren.

In vielerlei Hinsicht interessant ist die Textüberlieferung der Rede Stresemanns: Der amtliche, gedruckte Redetext liegt in zwei Übersetzungen ins Französische und Englische vor, die am Tag nach der Rede, am 11. September 1926, in Genf im "Journal de la Septième Assemblée de la Société des Nations" veröffentlicht wurden. Die beiden Übersetzungen unterscheiden sich in Nuancen bei der Wortwahl oder in Plural-Singular-Konstruktionen, sind aber im Wesentlichen inhaltsgleich. Die hier als Grundlage genommene deutsche Druckfassung aus Gustav Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 591–595, stimmt mit diesen Übersetzungen in allen wesentlichen Punkten überein. (Leicht abweichende Fassungen finden sich in Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender 67 (1926), S. 474-477, und Gustav Stresemann, Reden und Schriften. Politik, Geschichte, Literatur. 1897-1926. Bd. 2. Dresden 1926, S. 302–309. Im Bundesarchiv befindet sich ein Dokumentarfilm mit dem Titel "Die VII. Völkerbundsversammlung in Genf, September 1926 (Eintritt Deutschlands in den Völkerbund)" (Bundesarchiv, Abt. Filmarchiv, M 246); ein Tondokument der tatsächlich gehaltenen Rede war nicht zu ermitteln.)

Neben diesen gedruckten Fassungen befinden sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA, R 28410 [Büro Reichsminister, Az. 18 Völkerbund, Bd. 12: Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund und Antrittsrede Stresemanns], S. 71–117) insgesamt fünf maschinenschriftliche Vorlagen. Eine Disposition entwirft die Grundgedanken der Rede. Darauf folgen vier Korrekturstufen, deren zwei letzte "Reinschriften" ohne wesentliche handschriftliche Vermerke Stresemanns sind. Die zweite Korrekturfassung (S. 96–107) wird hier als Faksimile wiedergegeben. Sie ist weitgehend inhaltsgleich mit der letzten Reinschrift, dokumentiert aber in den zahlreichen Anmerkungen Stresemanns intensive Beschäftigung mit dem Text. Lediglich das Ende der Rede, mit dem sich Stresemann ersichtlich abgemüht hat, weicht von der letzten Version ab. Aber selbst die letzte Reinschrift unterscheidet sich noch in zwei Punkten von der dann tatsächlich gehaltenen Rede: Es fehlt ein Dank an die Schweiz. Und, quellenkritisch bedeutsamer: Von der ersten maschinenschriftlichen Fassung an enthält der Text eine Passage, die aus der erzwungenen eigenen Abrüstung ein deutsches Recht auf Abrüstung der anderen ableitet. Die Passage wird in den folgenden Fassungen abgeschwächt, ist aber auch in der vermutlich als Redevorlage dienenden letzten Version noch grundsätzlich enthalten. Tatsächlich hat Stresemann – möglicherweise spontan – dieses Pochen auf ein deutsches Recht auf generelle Abrüstung in seiner Rede jedoch ganz weggelassen.

Wolfgang Elz