Verordnung über das Schlichtungswesen [Schlichtungsverordnung], 30. Oktober 1923

Verordnung

über das Schlichtungswesen. Vom 30. Oktober 1923

Auf Grund des Ermächtigungsgesetzes vom 13. Oktober 1923 (Reichsgesetzbl. I S. 943) verordnet die Reichsregierung bis zur endgültigen gesetzlichen Regelung:

Artikel 1

Schlichtung

§ 1

An Stelle der bisherigen Schlichtungsausschüsse werden von der obersten Landesbehörde im Einvernehmen mit dem Reichsarbeitsminister neue Schlichtungsausschüsse errichtet. Sitz und Bezirk sind unter möglichster Beachtung der wirtschaftlichen Zusammenhänge zu bestimmen. Die Bildung gemeinsamer Schlichtungsausschüsse für mehrere Länder oder Teile mehrerer Länder ist zulässig.

Die Schlichtungsausschüsse bestehen aus einem oder mehreren unparteiischen Vorsitzenden und aus Beisitzern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in gleicher Zahl.

Die unparteiischen Vorsitzenden bestellt die oberste Landesbehörde nach Anhörung der wirtschaftlichen Vereinigungen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer des Bezirkes. Die Beisitzer beruft sie auf Vorschlag dieser Vereinigungen.

§ 2

Für größere Wirtschaftsbezirke bestellt der Reichsarbeitsminister nach Anhörung der beteiligten obersten Landesbehörden Schlichter. Er kann auch für den einzelnen Fall einen besonderen Schlichter bestellen.

Die Schlichter übernehmen die Schlichtung in Fällen, die für das Wirtschaftsleben von besonderer Wichtigkeit sind.

§ 3

Schlichtungsausschüsse und Schlichter haben zum Abschluß von Gesamtvereinbarungen (Tarifverträgen, Betriebsvereinbarungen) Hilfe zu leisten, soweit eine vereinbarte Schlichtungsstelle nicht besteht oder den Abschluß einer Gesamtvereinbarung nicht herbeiführt.

§ 4

Zuständig ist, falls die Parteien nichts anderes vereinbaren oder nicht ein Schlichter eingreift, der Schlichtungsausschuß, in dessen Bezirk die beteiligten Arbeitnehmer beschäftigt sind. Sind hiernach mehrere Schlichtungsausschüsse zuständig, so verbleibt die Streitigkeit bei dem Schlichtungsausschuß, der sich zuerst mit ihr befaßt hat.

§ 5

Schlichtungsausschüsse und Schlichter werden auf Anruf einer Partei oder von Amts wegen tätig.

Der unparteiische Vorsitzende des Schlichtungsausschusses oder der Schlichter hat zunächst zu versuchen, den Abschluß einer Gesamtvereinbarung herbeizuführen.

Gelingt ihm das nicht, ist die Sache vor einer Schlichtungskammer zu verhandeln. Diese bildet der unparteiische Vorsitzende des Schlichtungsausschusses mit je zwei Beisitzern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, der Schlichter mit Beisitzern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in gleicher Zahl, die er zu diesem Zwecke beruft.

Kommt vor der Schlichtungskammer keine Einigung zustande, so macht die Kammer den Parteien einen Vorschlag für den Abschluß einer Gesamtvereinbarung (Schiedsspruch). Wird er von beiden Parteien angenommen, so hat er die Wirkung einer schriftlichen Gesamtvereinbarung. Das gleiche gilt, wenn der Spruch auf Grund gesetzlicher Vorschrift oder einer Vereinbarung bindend ist.

§ 6

Wird der Schiedsspruch nicht von beiden Parteien angenommen, so kann er für verbindlich erklärt werden, wenn die in ihm getroffene Regelung bei gerechter Abwägung der Interessen beider Teile der Billigkeit entspricht und ihre Durchführung aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen erforderlich ist.

Für die Verbindlichkeitserklärung des Schiedsspruchs eines Schlichtungsausschusses ist der Schlichter zuständig, in dessen Bezirk der Geltungsbereich der vorgeschlagenen Gesamtvereinbarung liegt; dies gilt auch dann, wenn er sich nur unwesentlich über den Bezirk des Schlichters hinaus erstreckt. In den übrigen Fällen ist der Reichsarbeitsminister zuständig.

Die Verbindlichkeitserklärung ersetzt die Annahme des Schiedsspruchs.

Die Vorschriften der Absätze 1 bis 3 finden auf die Verbindlichkeitserklärung von Schiedssprüchen vereinbarter Schlichtungsstellen entsprechende Anwendung.

§ 7

Der Reichsarbeitsminister kann für die Tätigkeit der Schlichtungsausschüsse und der Schlichter allgemeine Richtlinien erlassen. In ihrer Entschließung im Einzelfall sind Schlichtungsausschüsse und Schlichter unanhängig und nicht an Weisungen gebunden.

§ 8

Der Reichsarbeitsminister kann mit Zustimmung der obersten Landesbehörde die Geschäftsführung der Schlichtungsausschüsse prüfen und die Vorlage von Akten verlangen. Er führt die Aufsicht über die Geschäftsführung der Schlichter.

Die Aufsicht über die Geschäftsführung der Schlichtungsausschüsse führt die oberste Landesbehörde.

Die Landesregierungen bestimmen, welche Behörde als oberste Landesbehörde im Sinne dieses Artikels gilt. Die oberste Landesbehörde kann die ihr zugewiesenen Aufgaben unterstellten Behörden übertragen.

§ 9

Das Reich trägt die Kosten der Schlichter und bis zur neuen Abgrenzung zwischen den Einnahmen des Reichs und der Länder auch die der Schlichtungsausschüsse.

Artikel II

Entlastung der Schlichtungsausschüsse

§ 1

In den Fällen

1. der §§ 82 bis 90 des Betriebsrätegesetzes,

2. der §§ 8, 18, 19 der Verordnung, betreffend eine Vorläufige Landarbeitsordnung, vom 24. Januar 1919 (Reichsgesetzbl. S. 111),

3. des § 99 des Reichsversorgungsgesetzes in der Fassung vom 30. Juni 1923 (Reichsgesetzbl. I S. 523),

4. des § 39 Abs. 2, der §§ 41, 44 Abs. 1, des § 56 Abs. 2 in Verbindung mit §§ 39, 41, des § 60 in Verbindung mit § 39 des Betriebsrätegesetzes,

5. des § 43 Abs. 2, § 44 Abs. 4 Satz 2, § 52 Abs. 1, 2, § 53 in Verbindung mit § 52, des § 56 Abs. 2 in Verbindung mit § 43, des § 60 in Verbindung mit § 43, des § 80 Abs. 2, der §§ 93, 97, 98 des Betriebsrätegesetzes

sind die Arbeitsgerichte ausschließlich zuständig.

§ 2

Als Arbeitsgerichte gelten bis zur Errichtung allgemeiner Arbeitsgerichte bei Streitfällen, in denen auf Arbeitnehmerseite nur Handlungsgehilfen und Handlungslehrlinge beteiligt sind, das Kaufmannsgericht, im übrigen das Gewerbegericht. Eine Berufung findet in diesen Fällen nicht statt.

In Bezirken, in denen kein Gewerbegericht oder Kaufmannsgericht besteht, gilt der Schlichtungsausschuß nach Artikel I dieser Verordnung als Arbeitsgericht. In diesen Fällen besteht die Kammer aus dem unparteiischen Vorsitzenden und je einem Beisitzer der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer.

Artikel III

Ausführungs- und Übergangsbestimmungen

§ 1

Der Reichsarbeitsminister erläßt die zur Durchführung dieser Verordnung erforderlichen Ausführungsbestimmungen.

§ 2

Die Verordnung tritt, soweit es sich um Maßnahmen zu ihrer Durchführung handelt, mit dem Tage ihrer Verkündung in Kraft. Im übrigen tritt sie, soweit der Reichsarbeitsminister nichts anderes bestimmt, mit dem 1. Januar 1924 in Kraft.

§ 3

Mit dem im § 2 Satz 2 bezeichneten Zeitpunkt treten folgende Bestimmungen außer Kraft:

1. der III. Abschnitt (§§ 15 bis 30) der Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten vom 23. Dezember 1918 (Reichsgesetzbl. S. 1456),

2. die Ziffer II des § 104 des Betriebsrätegesetzes und die auf Grund dieser Bestimmung erlassenen Ausführungsverordnungen,

3. die §§ 62 bis 74, § 82 Abs. 2 Nr. 6 des Gewerbegerichtsgesetzes vom 29. September 1901 und der § 17 des Gesetzes, betreffend Kaufmannsgerichte, vom 6. Juli 1904,

4. die §§ 22 bis 28 der Verordnung über die Einstellung und Entlassung von Arbeitern und Angestellten während der Zeit der wirtschaftlichen Demobilmachung vom 12. Februar 1920 (Reichsgesetzbl. S. 218).

Desgleichen werden mit dem im § 2 Satz 2 bezeichneten Zeitpunkt die auf Grund des § 31a Nr. 2 der Gewerbeordnung errichteten Einigungsämter von Innungen aufgehoben.

§ 4

Verfahren nach Artikel I dieser Verordnung, die an dem im § 2 Satz 2 bezeichneten Zeitpunkt anhängig sind, gehen in der Lage, in der sie sich befinden, von den bisher zuständigen auf die nach dem Inkrafttreten dieser Verordnung zuständigen Stellen über. Auf ihre Erledigung finden die Vorschriften dieser Verordnung Anwendung.

Verfahren nach Artikel II dieser Verordnung, die an dem im § 2 Satz 2 bezeichneten Zeitpunkt bei den bisher zuständigen Stellen nicht abgeschlossen sind, sind binnen einer Ausschlußfrist von zwei Wochen bei den nach dieser Verordnung zuständigen Stellen als neue Verfahren anhängig zu machen.

Berlin, den 30. Oktober 1923.

Der Reichskanzler

Dr. Stresemann

Der Reichsarbeitsminister

Dr. Brauns

Hier nach: Verordnung über das Schlichtungswesen, 30. Oktober 1923, Reichstag I. 1920/23 Drucks. Nr. 6302. Ausgegeben am 17. November 1923, S. 1-2, BArch R 3101/10342, Bl. 193.