Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft [NÖSPL]. Beschluß des Präsidiums des Ministerrates der DDR, 11. Juli 1963

Einleitung

Nach dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 versiegte der Flüchtlingsstrom und mit ihm die Abwanderung von Zehntausenden von Fachkräften in die Bundesrepublik. Eine Mehrheit der SED-Führung hoffte deswegen zunächst, die DDR-Wirtschaft auf der Grundlage des traditionellen, von der Sowjetunion Anfang der 1950er Jahre übernommenen Planungsmodells konsolidieren zu können. Dessen Grundsätzen zufolge funktionierte eine Volkswirtschaft umso besser, je zentraler und umfassender sie im Plan erfasst wurde. Die Planziele zur Gestaltung der Wirtschaft waren vor allem aus politisch-ideologischen Forderungen des Parteiprogramms abgeleitet worden ("Primat der Politik").

Im Laufe der folgenden anderthalb Jahre stellte sich jedoch heraus, dass mit Hilfe des sowjetischen Modells die Talfahrt der Wirtschaft nicht mehr aufzuhalten war. Die Folgen des verschwenderischen Umgangs mit dem Arbeitskräftepotential, des übermäßigen Rohstoffeinsatzes und des zunehmenden Investitionsaufwands wurden ab 1962 in ihrer ganzen Tragweite sichtbar. Ein Teil der SED-Spitzenfunktionäre, darunter auch der Parteichef Walter Ulbricht, erkannten, dass das ressourcenaufwendige extensive Wirtschaften an seine Grenzen gelangt war und Neuordnungsversuche notwendig wurden. Dass es den "Reformer" damit ernst war, wurde deutlich, als Ulbricht im Dezember 1962 in einer viel beachteten Rede das Primat der Politik über die Wirtschaft in Frage stellte und den ökonomischen Aufgaben Vorrang einräumte. Im Januar 1964 verkündete Ulbricht auf dem VI. Parteitag der SED, dass "eine qualitative neue Stufe der Planung und Leitung der Volkswirtschaft erforderlich" sei. Ende April gingen Arbeitsgruppen von Wirtschaftsfunktionären, darunter auch Betriebs- und VVB-Leiter sowie Wirtschaftswissenschaftler, in Klausur und arbeiteten bis Ende Mai den Entwurf eines Reformprogramms aus, das den Namen "Neues ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (NÖSPL) erhielt. Nach Billigung durch die Partei- und Wirtschaftsführung der DDR wurde die Reformrichtlinie auf einer gemeinsam von der SED-Spitze und dem Ministerrat veranstalteten Wirtschaftskonferenz einem geladenen Publikum vorgelegt. Kommentare und Vorschläge aus den Reihen der versammelten Wirtschaftsfachleute waren durchaus erwünscht. Das zeigt sich allein daran, dass der nach Ulbricht einflussreichste Reformer in der SED-Hierarchie, der im Januar 1964 zum Chef der Staatlichen Plankommission ernannte Erich Apel, bereits Mitte Mai angewiesen hatte, "das Konferenzmaterial nicht im Direktivstil", sondern „in einer volkstümlichen massenverbundenen Sprache“ abzufassen. Die Konferenzteilnehmer blieben jedoch meist passiv. Erich Apel erklärte das mit Verständnisproblemen der Zuhörer, die in seinen Augen dem zukunftsweisenden Programm mental nicht gewachsen waren: "Während der Konferenz äußerten einige Genossen, dass sie im Referat des Genossen Ulbricht und in den vorgelegten Dokumenten viele neue Begriffe gefunden haben, aus denen sie wohl spüren, dass etwas Besonderes vor sich geht, mit denen sie aber im Kopf noch nicht viel anfangen können."

Nach der Konferenz wurden die Konferenzmaterialien als Broschüre veröffentlicht. Neben dem eigentlichen Reformpapier, der "Richtlinie", enthielt die Publikation eine "Kritische Einschätzung der bisherigen Praxis der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" sowie einen Zwischenbericht über die seit Januar 1964 in einigen VVB entsprechend den Vorgaben der Reformer durchgeführten "ökonomischen Experimente". Das Material war von den Funktionären im gesamten Partei-, Staats- und Wirtschaftsapparat auf Seminaren systematisch durchzuarbeiten. Die Wirtschaftsfunktionäre vor Ort sollten begreifen, dass durch die Reform – wie es Apel formulierte – das "gesamte System der Führung und Organisation […] auf eine höhere Stufe" gehoben werden müsse und dass das NÖSPL "nicht verglichen werden kann mit einzelnen praktisch-organisatorischen Maßnahmen, die man sozusagen zur laufenden Reparatur und Instandhaltung einer Wirtschaftsverwaltung braucht".

Das NÖSPL ließ viele Detailfragen offen. Seine schrittweise Einführung und generelle Unabgeschlossenheit erlaubten es, bei der Realisierung des Konzeptes sichtbar werdende Probleme und sich daraus ergebende neue Anforderungen bei der weiteren Ausgestaltung zu berücksichtigen.

Entsprechend der Forderung der "Richtlinie", die "Wirtschaft nicht (mehr) im Verwaltungsstil, sondern in ökonomischer Art und Weise zu führen", wurden den VVB bzw. den Betrieben nur noch wenige ökonomisch, politisch, sozial oder militärisch wichtige Produktionsaufgaben in Menge und Umfang vorgegeben. Alle anderen Aufgaben für die Produktionsentwicklung wurden nurmehr mit Hilfe finanzieller Kennziffern bestimmt, d. h. Bezug, Fertigung und Absatz oblagen von nun an den VVB. Das neue Wirtschaftskonzept führte so zum einen zu einer Dezentralisierung der Leitungskompetenz, die bisher nahezu ausschließlich an der Spitze des Wirtschaftsapparates und damit letztendlich in der Parteiführung konzentriert gewesen war. Zweitens sollten die verantwortlichen Wirtschaftsfunktionäre dazu angehalten werden, sich auf die Bedürfnisse ihrer Abnehmer einzustellen und möglichst kostengünstig zu produzieren. Das Produktionsziel war in der Kennziffer "Warenproduktion" vorgegeben. Als erfüllt galt es, wenn die Erzeugnisse verkauft worden waren. Je besser dies gelang, desto höher war der Gewinn. Von dessen Höhe hingen die vom Betrieb vergebenen Prämien für Arbeiter und die Boni für leitende Angestellte ab. Der Gewinn avancierte auf diese Weise zum wichtigsten "ökonomischen Hebel", der das "materielle Interesse" der Betriebsbelegschaften mit den durch die Zentrale festgesetzten volkswirtschaftlichen Zielen verbinden sollte. Damit erhielten die Marktgesetze zwar gewisse Entfaltungsmöglichkeiten. Im Wechselverhältnis von Plan und Markt blieb der Plan aber stets das entscheidende Moment "sozialistischer Wirtschaftsführung".

Die Einordnung des NÖSPL in die DDR-Wirtschaftsgeschichte und die Geschichte der Wirtschaftsreformen in den realsozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas hängt wesentlich davon ab, ob der Akzent auf die verfolgte Absicht oder das erreichte Resultat gesetzt wird. Als Konzept stellte das NÖSPL einen Bruch mit dem bisher in der DDR angewandten sowjetischen Planungsmodell dar. Die Forderung nach "ökonomischen Hebeln" und die damit verbundene Tatsache, dass materielles Interesses nun als Motivation für Leistung anerkannt wurde, stellte die bisher gültige Theorie, dass Höchstleistungen in der Wirtschaft allein dem "sozialistischen Bewusstsein" der Arbeiter zu verdanken seien, massiv in Frage. Damit der Gewinn seine neue Funktion als Effektivitätskriterium und Basis materieller Anreize erfüllen konnte, musste eine Preisreform in die Wege geleitet werden. Das geschah zwischen 1964 und 1967 mit einer stufenweise durchgeführten Industriepreisreform. Am Ende der Preisreform entsprachen die Preise den Kosten zwar noch keineswegs, doch waren sie mehr als vorher auf den tatsächlichen Aufwand bezogen. Eine halbwegs exakte Kalkulation wurde möglich. Nach Ansicht der SED-Führung durften allerdings die für das Gewerbe geltenden Preise nicht auf die Konsumgüter durchschlagen. Diese blieben deswegen im Prinzip auf dem Niveau des Jahres 1958.

Bei der Anpassung der Preise an die Markterfordernisse gingen die ungarischen Wirtschaftsreformer unter Janos Kadar nach 1968 erheblich weiter. Der Versuch, auch die Konsumgüterpreise den Kosten anzupassen, wurde in Polen unter Wladislaw Gomulka 1970 unternommen. Gomulkas Preispolitik rief Massenproteste hervor, die den polnischen Parteichef zum Rücktritt zwangen. Die Konsumgüterpreisreform wurde in der Folge zurückgenommen.

Das Preissystem der DDR steht für eine ganze Reihe von inneren Widersprüchen des NÖSPL, die seine Verwirklichung entsprechend der "Richtlinie" erschwerten und seine Wirksamkeit begrenzten. Die praktischen Realisierungsprobleme wurden von den Gegnern der Wirtschaftsreform in der Parteiführung zum Anlass genommen, zunächst die Reformfraktion in der SED-Führung zu bedrängen, dann Ulbricht, der am Reformprogramm festhielt, zu stürzen und schließlich 1971 das Ende der Wirtschaftsreform durchzusetzen. Das tatsächliche Motiv für den Reformabbruch ist aber nicht in den dem NÖSPL tatsächlich immanenten Inkonsequenzen und Unzulänglichkeiten zu suchen. Vielmehr wird hier die Angst der Parteispitze vor einer Erosion der politischen Macht greifbar. So fürchtete eine Riege Konservativer um den Nachfolger Ulbrichts im Amt des Ersten Sekretärs, Erich Honecker, die Zulassung wirtschaftlicher Entscheidungsfreiräume könne die Forderung nach politischen Freiräumen provozieren und neben dem wirtschaftlichen auch das politische Machtmonopol der Partei einschränken oder ganz außer Kraft setzen. Wie schnell zu weitgehende Reformforderungen die Stabilität des politischen Systems gefährden konnten, hatten nach Meinung der ostdeutschen Konterreformer die Ereignisse während des "Prager Frühlings" 1968 in der Tschechoslowakei nur zu deutlich demonstriert.

Das NÖSPL stabilisierte die DDR-Wirtschaft zwar ab 1964 bis Mitte der 1970er Jahre bei jährlichen Zuwachsraten um fünf Prozent. In der Richtlinie war aber darüber hinaus die Aufgabe festgeschrieben worden, mit Hilfe der Wirtschaftsreform "die Überlegenheit unserer sozialistischen Ordnung gegenüber dem kapitalistischen System in Westdeutschland auch auf ökonomischem Gebiet zu beweisen." Dieses Ziel wurde verfehlt. Auch Ulbrichts 1968 bis 1970 unternommener Versuch, nach dem Prinzip "überholen ohne einzuholen" eine "maximale Steigerung der Arbeitsproduktivität" zu erreichen, scheiterte. Dass die für den beabsichtigten Produktivitätssprung auswählten Großbetriebe de facto aus dem NÖSPL herausgenommen wurden und ohne Rücksicht auf ihre Gewinnlage in neue Technik investieren konnten, kam einem Eingeständnis des Scheiterns gleich. Jetzt musste man einsehen, dass das auf der Wirtschaftskonferenz 1963 gesetzte Fernziel mit dem laufenden Reformprogramm nicht zu erreichen war. Der Produktivitätsrückstand der DDR, der bei 55 bis 60 Prozent des westdeutschen Niveaus lag, blieb in der wirtschaftlichen Reformperiode der 1960er Jahre nicht nur gleich, sondern vergrößerte sich sogar noch einmal.

In der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit wurde das NÖSPL zunächst skeptisch aufgenommen. Schon bald aber betrachtete man es als Maßnahme zum tatsächlichen Abbau der Planwirtschaft. "Pankow entdeckt den Kapitalismus", "Ulbricht wird liberal – in Zukunft marktwirtschaftliche Methoden in der Zone" – so oder ähnlich lauteten die Schlagzeigen in der Presse, als nach der Wirtschaftskonferenz die ostdeutschen Reformvorstellungen öffentlich wurden. Die westdeutsche Fachwelt kam nach und nach zu der Überzeugung, dass mit dem NÖSPL eine ganze Reihe von aus der DDR-Planwirtschaft der 1950er Jahre stammende Elemente der "Zentralverwaltungswirtschaft" entfernt worden waren.

Wie Wirtschaftshistoriker das NÖSPL heute einschätzen, hängt wesentlich davon ab, ob sie Vertreter des Neoliberalismus sind oder dem Ansatz von Keynes folgen. Für Erstere kann wirtschaftliche Effizienz nur über Selbstregulation des Marktes erreicht werden. Letztere vertreten die Meinung, dass die Sicherung volkswirtschaftlicher Effizienz auf Dauer nicht ohne das regulierende Eingreifen des Staates in die Wirtschaft möglich ist. Die Vertreter des Neoliberalismus haben sich darauf versteift, dass sich der "DDR-Wirtschaftsmechanismus" in den 1960er Jahren kaum verändert habe und die Reformer damals lediglich versucht hätten, "marktwirtschaftliche Mechanismen" zu simulieren (Steiner). Die anderen sind der Überzeugung, dass sich während der Reformperiode ordnungspolitisch tatsächlich etwas getan habe. So sei "die wirtschaftliche Macht immer mehr von der politischen Zentrale auf dezentrale Superbetriebe" übergegangen. Damit habe auch die Führung der DDR "ein Stück Marktwirtschaft" angestrebt. Sie sei nicht bei "technokratischen Verbesserungen" stehen geblieben, sondern habe tatsächliche Reformen einzuleiten versucht (Abelshauser).

Jörg Roesler