Adolf Hitler, Rede vor den Spitzen der Reichswehr, 3. Februar 1933

Einleitung

Die Geschichtswissenschaft betrachtete die Rede schon früh als Schlüsseldokument, das den planvollen Weg Hitlers in den Zweiten Weltkrieg nachzuzeichnen erlaubt. Im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses standen dabei bisher zwei Forschungskomplexe: Je nach Perspektive galt das Augenmerk entweder der Reaktion und dem Kalkül der beteiligten Generale oder es ging um die Authentizität, die Motive Hitlers und die Wertung der Rede im Kontext seiner Politik sowie des möglicherweise dahinter stehenden "Programms". Unbestritten ist, dass Hitlers persönliche Rolle, seine Handschrift als Diktator, nirgends deutlicher zu erkennen war als im Willen zum Krieg, den er Deutschland und Europa aufzwang. In einer spezifischen Mischung aus ideologischem Wahn, pervertierter Rationalität und brutaler Skrupellosigkeit entwickelte er ein "Programm" und hielt daran bis zu seinem Ende fest. Ausführlich legte er diesen "Plan" in "Mein Kampf" und dem sogenannten "Zweiten Buch" von 1928 dar; dabei nahm Hitler das lange vor 1914 in Mitteleuropa virulente völkische Denken auf, adaptierte es in spezifischer Weise und verarbeitete es zu einer neuen gedanklichen Synthese. Ausgangspunkt für Hitlers Überzeugung, dass der Krieg um die Erweiterung von "Lebensraum" in Osteuropa nicht nur ein notwendiges, sondern auch jenseits aller Rechtstraditionen legitimes Ziel sei, bildeten rassenideologische Prämissen. Demnach war die "arische" Rasse anderen Völkern überlegen, durfte das Recht des Stärkeren beanspruchen und musste sich gemäß sozialdarwinistischer Vorstellungen allein dem Bewegungsgesetz der Weltgeschichte, dem unaufhörlichen Kampf zwischen Völkern und Rassen unterwerfen. Das allerdings galt als zwingend, ging man doch davon aus, dass das deutsche Volk - und mit ihm die "arische" Rasse - sonst an den Folgen der Überbevölkerung und eines zu geringen Nahrungsspielraums zugrunde gehen würden. Nach der Eroberung der Macht bereitete Hitler den Krieg um die Erweiterung des "Lebensraums" konsequent vor, wobei sich ideologische Fixierung, taktisches Kalkül und das opportunistische Streben nach Ausweitung der eigenen Gewaltsphäre nicht immer trennen lassen.

Vor diesem Hintergrund hat sich die neuere Forschung über frühere Frontstellungen zwischen "Funktionalisten" und "Intentionalisten" hinaus entwickelt. Ideologisch-"intentionalistische" Elemente verbanden sich mit der ungesteuerten "Funktionalität" einmal geschaffener "Sachzwänge" zu einem komplexen Ganzen; hinzu trat die von den ungezählten Profiteuren des Regimes und ihren Ambitionen ausgehende technokratische Dynamik. Einer dieser Aspekte, der erst in jüngerer Zeit in das Zentrum der Forschung gerückt ist, verdient im Kontext der Hitler-Rede besondere Beachtung: Er betrifft die gigantischen Umsiedlungs- bzw. Vertreibungspläne, die im NS-Regime konzipiert und nach Kriegsbeginn – in freilich stark reduzierter und fragmentarischer Form – teilweise auch in die Tat umgesetzt wurden. Zwar waren es in erster Linie Himmler, die SS und ihr Apparat, die diese "Umsiedlungen" technisch planten, vorbereiteten und durchführten. Die Rolle aber, die Hitler dabei nicht nur als allgemeine politische Legitimationsquelle, sondern sehr konkret bei der Planung der langfristigen politischen Zielführung spielte, ist nicht zu vernachlässigen. Tatsächlich zeigen neuere Studien durchweg, in welch hohem Maße Hitler selbst die Ansätze einer ebenso radikalen wie brutalen "Germanisierungs"-Politik im annektierten Polen legitimierte, begleitete und gegebenenfalls auch steuerte. Kein Zweifel: Das Ziel der "Germanisierung" des Bodens durch die weitgehende Vertreibung der einheimischen Bevölkerung bildet ein ebenso konsistentes wie konstantes Motiv in den überlieferten Hitler-Äußerungen. Und eben hierfür sind seine Aussagen vor den Spitzen der Reichswehr höchst bedeutsam.

Bereits am 3. Februar 1933, also unmittelbar nach seiner Berufung zum Reichskanzler, skizzierte Hitler seine langfristigen Ziele, darunter die "Ausweitung des Lebensraumes des deutschen Volkes [...] mit bewaffneter Hand". 1936 forderte Hitler die deutsche Wirtschaft auf, innerhalb von vier Jahren kriegsbereit zu sein; im November 1937 schließlich machte er aus seinen Angriffsplänen keinen Hehl mehr: Zuerst wollte er Österreich und die Tschechos¬lowakei dem Reich einverleiben, bevor ein großer Krieg den Kampf um "Lebensraum" im Osten entscheiden sollte. Tatsächlich war der Zweite Weltkrieg in gewisser Hinsicht Hitlers persönlicher Krieg: Konsequent hat er den Kampf um "Lebensraum" als sein Lebensziel deklariert und am Ende gar den Lauf der Geschichte seiner eigenen Biographie unterzuordnen gesucht.

Im Gegensatz zu anderen, vergleichbaren Mitteilungen Hitlers liegt für seine Rede vom 3. Februar 1933 kein Redetext vor, statt dessen machten drei Augen- und Ohrenzeugen Aufzeichnungen. Lange Zeit waren der Forschung allein die telegrammartigen Notizen bekannt, die der Generalleutnant und Kommandeur des Wehrkreises V (Stuttgart), Kurt Liebmann, von der Rede anfertigte. Liebmann hob darin einige zentrale Themenkomplexe hervor, um die herum er diejenigen Bemerkungen Hitlers gruppierte, die ihm am wichtigsten erschienen. Im einzelnen handelte es sich um die Komplexe: "Im Innern", "Nach außen", "Wirtschaft" und – offenkundig am wichtigsten – "Aufbau der Wehrmacht".

Eine weitere Überlieferung von hohem Quellenwert resultiert aus den erst später bekannt gewordenen Aufzeichnungen Horst von Mellenthins, des damaligen Adjutanten beim Chef der Heeresleitung, Kurt von Hammerstein-Equord. Hierbei handelt es sich um einen fortlaufenden Text; er ist in wörtlicher Rede gehalten und deutlich umfangreicher als die Liebmann-Notizen. Entstanden ist das Dokument durch ein Diktat, das Mellenthin auf der Basis von Stichworten, die er sich während der Rede gemacht hatte, am Tag danach aufgab. Beide Quellen stimmen in den wesentlichen Punkten überein, mit einer signifikanten Ausnahme: Während Liebmann die künftigen außenpolitischen Ziele Hitlers in "rücksichtsloser Germanisierung" des im Osten zu erkämpfenden "Lebensraums" gipfeln lässt, spricht Mellenthin von "Kolonien". Zu Recht ist beobachtet worden, dass dieser Begriff zum gesamten Hitlerschen Kalkül nicht passt und dass vermutlich ein Verständnisfehler vorliegt. Denkbar ist auch, dass Mellenthin "Kolonien" in diesem Zusammenhang als Synonym zu Siedlungs- oder eben "Lebensraum" im Osten verwendete. Bedenkt man allerdings, dass die "Lebensraum"-Passage den im Rückblick bedeutsamsten Teil der Rede darstellt, wird verständlich, warum Mellenthins Überlieferung rezeptionsgeschichtlich gesehen stets im Schatten der Liebmann-Notizen stand. Nicht zufällig wurde sie erst 1999 veröffentlicht, obwohl sie im Detail durchaus hohen Quellenwert besitzt.

Die dritte Quelle ist die zuletzt bekannt gewordene, aber wahrscheinlich zeitnächste Überlieferung der Hitler-Rede. Die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des Dokuments ist bemerkenswert. Es stammt aus dem Kreis der Verbindungsleute des Nachrichtendienstes der KPD, dem die Quelle mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einer der Töchter Hammersteins zugespielt wurde. Am 6. Februar 1933 wurde die Abschrift des Originals angefertigt und sogleich nach Moskau geschickt, wo sie am 14. Februar 1933 eintraf. So überraschend dieser Vorgang auf den ersten Blick erscheinen mag, so wenig außergewöhnlich ist er doch, wenn man sich vor Augen hält, dass der Nachrichtendienst der KPD schon seit längerem Kontakte bis in die Führungsspitze der Reichswehr unterhielt. Vermittelt über Verbindungsleute bürgerlicher Herkunft, die in den höchsten Gesellschaftskreisen verkehrten, bestanden teilweise sogar bis in die Mitte der dreißiger Jahre hinein Verbindungen zwischen Kommunisten und Regierungsdienststellen, höheren Wirtschaftskreisen sowie hohen Reichswehroffizieren und ihren Gattinnen.

Es entbehrt nicht der Ironie, dass diese Mitschrift, die zugleich die präziseste Wiedergabe der Hitler-Rede darstellt, keine zwei Wochen später in Moskau gelesen werden konnte. Tatsächlich hätte man hier studieren können, was Hitler, gestützt auf seine rassistisch-sozialdarwinistische Ideologie, plante: Binnen sechs bis acht Jahren wollte er den Marxismus "vollständig" vernichtet sehen. "Dann wird das Heer fähig sein eine aktive Aussenpolitik zu führen, und das Ziel der Ausweitung des Lebensraumes des deutschen Volkes wird auch mit bewaffneter Hand erreicht werden – Das Ziel würde wahrscheinlich der Osten sein. Doch eine Germanisierung der Bevölkerung des annektierten bezw. eroberten Landes ist nicht möglich. Man kann nur Boden germanisieren. Man muss [...] rücksichtslos einige Millionen Menschen ausweisen."

Die drei hier präsentierten Mitschriften stellen in mehrfacher Hinsicht Schlüsselquellen für die Geschichte des Nationalsozialismus dar: Sie zeugen von der Kontinuität in Hitlers Denken, insbesondere was sein Hochziel, den Krieg um Lebensraum, betrifft. Der konsistente Wille Hitlers, diesen Krieg zu seinen Lebzeiten zu führen, muss als ein wichtiges Element in der Deutung des NS-Regimes gelten. Gleichzeitig offenbaren die überlieferten Ereignisse aber auch, dass die hohen Militärs von Beginn an bereit waren, mit Hitler gemeinsame Sache zu machen und sich in den Dienst seiner verbrecherischen Gewaltziele zu stellen.

Andreas Wirsching