Alfred Graf von Schlieffen, Denkschrift "Krieg gegen Frankreich" [Schlieffen-Plan], Dezember 1905

Einleitung

Kaum ein militärischer Aufmarschplan hat die Gemüter seit dem Ende des Ersten Weltkrieges so erhitzt wie der Schlieffenplan. Entwickelt vom ehemaligen Chef des Großen Generalstabs der preußisch-deutschen Armee, Generaloberst Alfred Graf von Schlieffen, sollte dieser Plan Frankreich innerhalb von vier bis sechs Wochen niederzwingen, um sich dann Russland "zuwenden" zu können.

Ausgangspunkt all dieser Planungen des Generalstabschefs war die Erkenntnis, dass das Deutsche Reich, das seit dem Abschluss der russisch-französischen Allianz von 1892/94 im Kriegsfalle einen Zweifrontenkrieg würde führen müssen, diesen so schnell wie möglich gewinnen musste. Einen langen Krieg gegen beide Großmächte, darüber war Schlieffen sich im Klaren, konnte das Reich nur verlieren.

Die Mittellage des Deutschen Reiches war einerseits eine große Gefahr, andererseits enthielt sie aber auch Vorteile. Bereits 1901 hatte Schlieffen auf der Schlussbesprechung der Generalstabsreise Ost seinen Offizieren erklärt: "Deutschland hat den Vorteil, dass es in der Mitte zwischen Frankreich und Rußland liegt und diese Bundesgenossen voneinander trennt. Es würde sich aber dieses Vorteils begeben, sobald es sein Heer teilen und hierdurch jedem einzelnen seiner Gegner an Zahl unterlegen sein würde. Deutschland muss daher bestrebt sein, zuerst den einen niederzuwerfen, während der andere nur beschäftigt wird; dann aber, wenn der eine Gegner besiegt ist, muss es unter Ausnutzung der Eisenbahn auch auf dem anderen Kriegsschauplatze eine Überlegenheit an Zahl heranführen, die auch dem anderen Feinde verderblich wird. Der erste Schlag muss mit voller Kraft geführt werden, und es muss eine wirkliche Entscheidungsschlacht stattfinden [...]."[Zitiert nach: Gerhard P. Groß, There was a Schlieffen Plan, in: Hans Ehlert, Michael Epkenhans und Gerhard P. Groß (Hg.), Der Schlieffenplan. Analysen und Dokumente, Paderborn 2006, S. 155.]

Seit Übernahme des Amtes des Generalstabschefs 1891 hatte Schlieffen konsequent auf die Offensive gesetzt. Er entwickelte mehrere Szenarien, die der geographischen Lage Deutschlands wie auch den möglichen Plänen des Gegners bzw. dessen Möglichkeiten Rechnung zu tragen versuchten.

Da Russland aufgrund der Weite des Raumes und des angesichts der schlechten Verbindungen erwarteten langsamen Aufmarsches erst nach Wochen voll kampffähig sein würde, plante Schlieffen, zunächst Frankreich mit einem schnellen, vernichtenden Schlag gleich zu Beginn zu besiegen. Dies schien ihm möglich, wenn man die starken französischen Befestigungslinien in Lothringen umging, anstatt sie frontal anzugreifen. Relativ schwache deutsche Kräfte sollten dort "nur" die Grenze sichern, nicht aber selbst zur Offensive antreten. Stattdessen beabsichtigte Schlieffen, unter Verletzung der belgischen und auch niederländischen Neutralität, in einer großen Zangenbewegung das französische Heer mit einem starken rechten Flügel von hinten zu umfassen und zu schlagen. Anschließend sollten die siegreichen deutschen Truppen nach Osten verlegt werden, um gegen Russland zu kämpfen, es sei denn – und das war die Hoffnung – dieses würde angesichts der französischen Niederlage auf die Weiterführung des Krieges verzichten.

Die Planung dieser großen Umfassung war Schlieffens "Lebenswerk", das er in einer Denkschrift unter dem Titel "Krieg gegen Frankreich" im Februar 1906 seinem Nachfolger, Generaloberst Helmuth von Moltke d. J. übergab. Ob Schlieffen zur Umsetzung seines Planes unter günstigen Bedingungen sogar zur Führung eines Präventivkrieges gegen Frankreich bereit war, diesen in den Jahren 1904/05, als Russland aufgrund des Krieges gegen Japan schwer unter Druck stand, sogar aktiv herbeizuführen versuchte, ist in der Forschung umstritten. Eindeutige Beweise dafür gibt es nicht. In der Diskussion über den Schlieffenplan ebenfalls übersehen wird die Flexibilität Schlieffens. Zwar hatte die schnelle Umfassung Priorität – vor allem seit 1904/05, als deutlich wurde, dass die französische Armee sich defensiv, nicht offensiv verhalten würde – , gleichwohl war Schlieffen bereit, auch über andere Szenarien nachzudenken. Dies belegen seine Planungen in den Jahren zuvor und seine Flexibilität hinsichtlich des Ortes der Entscheidungsschlacht – östlich oder westlich von Paris – und möglicher Schwerpunktverlagerungen, die sich aus Änderungen der politischen Gesamtlage ergeben konnten. Dass der Plan nur funktionieren würde, wenn die deutsche Festung Metz weiter ausgebaut und das Heer entsprechend verstärkt werden würde, war Schlieffen ebenfalls klar.

Schlieffens Nachfolger, Generaloberst Helmuth von Moltke, hat dessen Grundgedanken übernommen, gleichwohl einige nicht unwesentliche Änderungen vorgenommen, die seiner Überzeugung Rechnung tragen sollten, dass die Franzosen keineswegs nur defensiv operieren und der Krieg länger dauern würde. Dazu gehörte unter anderem der Verzicht auf einen Durchmarsch durch die neutralen Niederlande – diese sollten als "Luftröhre" im Falle eines längeren Krieges die Einfuhr kriegswichtiger Güter ermöglichen –, der Verzicht auf einen Ostaufmarsch im Frühjahr 1913 zugunsten einer Verstärkung des linken deutschen Flügels in Lothringen sowie detaillierte Planungen für einen Überfall auf die belgische Festung Lüttich, um den Vormarsch durch Belgien zu beschleunigen. Für den Fall eines massiven französischen Angriffs nach Lothringen war Moltke sogar bereit, auf die Umfassung durch Belgien zu verzichten, da er in diesem Falle ebenfalls die Vernichtung der französischen Armee für gesichert hielt.

Viele Zeitgenossen haben – nach der deutschen Niederlage – in der Denkschrift Schlieffens einen meisterhaften Plan gesehen, der, wenn er von Schlieffens Nachfolger nur richtig umgesetzt worden wäre, den schnellen Sieg und nicht die katastrophale Niederlage nach einem zermürbenden, vierjährigen Stellungskrieg gebracht hätte. Diese Deutung, die nicht zuletzt einen Sündenbock für die erlittene Schmach suchte und diesen im 1916 gestorbenen Moltke fand, übersieht freilich, dass auch Schlieffens Plan von Variablen ausging, die im Zeitalter der Massenheere immer fragwürdiger wurden. Zudem war das deutsche Heer keineswegs stark genug, um die vorgesehene Zangenbewegung wie geplant durchführen zu können.

Auch Historiker haben immer wieder über den Schlieffenplan gestritten, ja sogar seine Existenz mit zum Teil "abenteuerlichen" Begründungen bestritten. Von einem nachträglichen Konstrukt kann freilich keine Rede sein. Jüngere Forschungen haben vielmehr gezeigt, dass Schlieffen das Szenario immer wieder auf Generalstabsreisen und Kriegsspielen geprobt hat, um seine Grundidee zu überprüfen. Die stark befestigte französische Hauptstadt Paris sollte dabei – je nach Lage – entweder westlich oder östlich umgangen werden.

An diesem Versuch ist unter anderem 1914 der Schlieffenplan gescheitert. Nachdem die vorstoßenden deutschen Armeen den Kontakt untereinander verloren hatten und die englisch-französische Armee in die entstandene Lücke eingebrochen war, musste Schlieffens Nachfolger sie in aller Eile zurückziehen, um sie nicht ihrerseits der Gefahr einer Umfassung mit katastrophalen Folgen auszusetzen. Schlieffen, der sich bis zuletzt mit seinem Plan befasst hatte, lebte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr: Er war im Januar 1913 nach langer schwerer Krankheit gestorben. Einfluss auf die letzten Planungen hat er, so sehr er sich dieses manchmal gewünscht haben mag, nicht mehr nehmen können. Sein Nachfolger und dessen Berater haben ihn nicht mehr gefragt.

Michael Epkenhans